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Tschechien ist Gastland der Leipziger Buchmesse 2019 Das Wirtshaus der Poesie

Zu den bekannten tschechischen Autoren, die es in die deutschsprachigen Kulturkreise geschafft haben, gehören gewiss Jaroslav Hašek, Karel Čapek, Václav Havel, Bohumil Hrabal, Pavel Kohout – und natürlich ein gewisser Milan Kundera, der mit seinem Heimatland längst nichts mehr zu tun haben will. Über all diese wurde im deutschsprachigen Raum reichlich reflektiert, man dürfte sogar behaupten, die tschechische Literatur hätte im 20. Jahrhundert wahrlich ihre Sternstunden erlebt, die vormaligen politischen Konstellationen in Europa trugen ihren Teil dazu bei. Im 21. Jahrhundert ist es aber auch an der Zeit, neue Namen ins Spiel zu bringen, deren Werke die heutigen Realitäten einfangen und widerspiegeln. Mit diesem Beitrag will ich versuchen, einen ersten Überblick zu geben, der allerdings nur einen Bruchteil der gesamten Produktion abbilden kann.

Es gibt tatsächlich auch in der nächsten und übernächsten Generation einige Autoren tschechischer Herkunft, die im literarischen Betrieb des deutschsprachigen Raums wohlbekannt sind und ihre Werke längst auf Deutsch verfassen. Hierzu zählen etwa Michael Stavarič, Jaromír Konečný, Jan Faktor und Jaroslav Rudiš. Der aus Brünn stammende Wiener Michael Stavarič schreibt Romane, bei denen man darüber streiten kann, inwiefern seine Erzählweise und Sprache von seinen tschechischen oder kroatischen Wurzeln beeinflusst sind; allemal bilden dystopische Szenerien und eine entwurzelte Kindheit die Rahmenbedingungen seiner mit Feingefühl erzählten Werke, wie etwa in seinem bei Luchterhand erschienenen Roman Gotland. Jaromír Konečný ist ein geborener Performer, sein Element ist die Bühne, ob nun bei einem klassischen Poetry-Slam oder bei anderen Leseformaten, er schreibt allerdings auch Jugendromane. Ein anderer »Migrant«, Jan Faktor, feierte vor allem mit seinem pittoresken Roman Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag (Kiepenheuer & Witsch) Erfolge, nicht zuletzt war dieses Buch für den Deutschen Buchpreis 2010 nominiert. Darin wird eine Kindheit und Jugend im sozialistischen Prag beschrieben, mit nahezu unzähligen seltsamen Verwandten, die ein Konzentrationslager überlebten und nunmehr nach Halt suchen. All das garniert mit einer Menge vulgärer Geschichten.

Jaroslav Rudiš schrieb bislang zwar auf Tschechisch, seinen neuesten bei Luchterhand erschienenen Roman Winterbergs letzte Reise hat er allerdings auf Deutsch verfasst. Rudiš ist nicht nur ein geschickter Erzähler, sondern vielmehr auch eine wichtige kulturelle Vermittlungsperson – es gelang ihm, das stereotype Bild von Deutschland in Tschechien nachhaltig zu verändern. Sein »Reisebegleiter« Der Himmel unter Berlin war ein echter Eisbrecher, der es schaffte, dass schon vor mehr als einer Dekade ein Wochenende in Berlin bei den jungen Tschechen als etwas Cooles angesehen wurde. Und es gab natürlich auch noch eine andere Wirkung: Rudiš zeigte den Deutschen eine Seite der Tschechen, die erstere zu schätzen wissen: das Bier und die humorvolle Redseligkeit. Er ist wohl der derzeit wichtigste Autor, dem es gelingt, zentrale deutsch-tschechische Themen verständlich zu machen.

Körperlichkeit und Gewalt

Eine Autorin, die zu den stärksten literarischen Stimmen Tschechiens gehört, ist zweifelsohne Radka Denemarková. Ihre Werke wurden inzwischen in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Ihr vorletzter Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude (Hoffmann und Campe) behandelt Denemarkovás Hauptthemen: Körperlichkeit und Gewalt in all ihren Formen. Ihr aktuellster, bisher nur auf Tschechisch erhältlicher, Roman Stunden aus Blei erzählt die Schicksale mehrerer Europäer, die in China leben, indem das äußerliche Weltgeschehen mit dem Innenleben, sprich Gefühlschaos, unmittelbar verknüpft wird. In ihrem etwas älteren, bei DVA erschienenen Werk Ein herrlicher Flecken Erde wiederum beschäftigte sich die Autorin mit den dunkelsten Themen der tschechisch-deutschen Beziehungen. Das Buch handelt von der Geschichte einer jungen deutsch-jüdischen Frau aus dem Sudetenland, die dem KZ entkam. Doch was erwartet sie nach dem Krieg? Nur Spott und Pech! Diese deutsch-tschechischen Problematiken, besonders die Vertreibung der Deutschen aus Brünn, behandelt auch eine andere Autorin, Kateřina Tučková, vor allem mit ihrem Buch Gerta. Das deutsche Mädchen (KLAK). Zu diesem Thema werden bestimmt noch einige Bücher erscheinen, denn dieser Teil der Geschichte in Tschechien wurde längst noch nicht aufgearbeitet.

Jiří Kratochvil ist im Vergleich dazu beinahe schon ein Klassiker: Er hat bis heute rund 25 Prosaarbeiten veröffentlicht und gilt als geschickter Romancier und Stilist, dessen Werke wahre Füllhörner der Postmoderne darstellen. Die niederträchtige Boshaftigkeit des Seins (braumüller) heißt sein soeben erschienener Titel. Kratochvil geht es dabei allerdings nicht nur darum, einen surrealen Geschichtenknäuel vorzulegen, er ist dafür bekannt, seine Leserschaft nur allzu gerne auf falsche Fährten zu führen. So untersuchen wir etwa mit seinem Detektiv Adam den Mord an einer Frau, zu dem es keinerlei Motiv oder Anlass gibt; oder wir folgen einem sehr klugen Kaninchen in verschiedene Brünner Haushalte und führen beiläufig Gespräche über gefährliche und gefährlichste Zeiten. Wahrlich eine kluge und zugleich vergnügliche Lektüre!

Der Journalist und Prosaiker Jáchym Topol gehört seit Längerem zu den bedeutendsten literarischen Stimmen der zeitgenössischen tschechischen Literatur. Seine Werke Die Schwester oder Engel Exit stellen nach wie vor Kultbücher für seine Generation dar. Acht Jahre lang wartete man auf sein neuestes Werk Der empfindsame Mensch, das soeben bei Suhrkamp erschienen ist und das in einer überaus poetischen, jedoch zugleich rauen, nahezu vulgären Sprache verfasst wurde, welche selbst die beste Übersetzung nicht adäquat vermitteln kann. Der empfindsame Mensch ist im Detail eine beunruhigende Groteske über einen Mann, der mit seinen Kindern als Nomade im Auto lebt und umherzieht, wobei die Handlung absolut nebensächlich ist. Das Besondere an diesem Werk ist, dass es Topol überhaupt wagte, die aktuellsten Themen wie Aufnahme von Flüchtlingen, Vertreibung der Deutschen, Angst vor dem Fremden, Tod, das Siechtum im Alter und die damit verbundene Pflegschaft literarisch zu behandeln. Er bleibt allerdings auch nach wie vor derjenige, der nicht von den Themen seiner Generation lassen kann, die immer noch ein Trauma darstellen: Was ist etwa aus den ehemaligen Underground-Idealen geworden und wie soll man ihnen in Anbetracht der aktuellen politischen Situation in Tschechien je gerecht werden? Topol ist einer der Autoren, dem es gelingt, für sich selbst und die Welt schonungslos Bilanz zu ziehen, wobei seine Sprache das eigentlich intensive Erlebnis bei dieser Lektüre ausmacht.

Die tschechische Literatur wird weiblicher

Der unter dem Pseudonym Emil Hakl schreibende Jan Beneš ist gewiss auch ein empfindsamer, empathischer und kritischer Mensch; der Held seiner Romane ist zumeist ein Mann in den besten Jahren, der ein verlorener und vorwiegend resignierter Außenseiter zu sein scheint, viel spazieren geht, noch mehr trinkt und es mit Frauen nicht einfach hat. Hakls Figuren sind dabei stets plastisch beschrieben, seine Dialoge wirken authentisch, man könnte dies allemal in einer beliebigen Straßenbahn nachprüfen. In seinem letzten Buch verliebt sich sein Held in einen weiblichen Roboter (wie passend, wenn man bedenkt, dass das Wort »robot« ursprünglich aus dem Theaterstück des tschechischen Dramatiker Karel Čapek stammt – und einst einen Neologismus darstellte). Sein ganz neuer Roman heißt übrigens Kiras Version (braumüller): Ein Humanoid namens Kira und der passionierte Einzelgänger Eff verlieben sich. Wie jedoch liebt eine Roboterin? Und kann sie nur das, was man ihr einprogrammiert hat oder auch noch andere Sachen? Es ist ein Buch über die Liebe in unseren hochtechnisierten Zeiten, gewiss ein überaus aktuelles Thema.

Eine bemerkenswerte Prosaautorin ist Magdaléna Platzová – ihre Werke beinhalten und behandeln gerne eine introspektive Ebene, die mit einer äußeren Perspektive der heutigen Zeit in einem globalen Maßstab kombiniert wird. In ihrem neuesten Werk, das noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, Druhá strana ticha erzählt sie über Menschen, die nicht in ihrem Heimatland leben; ihr Protagonist ist ein Journalist, der sich in Anbetracht einer berufstätigen, erfolgreichen Frau um die Kinder kümmert. Er will einen Roman verfassen, der zugleich auch ein wichtiger Bestandteil des Buches ist. Der Autor, sowie auch die weibliche Heldin, sind materiell abgesicherte, allerdings überaus unglückliche Wesen. Sie leiden daran, wie sie ihre Welt den eigenen Kindern erklären und begreiflich machen sollen. Die Heldin des Romans im Roman wiederum, Irena, ist nicht damit einverstanden, für welche Firma ihr Ehemann arbeitet. Den absoluten Gegenpol dazu bildet schließlich die Obdachlose Anděla mit ihrer ganz eigenen Lebensgeschichte. Platzová schafft es allemal, aktuelle globale Probleme und Herausforderungen zu erörtern: Wie kann man interkulturelle Zwistigkeiten lösen? Wie lebt man in der heutigen Welt ohne einen Gott?

Allgemein lässt sich sagen, dass sich in der letzten Dekade eine ganze Reihe Prosaautorinnen in der literarischen Szene behaupten konnten: Bianca Bellová, Anna Bolavá, Markéta Pilátová (alle drei Gewinnerinnen des tschechischen Literaturpreises Magnesia Litera), Petra Soukupová u. v. a. Allerdings wird dieser Trend zu einer immer weiblicher werdenden nationalen tschechischen Literatur nicht ausschließlich positiv bewertet. So kommentierte etwa die Schriftstellerin Petra Hůlová die letzten Nominierungen für den Magnesia Litera für Prosawerke wie folgt: »Die massive Feminisierung einer jeglichen Branche ist zwar nicht immer, allerdings sehr oft ein Zeichen dafür, dass man dort kein Geld verdienen kann.« Hůlová gehört außerdem zu den wichtigsten kritischen Stimmen des Literaturbetriebs. Ihre dystopische Novelle Eine kurze Geschichte der Bewegung ist eine scharfe Reaktion auf die Instrumentalisierung des Körpers und feministische Diskurse und Kampagnen der letzten Jahre.

Gute Zeiten für Comics

Petr Sís, der nicht unerwähnt bleiben darf, ist ein weltweit bekannter Kinderbuchautor, Maler und Illustrator, der in New York lebt. Laut eigener Behauptung seien einige seiner Werke auch für Erwachsene bestimmt – so etwa Die Konferenz der Vögel (Hanser). Man kann darüber streiten, ob seine Bücher nun Comics, Graphic Novels, »Fotoalben« oder Bilderbücher sind. In seinem autobiografischen Buch Die Mauer: Wie es war, hinter dem Eisernen Vorhang aufzuwachsen (Hanser) beschreibt Sís jedenfalls seinen Kindern, woher er kommt und warum er flüchtete. Das Buch wurde im Ausland sowie in Sís’ Heimatland hochgefeiert – man sollte es gelesen haben!

Comicbücher erleben in letzter Zeit generell in Tschechien einen großen Aufschwung. Anstatt in Zeitungen und Zeitschriften zu einem Unterpunkt degradiert, werden sie heutzutage als großzügig gestaltete Bücher wahrgenommen und anerkannt – es gibt eine große und immer weiter wachsende Leserschaft, mit einer theoretischen Reflexion und Verankerung im universitären Bereich. So wurde 2013 etwa an der Palacký-Universität in Olmütz das Zentrum für Comic-Studien gegründet. Zu den herausragendsten Persönlichkeiten gehört Vojtěch Mašek, der sowohl zeichnerisch als auch literarisch ungemein begabt und produktiv ist; dies beweist ausdrücklich sein Comicbuch Sestry Dietlovy, das man vor Spannung kaum aus der Hand legen kann. Mašek scheut sich nicht, aktuelle gesellschaftliche Themen aufzugreifen – so schuf er mit dem bedeutendem Prosaiker und Drehbuchautor Marek Šindelka den Comic Svatá Barbora, der einen realen Kriminalfall auslotet – und sich mit Kindesmissbrauch auseinandersetzt.

Alois Nebel, das Werk von Jaroslav Rudiš und Jaromír 99, ist wiederum ein Comic, der in Deutschland und Polen sehr populär wurde. Jaromír 99 ist auch der Autor einer aktuellen comichaften Adaption des Romans Tschechenkrieg (Voland & Quist) von Jan Novák. Laut Jaromír 99 handelt es sich hierbei um einen »mitteleuropäischen Western«, der ein kontroverses Thema anspricht: Waren die allseits bekannten Mašín-Brüder nun Widerstandskämpfer oder einfach nur gewalttätige Verbrecher? Die Antwort muss jeder für sich selbst finden; das Buch versucht, »die größte Geschichte des Kalten Krieges« zu erzählen, ohne ein moralisches Resümee zu ziehen. Ein historisches Phänomen erfasst auch Petr Stančíks PérákDer Superheld aus Prag, eine soeben (bei edition clandestin) erschienene Graphic Novel über einen fiktiven Widerstandskämpfer, sozusagen der Superman der Okkupation.

Auch die Lyrik, der Poetry-Slam und andere verwandte Kunstformen sind in den letzten Jahren in Tschechien wieder auf dem Vormarsch – einer der bedeutendsten Lyriker, Petr Hruška, wird sich dem deutschsprachigen Leser schon bald in einer Best-of-Sammlung Irgendwohin nach Haus (edition azur) präsentieren. Seine Gedichte greifen hierbei exakte, lebendige und oft schmerzliche Bilder auf, in denen die Kommunikation zwischen Menschen zwar nicht mehr intakt ist, doch sie kann die gemeinsame Teilnahme an diesem seltsamen Dasein doch noch irgendwie retten. Charakteristisch für ihn ist die Auseinandersetzung mit Wahrheiten und Lebenskrisen, die man akzeptieren muss. Eine repräsentative Auswahl der gegenwärtigen Lyrik bildet die edition OstroVers (hochroth) ab, in der jüngere Autoren (Marie Šťastná, Jan Těsnohlídek, Natálie Paterová usw.) neben schon etablierten Dichtern (Milan Děžinský, Jaromír Typlt, Olga Stehlíková usw.) stehen.

Tschechische Klassiker vermittelt nach wie vor Ondřej Cikán, ein bemerkenswerter österreichisch-tschechischer Dichter und Filmemacher, der in seinem neugegründeten Verlag Kētos einen eigenen Weg geht: Dort erscheinen poetische Texte des Romantik-Dichters Karel Hynek Mácha, des Surrealisten Vítězslav Nezval oder des Expressionisten Josef Váchal. Und natürlich auch Werke einer wahren, lebenden Legende, Jiří H. Krchovský (Mumie auf Reisen: Ein Epos und weitere Gedichte), der zu den populärsten und meist verkauften tschechischen Lyrikern seiner Zeit gehört. Dessen Poesie zeichnet sich durch eine Kombination von konservativen Rhythmen und moderner Dreistigkeit aus, Nihilismus trifft pointiert auf Dekadenz, garniert mit reichlich Selbstironie.

Eine repräsentative Auswahl der zeitgenössischen Dramatik bietet die Anthologie Von Masochisten und Mamma-Guerillas: Neue tschechische Dramatik der Herausgeberin und zugleich Übersetzerin Barbora Schnelle (Neofelis). Bemerkenswert sind vor allem die Stücke von David Drábek (über einen sozialistischen Doping-Skandal), Tomáš Vůjtek (über den Aufstieg und Fall des Nationalsozialisten Adolf Eichmann) oder Eva Prchalová (über Missverständnisse in der mehrsprachigen Kommunikation von Paaren).

Es gibt also wahrlich Einiges zu entdecken und die Leipziger Buchmesse, bei der in diesem Jahr die tschechische Literatur als Schwerpunktthema präsentiert wird, bietet eine wunderbare Gelegenheit, viele der genannten Schriftsteller persönlich zu treffen und sich davon überzeugen zu lassen, dass Tschechien nicht nur ein großes, geselliges Wirtshaus ist, dem Bier und der Kulinarik verpflichtet, sondern vielmehr noch ein ganz besonders reichhaltiges Wirtshaus der Poesie!

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