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Das Verhältnis zu Russland

In der Debatte um die richtige Politik gegenüber Russland werden gern zwei Positionen als unvereinbar gegenübergestellt. Einerseits heißt es, wir bräuchten mehr Dialog, denn eine Sicherheit ohne oder gar gegen Russland könne es nicht geben und entsprechend müsse man auf Russland eingehen. Und die andere Position betont, dass Russland unsere Werte untergrabe. Folglich brauche es eine Politik der Stärke.

Keine der beiden ist falsch, aber keine dient allein als gutes Leitmotiv für eine realistische Außenpolitik. Nur einer von beiden Aussagen zu folgen zeigt eine gewisse Romantik entweder gegenüber Russland oder aber den eigenen Einflussmöglichkeiten. Realistischerweise müssen wir konstatieren, dass weder mehr Dialog noch mehr Sanktionen oder Stärke Russland kurzfristig dazu bringen werden, grundlegende Änderungen an seiner Außen- wie Innenpolitik vorzunehmen. Eine neue Ostpolitik muss da beginnen, wo auch die alte ihren Ausgang nahm, bei der Anerkennung der Realitäten.

Zu diesen gehört, dass sich die russische Elite ein Weltbild geschaffen hat, welches sich von unserem unterscheidet. In diesem hat die sogenannte liberale Weltordnung des politischen Westens seinen Rückzug begonnen und wird bald nicht mehr die dominierende ordnungspolitische Maxime sein. Stattdessen gilt eine multipolare Weltordnung mit einigen Großmächten, zu denen auch Russland gehört. Es ist eine Welt, in der internationale Mitsprache nicht gleichberechtigt verteilt ist, denn wirkliche Souveränität komme nur denjenigen zu, die sie gegebenenfalls auch mit Gewalt durchsetzen können. Angeblich dienen Werte dem »Westen« nur als Argumente, um seine Interessen durchzusetzen. Um Russland klein zu halten würden die westlichen Mächte danach streben, Russland zu destabilisieren, insbesondere, indem Proteste geschürt und Unzufriedenheiten ausgenutzt werden.

Natürlich lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob dieses Weltbild von allen Mitgliedern der Elite in allen Details geglaubt wird, aber man kann es als handlungsleitend betrachten. Russland hat damit seine Außenbeziehungen bereits »entromantisiert«. Die anfängliche Idee, zusammen mit dem politischen Westen eine neue europäische Ordnung zu schaffen, wurde bereits vor einiger Zeit aufgegeben. Weniger Bedeutung hat aber auch der »Minderwertigkeitskomplex« in der Folge des Zusammenbruchs der UdSSR. Die Schwächen der westlichen Demokratien und die taktischen Erfolge russischer Außenpolitik haben zu der Überzeugung geführt, nicht schlechter dazustehen, wenn nicht sogar besser. Russland scheint sich selbst genug zu sein und auch keine festen Bündnisse mehr anzustreben. Dem entsprechen eine Politik, die wirtschaftlich auf größtmögliche Unabhängigkeit von externen Schocks setzt und eine Innenpolitik, die keinen Raum für unkontrollierbare politische Entwicklungen lässt. Es lässt sich natürlich beklagen, wie viele verpasste Chancen vielleicht in dieser Entwicklung liegen und die Diskussion dieser Entwicklung wird hilfreich sein, um zukünftige Fehler auf unserer Seite nicht zu wiederholen. Aber für die konkrete Politikformulierung kann man diesen Zustand nur akzeptieren und die Politik daran ausrichten.

Dieses Weltbild wird sich kurzfristig weder durch mehr Dialog noch durch mehr Stärke verändern lassen. Dialogangebote an Russland gibt es wahrlich umfangreich und auf allen Ebenen. Nicht zuletzt der Umgang mit dem hohen Repräsentanten Josep Borrell hat aber gezeigt, dass Russland zum Gespräch nur bereit ist, wenn es um konkrete Interessen im bilateralen Verhältnis geht. Grundsätzlichere Fragen – auch zu Werten und Normen oder dem Austausch mit der EU – stehen für Russland nicht mehr auf der Agenda.

Wenn man akzeptiert, dass man die russische Elite derzeit nicht dazu bringen kann, sich oder ihre Politik grundsätzlich zu ändern, kann man realistischere Zielsetzungen für eine Russlandpolitik finden und die Wirkungen außenpolitischer Instrumente ebenfalls realistischer einschätzen. Dies heißt nicht, dass man gar keinen Einfluss ausüben kann, aber dieser wird sich auf konkretere Felder erstrecken müssen und teilweise längerfristig angelegt sein. Es heißt auch nicht, dass man sich nur auf Interessen zurückzieht und Werte außer Acht lässt, aber man wird auch bei Werten realistischer sein müssen.

Bei den Interessen gibt es weiterhin eine Vielzahl von Themen, die nur zusammen mit Russland gelöst werden können und wo sich auch geteilte Interessen finden lassen. Sowohl in der Sicherheitspolitik, in der wirtschaftlichen Kooperation, aber auch in der drängenden Frage des Kampfes gegen den Klimawandel gibt es weiterhin große Potenziale für Kooperationen, die aktiv gesucht und gestaltet werden müssen.

Daneben gibt es Interessenkonflikte, etwa im Umgang mit der gemeinsamen Nachbarschaft. Hier bewerten wir die Bedeutung der Souveränität der Staaten, ihrer territorialen Integrität und die Bedeutung des Völkerrechts anders. Diesen Konflikten werden wir uns weiter stellen müssen, auch wenn eine kurzfristige Lösung hier nicht in Sicht ist.

Um unsere Positionen gut zu vertreten, egal ob in Bereichen geteilter oder konfligierender Interessen, bedarf es, wie in allen Verhandlungen, einer gewissen Stärke. Diese speist sich in erster Linie aus dem wirtschaftlichen, politischen wie machtpolitischen Potenzial der EU, welches mehr ist als die Summe der Stärken seiner Mitgliedstaaten. Zum Tragen kommt dieses Potenzial nur in der Einigkeit. Für die weiteren Verhandlungen mit Russland ist daher eine gemeinsame Position der EU-Mitglieder von überragender Bedeutung. Deutschland kann dabei die Rolle des Mediators einnehmen, der zwischen den verschiedenen Positionen vermittelt und einen Kompromiss ermittelt. Dies fordert von Deutschland allerdings besonderes Feingefühl im Umgang mit den Interessen seiner östlichen Nachbarn und ein erkennbares Streben, sich auch bei bilateralen Projekten voll hinter die europäischen Ziele zu stellen. Wenn Deutschland Brücken zu Russland baut, wird dies wenig hilfreich sein, wenn es dann allein darüber laufen muss.

Und genügt es dann nicht, wenn wir unsere Interessen mit Russland aushandeln und so einen Modus Vivendi finden, mit dem beide Seiten leben können? Nur auf Interessen zu schauen ist keine Grundlage für eine Partnerschaft, diese braucht geteilte Normen und Werte. Interessen sind wie die Beziehungen volatil, Normen und Werte hingegen schaffen eine dauerhaftere Basis, die Vertrauen schafft. Wenn wir also langfristig zu einer wirklichen strategischen Partnerschaft kommen wollen, müssen wir uns auch immer wieder mit den Normen und Werten auseinandersetzen, die für diese gelten sollen. Dabei geht es nicht darum, unsere »westlichen oder gar liberalen Werte« Russland aufzuzwingen, sondern die Bedeutung universeller Grundrechte einzufordern, auf die wir uns bereits geeinigt haben. Russland ist Mitglied im Europarat und hat daher dessen Grundwerte akzeptiert. Russland ist ebenfalls Mitglied in der OSZE und hat die Pariser Charta unterschrieben. Wenn wir diese Institutionen noch für wichtig halten, müssen wir um die Einhaltung ihrer Verträge kämpfen. Bei Alexey Nawalny geht es entsprechend auch nicht so sehr darum, dass wir einen Oppositionspolitiker stützen wollen, sondern darum, dass dieser mit einem gemäß gemeinsamer Verträge verbotenen chemischen Kampfstoff vergiftet wurde und dann auf Grundlage eines Urteils ins Gefängnis muss, welches vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für unbegründet und willkürlich bewertet wurde. Das Ignorieren dieser gemeinsamen Organisationen und ihrer Beschlüsse entzieht einer zukünftigen Partnerschaft den Boden. Ihre Einhaltung einzufordern ist daher auch im Interesse einer zukünftigen intensiveren Kooperation von großer Bedeutung.

Es gibt aber noch einen zweiten Grund für das Eintreten für unsere Werte. Die außenpolitische Stärke der EU basiert nicht zuletzt darauf, dass wir das weiterhin attraktivere Modell haben. Auch russische Jugendliche bewerten Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Freiheit in der EU besser als im eigenen Land. Für diese Werte einzustehen wird uns eher geglaubt und stärkt jene Soft Power, die andere auch danach streben lässt. Dafür ist es allerdings notwendig, dass wir ehrlich sind und nach innen wie nach außen diese Werte konsequent vertreten. Auch hier lässt sich über Fehler in der Vergangenheit viel sagen. Es gilt, aus diesen zu lernen, und den Normen und Werten auch in den internationalen Beziehungen Vorrang einzuräumen, selbst dann, wenn Kritik auch mal auf die eigenen Partner fällt. Diese Ehrlichkeit ist eine nicht zu unterschätzende Stärke. Um für diese Werte einzustehen, werden auch Sanktionen weiterhin eine Rolle spielen. Wir sollten uns aber im Klaren darüber sein, was diese erreichen können und was nicht. Sanktionen helfen in den allermeisten Fällen und in jedem Fall gegenüber Russland nicht, um akute Probleme zu lösen. Es gibt keine Sanktionen, die etwa Nawalny wieder aus dem Gefängnis holen würden. Aber sie wirken auf zwei Ebenen, der symbolischen wie der realpolitischen. Realpolitisch erhöhen sie die Kosten für die kritisierten Handlungen, was bei weiteren Entscheidungen berücksichtigt wird. Symbolisch vermitteln sie nach außen wie nach innen, wo wir Grenzen ziehen und wofür wir stehen.

Wir müssen uns also damit arrangieren, dass die Politik Russland gegenüber nicht unserem Bedürfnis nach Klarheit entsprechen wird. Auf absehbare Zeit werden wir sowohl aktiv nach gemeinsamen Interessen und Kooperationen suchen, als auch immer wieder Konflikte eingehen müssen, wenn die grundlegenden und geteilten Werte ignoriert werden. Dies nicht zum Gegensatz hochzustilisieren, sondern als zwei Seiten einer realistischeren Außenpolitik zu betrachten und dies geeint in der EU zu tun, davon wird auch der Erfolg der Politik abhängen.

Bleibt also kein Platz für Romantik in den europäisch-russischen Beziehungen, keine Hoffnung auf eine baldige Annäherung und vielleicht auch wieder strategische Partnerschaft? Wenn man den Blick von der großen Politik abwendet hin zur Gesellschaft, ergibt sich ein hoffnungsvolleres Bild. Mit kaum einem anderen Land außerhalb der EU hat insbesondere Deutschland ein so dicht gewebtes Netz an zivilgesellschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen und auch wirtschaftlichen Verbindungen. Es sind diese vielen Initiativen, Partnerschaften und auch mittelständischen Unternehmer, die sich engagieren, vermitteln und investieren und dabei die Kontakte aufrechterhalten. Und sie treffen auf eine Gesellschaft, die, anders als die politische Elite, durchaus aufgeschlossen für intensivere Kontakte ist. Sie treffen auch auf eine junge Generation, die mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Mitbestimmung und mehr Freiheit von ihrem Staat einfordert. Es ist noch ein kleiner Teil der Gesellschaft, aber er nimmt mit jedem Jahr an Bedeutung zu. Es ist nicht ausgemacht, dass Russland uns automatisch ähnlicher, demokratischer wird, sobald diese Generation an die Macht kommt. Aber es gibt die Chance, dass es eine Generation wird, die den »Westen« nicht mehr automatisch als Feind betrachtet, und realistischer einschätzen kann, welche Vor- und Nachteile unsere Gesellschaften haben. Dieser Generation gilt es insbesondere ein Angebot zu machen unsere Länder und Gesellschaften kennenzulernen, sich ein eigenes Bild zu machen. Um diese Generation werben wir, wenn wir für Freiheit und Werte eintreten.

Die Politik gegenüber Russland muss also, um erfolgreich zu sein, kurz und mittelfristig mehr Realismus wagen und zugleich die Perspektive auf eine Wiederannäherung und strategische Partnerschaft behalten. Der Erfolg wäre dann gegeben, wenn die Beziehungen zu Russland stabil sind, wir fallweise zusammenarbeiten, die gemeinsame Nachbarschaft befriedet wurde und zugleich klar ist, was die EU für eine intensivere, vertrauensvollere und strategischere Partnerschaft voraussetzt. Und der Erfolg würde sich auch dann zeigen, wenn wir weiterhin die Kontakte auf allen Ebenen und allen Feldern pflegen, um diese Partnerschaft wieder zu etablieren. Diese Partnerschaft, die die Interessen aller Parteien wahrt und auf einem geteilten Fundament von Normen und Werten basiert, muss das Fernziel jeder Russlandpolitik bleiben.

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