Menü

Migration – Antwort auf Paul Scheffer Das »Wir« ist noch stark

Es kommt vor, dass jemand viel Richtiges sagt – und dann doch in einem zentralen Punkt Ratschläge gibt, die in eine problematische Richtung weisen. Bei Paul Scheffer ist das so. In seinem Text »Migration und Integration – Wege zum ›neuen Wir‹« (NG|FH 12/2018) analysiert er trefflich so manchen links-grünen Selbstbetrug in der Integrationspolitik und arbeitet heraus, dass bei der Abwendung von den traditionellen liberalen Parteien, zu denen er auch die Sozialdemokratie zählt, das Gefühl des Kontrollverlustes eine zentrale Rolle spielt. Wohl wahr. Aber der erkennbare Kontrollmangel wird von einschlägiger Seite zu einem Gefühl des totalen Staatsversagens aufgeblasen, um die Identifikation mit der Demokratie zu schwächen. Insofern muss man immer fragen, ob die Anklage gegen einen Kontrollverlust so einfach übernommen werden darf. Denn das akzeptiert eine falsche Prämisse. Verlust bedeutet: Etwas ist komplett weg. Wenn es so wäre, hätten die Rechten recht.

Es gibt andere Scheffer-Thesen, die vielleicht strittig, aber für Deutschland richtig sind. Dass keine Rede davon sein kann, dass Flüchtlinge von ihren Qualifikationen her einfach den deutschen Arbeitsmarkt bereichern, sie sind zunächst zu einem großen Teil Billigarbeitskräfte. Dass der soziale Zusammenhalt in eher monoethnischen Wohnquartieren zumeist besser ist als dort, wo viele unterschiedliche Kulturen nebeneinander leben. Dass »Diversität« unter diesem Gesichtspunkt also nicht automatisch etwas Positives ist. Dass gemeinsame Staatsbürger eine gemeinsame Sprache sprechen sollten. All das sind Punkte, die klar ausgesprochen werden müssen. Klarer, als Viele es mitunter für korrekt halten. Mit Verdruckstheit ist bei diesen Punkten niemandem gedient.

Aber dann steht da doch ein Satz wie in Stein gemeißelt, hart und unverrückbar. »Eine Politik der offenen Grenzen«, schreibt Scheffer, »wird die gesellschaftliche Mitte, das soziale Zentrum in unseren Gesellschaften zerstören«. Dieser Satz lässt dann doch vermuten, dass ihm die ganze Richtung beim Thema Zuwanderung nicht passt. Denn so pauschal dahingeschrieben, macht er sich die falsche Angriffslinie zu eigen, die von jedem Detail wegführt: »Es leben zu viele ethnische Ausländer im Land.« Richtig ist: Es sind viele geworden, gemessen zumal an der monoethnischen Vergangenheit im Zentrum Europas. Aber ist nicht – wieder weg von jedem Detail – genau dies der Punkt, an dem alle Befürworter einer vernetzten, weltoffenen Gesellschaft in digitalen, globalisierten Zeiten die Kontroverse mit den neuen Rechten aufnehmen müssen statt sich zu ducken? Schwachpunkte, Fehler und Überforderungen gibt es, um das zu ändern braucht es Ehrlichkeit und Klarheit. Zu viele Neuankömmlinge waren es manchmal auch, gemessen am vorhandenen Maß an kultureller Offenheit. Aber eine neue nationale Regression darf es jetzt nicht geben, gerade im Interesse der Mitte der Gesellschaft nicht. Und es hilft alles nichts: Da muss auch Polarisierung sein gegenüber denen, die hetzen. Klare Haltung und ein »neues Wir« im Zentrum der Gesellschaft: Beides ist dringend erforderlich.

Was eine »Pflicht der offenen Grenzen« bedeutet

Man muss auch zurückfragen, was eigentlich mit der kritisierten Politik der offenen Grenzen gemeint ist. Eine Politik, die in alle Welt hinausposaunt, dass man nur kommen muss, um bleiben zu dürfen, wäre zu Recht zu kritisieren. Dieser Eindruck war 2015 in einigen Ländern sehr wohl entstanden und er war fatal. Die Gegenkommunikation kam viel zu spät, doch der Eindruck war so nie beabsichtigt und er entspricht nicht dem Selbstverständnis Europas. Politik der offenen Grenzen bedeutet, dass innerhalb des gemeinsamen europäischen Rechtsraumes keine Grenzkontrollen mehr stattfinden und Niederlassungsfreiheit gilt, ein riesiger Fortschritt für alle. Es stimmt: Das Land wird dadurch internationaler, wenn auch eher in den großen Städten mit vielen mobilen, eher ortsunabhängig lebenden Menschen als auf dem Land mit vielen Sesshafteren (was eine Hauptursache der neuen politischen Spaltung ist, wie Paul Scheffer richtig schreibt). Es kommen dauerhaft Menschen aus anderen EU-Staaten. Wer diese Entwicklung zurückdrängen will, beendet die Idee Europa. Aber Europas Politik der offenen Grenzen bedeutet ausdrücklich nicht, dass alle, die von außen in diesen Rechtsraum kommen, bleiben dürfen. Sondern dass – entsprechend aller internationalen Verpflichtungen – diejenigen ein vorübergehendes Schutzrecht haben, die wirklich Schutz vor Krieg und Verfolgung brauchen. Das ist erneut ein Punkt, an dem man einwenden muss: Vorsicht vor der Übernahme falscher Angriffslinien. Europa hat sich auf den Weg der internen Freizügigkeit gemacht. Nationalisten aller Länder halten diesen Weg für problematisch bis falsch – und sie sind es, die mit dem Argument des Kontrollverlustes Stimmung machen. Die sozialdemokratische Antwort kann nur sein, für Kontrolle zu sorgen und zugleich – bei klaren Normen und Werten – für die Vorteile eines weltoffenen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen einzustehen. Letzteres kann noch klarer werden, bei ersterem müssen alle besser werden. Sonst wird das »Wir« weiter leiden, in der Tat.

Freizügigkeit ist ein zivilisatorischer Fortschritt, der sich auch nicht reduzieren lässt auf Profitinteressen einer kurzsichtigen Wirtschaft, die gerne billige Hire-and-fire-Arbeitskräfte ausbeutet. Selbst wenn darin sehr wohl eine Begründung dafür zu finden ist, dass Deutschlands Wirtschaftsverbände in der Flüchtlingspolitik wahrlich nicht zu den Scharfmachern zählten. Und das späte Zustandekommen eines Einwanderungsgesetzes (»Fachkräftezuwanderung«) wäre ohne den Erwartungsdruck aus der Wirtschaft wegen des neuen Fachkräftemangels auch kaum denkbar gewesen. Da bedarf es gewiss des kritischen Blicks: Was ist echter Bedarf und wo fehlt nur das Engagement für Menschen, die schon im Land leben? Gleichwohl: Die demografischen Daten sind eindeutig. Die künftige Sicherung des Wohlstands und des Sozialstaats brauchen zusätzliche Menschen von außen.

Kontrolle verbessern – dies bleibt der wichtigste Punkt, an dem Scheffer goldrichtig liegt, wenn er nach Ursachen für den Abstieg der alten staatstragenden Parteien sucht. Dieser liegt, wie in vielen anderen Politikfeldern aber nicht nur in einem Thema wie Migration und Flucht begründet, sondern beginnt beim fatalen Hang einer verrechtlichten Politik, im Namen juristischer Gerechtigkeit komplexe Detailregeln aufzustellen, die dann in der Praxis zu unübersichtlichen, ellenlangen und rechtsfehleranfälligen Verfahren führen. Typisch deutsch, zuweilen. Inklusive des Kleinkriegs um die Details in jedem Einzelfall.

Ganz generell ist es das Einfallstor für die Populisten, wenn offenkundig wird, wie wenig der Staat im Griff hat. Ob nun beim Aufregerthema Diesel, bei der Kriminalitätsbekämpfung, bei großen Bauprojekten oder dem jahrzehntelangen Versuch, das Bildungssystem effektiver zu gestalten. Und auch bei Migration und Flucht. Es ist schier unfassbar, dass die Prüfverfahren immer noch nicht massiv beschleunigt sind und sich die Impulse in Richtung einheitlicher europäischer Regelungen stark in Grenzen halten. Insbesondere bei der Arbeitsmigration liegen die Versäumnisse hinsichtlich klarer Regelungen (Stichwort Einwanderungsgesetz) zudem auf der Hand.

Aber mal ehrlich: Hätte eine Einwanderungsregelung für Arbeitsmigranten, die von außerhalb der EU kommen, irgendetwas geändert an der realen Überforderung, die daher kam, dass die Gesellschaft plötzlich viele Hunderttausende aus sehr entfernten Ländern integrieren sollte? Dass es in der Summe 2015/16 für einen gut funktionierenden Prozess einfach zu viele waren und dass dies noch lange problematisch nachwirken wird? Aber es musste sein, weil die Menschen nun einmal da waren. Und in diesem Punkt treten Befürworter des Einwanderungsgesetzes durchsichtig naiv auf. In weiten Bereichen hätte jede gesetzliche Einwanderungsquote angesichts der Flüchtlingszuwanderung sofort auf Null gesetzt werden müssen. Hochqualifizierte Spezialisten einmal ausgenommen, die aber sowieso lieber in englischsprachige Weltgegenden gehen.

In Kanada ist das Gras auch nicht grüner

Paul Scheffer rettet sich da – und das ist neben seiner Abgrenzung vom Begriff »offene Grenzen« der kritikwürdigste Punkt – hin zu einem allzu einfachen Vorschlag. Er empfiehlt Kanada als Vorbild. 300.000 Einwanderer jährlich, darunter maximal 14 % Flüchtlinge, also 42.000 pro Jahr. So werde Vorhersehbarkeit, Transparenz und demokratische Handlungsfähigkeit wiederhergestellt. Wenn es denn so einfach wäre, im Zentrum Europas. Und wenn es denn humanitär wäre. Kanada hat nur einen Nachbarn, die USA. Die Fluchtbewegungen von dort halten sich sehr in Grenzen, die Arbeitsmigration auch. Kanada hatte 2017 nur 50.000 neue Asylanträge. Kanada hat kein Problem mit Grenzübertritten. Es sei denn, Donald Trump würde die Mittelamerikaner, die sich zu Fuß nach Norden aufmachten, bald ähnlich durchwinken wie zuvor Mexiko, was auszuschließen ist. Kanada kann es sich erlauben, beim Thema Flucht ab und zu ein Kontingent bei den Vereinten Nationen anzubieten, es kommt ja sonst kaum jemand. Das Beispiel Kanada taugt also nicht, Europa muss seinen eigenen Weg finden. Deshalb läuft der Kanada-Vergleich auf nichts anderes hinaus als auf CSU-Politik, nämlich die Definition einer Obergrenze. Die Debatte dazu ist geführt, die Obergrenze ist in Mitteleuropa weder polizeipraktisch durchhaltbar noch vereinbar mit dem Grundgesetz. Das kann man feststellen und trotzdem der Ansicht sein, dass es das Ziel kluger Politik sein muss, die Zahl an Geflüchteten möglichst zu reduzieren, weil auch die offenen Gesellschaften zuletzt einem demokratischen Stresstest ausgesetzt waren – und ein Großteil der Neuangekommenen weder ein dauerhaftes Bleiberecht bekommt noch jemals in dieser fremden bis teils feindseligen Umgebung glücklich sein wird.

Ehrlich die Probleme benennen ohne die eigenen Werte aufzugeben: Darum muss es gehen, wenn die gesellschaftliche Mitte nicht weiter irritiert und geschwächt werden soll. Die Debatte um den UN-Migrationspakt hat noch einmal gezeigt, wie fahrlässig es ist, nur hehre Ziele zusammenzustellen und bei ängstlichen Einwänden mit dem Argument zu kommen, das Unterschriebene sei rechtlich ja nicht verbindlich. Seit Jahrzehnten ist es eingeübte Praxis von wohlmeinenden Lobbygruppen aller Art, von der Entwicklungspolitik über die Integration von Menschen mit Behinderung bis zum Klimaschutz, international verabredete schöne Ziele innenpolitisch als Druckmittel zu benutzen. Der Vorwurf »Deutschland verstößt gegen UN-Vereinbarungen« macht sich immer gut. Aber er ist oft unlauter, weil nicht mehr zwischen vagen Zielen und echten Pflichten unterschieden wird. Den rechten Populisten klar entgegentreten – und endlich zu einer gemeinsamen Migrationspolitik in Europa kommen: Das wird nicht ohne strikte Kontrollen der EU-Außengrenzen gehen, die immer schnell als Abschottung diffamiert wird. Nicht ohne mehr Souveränitätsverzicht der Staaten, die Außengrenzen haben – zugunsten eines EU-Grenzschutzes. Nicht ohne die Bereitschaft, eine unterschiedliche Lastenverteilung dauerhaft zu akzeptieren, weil sonst die europäische Einigung unerreichbar bleibt. Nicht ohne internationale Rechtsanpassung, beim Asylrecht ist auch Deutschland längst auf diesem Weg. Nicht ohne mehr Abschiebungen, aber auch nicht ohne den offenen Umgang damit, dass Asylrecht und Bleiberecht zweierlei sind. Dass Humanität und internationales Recht bei vielen abgelehnten Asylbewerbern letztlich zum Bleiberecht zwingt. Wahrlich nicht alles davon ist populär. Aber wenn man weiß, dass Notwendiges nie von allen akzeptiert wird, hilft es wenig, selbst dazu beizutragen, dass genau diese Kontroversen für schicksalsentscheidend erklärt werden. Das sind sie nicht.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben