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Das Virus und der Wettlauf der Systeme

Eigentlich schien die Sache längst entschieden. Als anno 1989 das Sowjetimperium zusammenbrach erinnerte sich Francis Fukuyama an die metaphysisch spekulative Geschichtsphilosophie Georg Friedrich Wilhelm Hegels und verkündete das »Ende der Geschichte«. Diese sei in der Idee der Vernunft zu sich selbst gekommen. Der Sieger hieß Liberalismus. In Ökonomie und Politik habe dieser als Ordnungsprinzip obsiegt. Er sei nun ohne Alternative (sic). Schon 15 Jahre später wurde die Spekulation durch die Weltenläufe selbst entzaubert. Zwar hatte sich der Kapitalismus global durchgesetzt, doch keineswegs in seiner liberalen Variante. Die Demokratien wurden zahlreicher, doch ihre liberal-rechtsstaatliche Variante hatte sich kaum ausgedehnt. Alte Diktaturen wie China stiegen zur Weltmacht auf. Russland und die Türkei wurden vollends Autokratien. In Südkorea und Taiwan etablierten sich neue Demokratien. Singapur konsolidierte sein effizientes semi-autoritäres Regime und Hongkong wurde in die Grauzone zwischen Autokratie und Demokratie verschoben. In Lateinamerika entstanden neue autoritäre Regime (Venezuela, Bolivien, Nicaragua) und der Virus von Korruption, schwacher Staatlichkeit und autoritärer Staatsführung infizierte die nun häufig defekten Demokratien in Mexiko, Brasilien und anderswo. Der Wettlauf der Systeme war wieder offen.

Das neue Coronavirus hat zum Jahreswechsel begonnen, die Welt zu infizieren. Nach der Spanischen Grippe in den Jahren 1918/19, die mehr als 20 Millionen Menschen das Leben gekostet und mit der sich vermutlich 500 Millionen infiziert hatten (ein Viertel der damaligen Weltbevölkerung), erleben wir gegenwärtig die erste wirklich globale Krise nach 1945. Ihren Ausgang nahm sie in China, wurde rasch auf ostasiatische Nachbarländer übertragen, kam gleichzeitig in Europa an, wanderte in die USA und auf den lateinamerikanischen Subkontinent. Aus Afrika, Süd- oder Zentralasien haben wir kaum Informationen. Nicht, dass die Pandemie dort nicht auch schon angekommen wäre. Vielmehr verhindert die schwache oder autokratische Staatlichkeit, dass getestet oder berichtet wird. Anfang April 2020 meldete die staatliche Weltgesundheitsorganisation (WHO) Infektionen in 190 (von 200) Staaten. Unter den »gesunden« Staaten fanden sich bezeichnenderweise totalitäre wie Nordkorea, Turkmenistan, Usbekistan oder die Mikrostaaten Ozeaniens. Erstere unterdrücken Informationen, testen kaum, erfinden Erfolgsmeldungen oder »verbieten« das Virus.

Auch den Zahlen, die aus der Volksrepublik China gemeldet werden, kann man nur bedingt Glauben schenken. Wir wissen dennoch, dass die Volksrepublik den Ausbruch der lokalen Epidemie verschwiegen und Gegenmaßnahmen verschleppt hat. Danach aber hat man mit rücksichtsloser autokratischer Effizienz die Elfmillionenstadt Wuhan abgeriegelt und 800 Millionen Menschen unter faktische Quarantäne gestellt. Gleichzeitig hat China in Rekordzeit Klinikkapazitäten ausgeweitet und die medizinische Versorgung massiv hochgefahren. Die dort eingesetzten Zwangsinstrumente stehen demokratischen Systemen – glücklicherweise – nicht zur Verfügung. Über die eigentlichen Infektionszahlen und Todesopfer wissen wir nur das, was das Regime preisgegeben hat. Dass dies der Wahrheit nahe kommt, darf niemand vermuten.

Allerdings sind auch die statistischen Daten der Demokratien nur bedingt valide und kaum vergleichbar. Zu unterschiedlich sind sampling, testing und reporting. Das gilt auch für die ubiquitär zitierten Statistiken der Johns Hopkins Universität. Die in den abendlichen Fernsehnachrichten verbreiteten Daten zu offiziell Infizierten und den Toten, die entweder durch oder mit dem Virus gestorben sind, entbehren ebenfalls der Validität. Insbesondere die Zahl der offiziell Infizierten sagt nichts über die Dunkelziffer und damit die Realität aus. Dennoch verfügen wir jenseits der problematischen Datenlage über Theorien, die uns über Variablen und Kriterien informieren, die relevant für die Beurteilung der Effizienz und Legitimität staatlichen Handelns sind. Solche Theorien kommen aus der Regime-, Transformations- und Staatsinterventionsforschung. Sie werden auch für die Analyse der politischen Folgen der Pandemiebekämpfung bedeutsam werden. An dieser Stelle will ich sechs Variablen nennen, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Sie sind den drei Teilsystemen, Staat, Gesellschaft und Gesundheitssystem zuzuordnen. Die »Staatsvariablen« sind: Regimecharakter (»Ist das politische Regime demokratisch oder autokratisch?«), Staatskapazität (»Sind die Handlungsressourcen und Handlungsroutinen des Staates etabliert oder kaum vorhanden?«), Staatsführung (»Ist die Staatsführung besonnen und am Allgemeinwohl orientiert?«) und Staatslernen (»Wurden Lehren aus vorherigen Epidemien [SARS-CoV: 2002-2004] gezogen?«). Die staatlichen »Variablen« sind wichtig, entscheiden aber keineswegs alleine. Denn Staatshandeln bedarf der Folgebereitschaft der Gesellschaft. Hier können wir grob zwischen individualistischen und kollektiven Gesellschaften unterscheiden. Das dritte Teilsystem, die Gesundheitsversorgung ist extrem wichtig für die Behandlung der Infizierten und letztlich auch die Todesopfer. Hier muss man zwischen gut finanzierten öffentlichen sowie unterfinanzierten und stark privatisierten Systemen unterscheiden.

Sozio-politische Konfigurationen von Gesellschaft und Staat

Politische Regime: Wie bei der Wirtschaftsentwicklung lassen sich bei der Pandemiebekämpfung keine systematischen Erfolgsunterschiede zwischen demokratischen und autokratischen Systemen erkennen. China (autokratisch) war nach einem verzögerten Handlungsbeginn, zurückzuführen auf eine Vertuschung lokaler Funktionäre, sehr rasch erfolgreich. Freiheitsrechte wurden zeitweise nicht nur eingeschränkt, sondern weitestgehend aufgehoben. Iran hat selbst nach den vermutlich stark geschönten Ziffern schon jetzt einen erkennbar hohen Todeszoll entrichten müssen. Die Pandemie-Politik der USA, mittlerweile ein defekt-demokratisches System, war bis weit in den April ein Desaster. Der frei gewählte Präsident spielte die Gefahr mit seinen Brüdern im Geiste, Jair Bolsonaro und Boris Johnson, herunter. Die Folge war ein rapides Emporschnellen der Todesraten.

In Europa wurden Italien, Spanien und Frankreich zeitweilig zu den Hotspots der Pandemie, obwohl sie nicht unter der populistischen Inkompetenz ihrer Staatsführung zu leiden hatten. Singapur (semi-autoritär) handelte hoch effizient, die demokratischen Regime Südkorea und Taiwan ebenfalls. Schweden, Dänemark und Deutschland haben die Krise bisher gut bewältigt. Alle fünf Länder sind gut funktionierende Demokratien. Deutschlands Strategie ist jenen Spaniens und Italiens übrigens verwandter als dem ebenfalls »erfolgreichen« Schweden. Ohne sich noch auf vergleichbare, valide Daten stützen zu können, wird bei diesem Flickenteppich deutlich, dass der politische Regimecharakter allein nichts über Erfolg und Misserfolg bei der Bewältigung dieser Krise aussagt.

Staatlichkeit: Wichtiger als der politische Regimecharakter ist der Grad der Staatlichkeit. Staatskapazität, Staatswille, Staatslernen und Staatshandeln sind entscheidend für den Erfolg. Staatskapazität meint einen Staat, der über eine rationale und leistungsfähige, möglichst wenig korrupte Bürokratie verfügt. Hoch entwickelte Demokratien verfügen über solche Administrationen; weniger entwickelte Demokratien von Indien bis zu den electoral democracies im subsaharischen Afrika oder in Lateinamerika eben nicht. Ein gemeinsamer Staatswille bedeutet ein demokratisch-pluralistisches System, das das Spiel von Regierung und Opposition nicht außer Kraft setzt, aber dennoch einen belastbaren Elitenkonsens über die verfassungsgemäße Machtverteilung besitzt. Das demokratische Gegenüber von Regierung und Opposition ist in vielen europäischen Demokratien in der COVID-19-Pandemie zu stark in den Hintergrund geraten. Man muss einen weitgehenden Selbstverzicht der Opposition konstatieren. Sie hat sich ihrer demokratischen Funktion entledigt, kritisierte kaum, kontrollierte unzureichend und brachte keine Alternativen in die Diskussion ein. In Deutschland genügte ein einfaches, im Schnelldurchgang erneuertes Infektionsschutzgesetz, um über eine längere Dauer fundamentale Grundrechte zu suspendieren. Zeitweise waren das Bundesverfassungsgericht und der Föderalismus wirksamere Hüter der Verfassung als die Opposition.

Normalerweise nehmen wir an, Demokratien seien lernfähiger als Autokratien. Der Feedback-Mechanismus freier Wahlen zwingt sie, bei Strafe von Wählerverlusten zu lernen. In Zeiten des Rechtspopulismus wird dieses demokratische »Gesetz« allerdings pervertiert, in denen das Staatslernen bisweilen auch in eine autoritäre Richtung geht. Etwa, wenn Donald Trump vor laufenden Kameras verkündet: »Wenn jemand Präsident der Vereinigten Staaten ist, dann ist die Autorität total und so muss es sein. (…) Sie ist total.« Während dies von der Opposition, den Gouverneuren und in der öffentlichen Debatte der USA zurückgewiesen wurde, akzeptierten mehr als zwei Drittel des ungarischen Parlaments die Selbstermächtigung Viktor Orbáns auf unbestimmte Zeit mittels Dekreten zu regieren. In der Krise wird deutlich, Lernen in Demokratien muss nicht unbedingt »demokratisches Lernen« sein.

Staatswille und Staatshandeln gehören zusammen. In Demokratien gibt es keinen einheitlichen Staatswillen. In föderalen Systemen schon gar nicht. Der Föderalismus kann sogar ein Vorteil sein, da auch voneinander abweichende Strategien regional angepasst werden und unterschiedliche Erfahrungen in den Lernprozess eingebracht werden können.

Gesellschaftsstruktur: Der Erfolg effizienten Staatshandelns ist in beachtlichem Maße abhängig von der Gesellschaft. Sie muss den staatlichen Entscheidungen folgen. Diese Folgebereitschaft lässt sich unterschiedlich herstellen. In Autokratien mit offener harter Repression gegenüber den Untertanen, in Demokratien mit guten Argumenten gegenüber den Bürgern. Aber auch in entwickelten Demokratien unterscheiden sich Gesellschaften grundsätzlich. Den individualisierten Gesellschaften des Westens stehen idealtypisch kollektiv orientierte konfuzianische Gesellschaften im Osten gegenüber. Letztere haben in Ostasien häufig eine hohe gesellschaftliche Kohäsion. Allgemein- und Familienwohl stehen über dem Individuum. Die Gesellschaften Singapurs und Hongkongs (semi-autoritär), Südkoreas und Taiwans (demokratisch) folgen diesem Muster. Der Westen ist heterogener. Die eher am Gemeinwohl orientierten skandinavischen Gesellschaften weisen eine höhere soziale Kohäsion auf als die hyperindividualisierte Gesellschaft der USA. Je höher die soziale Kohäsion, desto höher ist die vertrauensvolle Folgebereitschaft. Umso besser kommt ein Land durch die Krise – ceteris paribus.

Das Gesundheitssystem: Das dritte System, jenes der medizinischen Versorgung, tut ein Übriges. Ist es weitgehend öffentlich und gut finanziert wie in Skandinavien und Deutschland, sind die Behandlungskapazitäten umfangreicher und egalitär. Es sterben weniger infizierte Menschen und das Virus trägt keinen Klassencharakter. Ist die Gesundheitsversorgung stark privatisiert und der öffentliche Teil grotesk unterfinanziert, wie in den USA, sterben mehr Infizierte; zuerst die Armen, nicht selten Afroamerikaner. In Demokratien ist das Gesundheitssystem ein Gradmesser für die Menschlichkeit einer Gesellschaft. Die Krise offenbart dies. Die nicht zuletzt in der Finanz- und Eurokrise neoliberal heruntergesparten Gesundheitssysteme erwiesen sich in Italien und Spanien als unzureichend, die Erkrankten angemessen zu versorgen. Auch das mag man als Lehre aus der Krise ziehen.

In der Zusammenschau von Staat, Gesellschaft und Gesundheitssystem lassen sich idealtypisch sozio-politische Konfigurationen erkennen, wie gut oder schlecht Länder aus der Pandemie wieder heraus kommen. Geringe Staatlichkeit, ein fragmentiertes und polarisiertes politisches Entscheidungssystem, eine hyperindividualisierte Gesellschaft und ein unterfinanziertes öffentliches Gesundheitssystem formieren den Idealtyp des Misserfolgs. Dieser Struktur kommen die USA sehr nahe. Ein effizienter Staat, eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Staatshandelns, hinreichend soziale Kohäsion, ein verbreitetes Verständnis von Allgemeinwohl und ein öffentlich gut finanziertes Gesundheitssystem sind die Stellgrößen, die Länder gut aus der Krise herauskommen lassen. Dieser Konfiguration folgen so unterschiedliche Demokratien wie jene Südkoreas, Taiwans, Schwedens, Dänemarks, Österreichs und Deutschlands. Wie aber diese Länder die normativen und wirtschaftlichen Folgelasten von COVID-19 bewältigen werden, werden wir erst nach der akuten Krise sehen.

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