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Unabhängige Geldpolitik in Krisenzeiten: Es geht weiterhin um Preisstabilität Das Ziel nicht aus den Augen verlieren

Die Coronapandemie und der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen geführt, realwirtschaftlichen wie monetären. Inflation ist wieder ein Thema, und zwar ein ganz gravierendes. In Deutschland erleben wir zurzeit die höchste Inflation seit 70 Jahren. Ob an der Tankstelle, im Supermarkt oder beim Bäcker: Viele Preise sind kräftig gestiegen. Immer mehr Menschen müssen sich deshalb einschränken. Die Inflation trifft diejenigen am härtesten, die auch schon zuvor am Existenzminimum lebten. Zugleich lasten die gestiegenen Kosten auch auf der Wirtschaft. Damit nicht genug: Im Herbst und Winter kann es noch schlimmer kommen. Mit Wucht kehrt das Ökonomische zurück auf die politische Bühne. Die Politik diskutiert Konzepte, wie die entstehenden Härten gemindert werden können – von der Wirtschafts- über die Steuer- bis zur Sozialpolitik. Manches ist bereits auf den Weg gebracht.

Vor diesem Hintergrund werden oft Parallelen gezogen zu den 70er Jahren. Auch damals waren unerwartete Ereignisse Auslöser dafür, dass die Inflation nach oben schnellte und das Wirtschaftswachstum sich abschwächte. In diese Richtung wirkten damals insbesondere die Ölkrisen, die selbst zum Teil von kriegerischen Auseinandersetzungen entfacht wurden. Doch nicht nur die Herausforderungen mögen sich ähneln, auch auf frühere Lösungsansätze wird nun zurückgegriffen.

In Deutschland hat der Bundeskanzler die Konzertierte Aktion wiederbelebt, ein Konzept der wirtschafts- und sozialpolitischen Koordinierung der 60er Jahre. Damals wie heute ist die Bundesbank beteiligt. Und wir begrüßen diese Initiative ausdrücklich. Denn der Gesetzgeber hat uns das vorrangige Ziel gesetzt, Preisstabilität zu gewährleisten. Die Konzertierte Aktion hilft uns, unseren Auftrag zu erfüllen – direkt und indirekt. Sie unterstützt uns direkt, indem wir unsere Stimme in diesem Rahmen hörbar machen können. Sie unterstützt uns aber auch indirekt, indem sie Preisstabilität als das ausweist, was sie in der Tat ist: ein wichtiges gesellschaftliches Ziel, für dessen nachhaltige Verwirklichung über die Zentralbanken hinaus alle gesellschaftlichen Gruppen verantwortungsvoll mitwirken müssen.

Marktkräfte mit sozialem Ausgleich verbinden

Zur Konjunktur- und Preisentwicklung wie zur aktuellen Geldpolitik äußere ich mich öfter. Hier möchte ich die Gelegenheit nutzen, um angesichts der aktuellen Herausforderungen an die Stellung der Geldpolitik im gesellschaftlichen Arrangement unserer Zeit zu erinnern. In Deutschland haben wir nach 1948 eine Wirtschaftsordnung etabliert, in der die Marktwirtschaft den Rahmen vorgibt. Von Anfang an aber war diese Ordnung auf Balance ausgerichtet, indem sie das Wirken der Marktkräfte mit dem sozialen Ausgleich verbindet. Innerhalb dieses Rahmens werden Interessengegensätze, Friktionen, Richtungsentscheidungen und Verteilungskonflikte sowohl kontrovers als auch demokratisch geordnet, friedlich und kooperativ ausgehandelt und entschieden.

Ob man nun von sozialer Marktwirtschaft, Sozialstaat, Ordnungspolitik, verfasstem Kapitalismus oder im konkreten Fall auch von Konzertierter Aktion spricht, im Kern ging und geht es um drei Dinge. Erstens ist die Marktwirtschaft dasjenige Wirtschaftssystem, das von allen bekannten Systemen die höchste Wohlfahrt erzeugt. Zweitens werden in der sozialen Marktwirtschaft Ziel-, Interessen- und Verteilungsgegensätze nicht ignoriert. Stattdessen wird – drittens – fortlaufend versucht, diese Gegensätze gewaltlos, rechtssicher und demokratisch auszugleichen.

Zu den potenziell kontroversen Zielen und Interessen zählt auch die Preisstabilität. Dabei kommt den Preisen in einer Marktwirtschaft eine ganz wesentliche Rolle zu: Sie sind es, die die unzähligen individuellen Entscheidungen der privaten Haushalte und Unternehmen lenken. Unverzerrte Preise geben wichtige Signale darüber, wie knapp bestimmte Güter in der Wirtschaft sind und wie Ressourcen noch besser verwendet werden können.

Diese Lenkungsfuntion wird aber zum Beispiel durch hohe Inflationsraten beeinträchtigt. Zudem hat eine unerwartet hohe Inflation Verteilungseffekte. Insbesondere verlieren Löhne und Gehälter, Renten und Sozialleistungen an Kaufkraft. Ohne stabile Preise fällt es umso schwerer, andere wirtschaftspolitische Ziele zu erreichen. Karl-Otto Pöhl, einer meiner Vorgänger als Bundesbankpräsident, hat es einmal so auf den Punkt gebracht: »Stabilitätspolitik ist gleichzeitig die beste Wachstumspolitik. Inflation dagegen hat letzten Endes verheerende Folgen für Wachstum, Beschäftigung und den sozialen Frieden. Inflation ist unsozial. Sie schafft weder Wohlstand noch Arbeitsplätze. Ohne Stabilität kann es auch keine gute Sozialpolitik geben.«

Hinter diesen Worten steht die Auffassung, dass Preisstabilität der beste Beitrag ist, den die Geldpolitik zur Wohlfahrt der Gesellschaft leisten kann. Deshalb hat der Gesetzgeber der für Geldpolitik zuständigen Zentralbank die Unabhängigkeit gewährt. Politische Akteure können nicht mehr direkten Einfluss auf geldpolitische Entscheidungen nehmen. Beispielsweise wird die Zentralbank dadurch besser vor einem möglichen politischen Druck geschützt, die Staatsfinanzen abzusichern und dazu die Zinsen länger als nötig niedrig zu halten. Insgesamt soll verhindert werden, dass der Geldwert dem Gemeinwohl entzogen und kurzfristigen oder einzelnen Interessen unterworfen wird. Die Unabhängigkeit ist also eine wichtige Voraussetzung dafür, dass eine Zentralbank ihr vorrangiges Ziel der Preisstabilität kompromisslos verfolgen kann.

Zu diesem gesellschaftspolitischen Arrangement einer ausbalancierten Wirtschaftsordnung, bestehend aus Marktkoordination, unabhängiger Geldpolitik und gesellschaftlicher Koordinierung einzelner Interessen, sind wir in Deutschland nach 1948 gelangt. Zustandegekommen ist das – nach den radikalen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik und der NS-Diktatur – in erster Linie durch einen historischen Kompromiss zwischen dem bürgerlich-konfessionellen Lager und der Sozialdemokratie.

1947 hat Alfred Müller-Armack sein Konzept der sozialen Marktwirtschaft entwickelt. Ideengeschichtlich wurzelte es in der katholischen Soziallehre, die innerhalb der freien Marktwirtschaft die Entwicklung eines Wohlfahrtsstaates in den Blick nahm. Demgegenüber ist die Sozialdemokratie in den 50er Jahren von ihrer historischen Seite, nämlich der Arbeiterbewegung, auf ein ähnliches Konzept eingeschwenkt: Verstaatlichungsforderungen und Klassenkampf wurden aufgegeben, stattdessen bekannte man sich zu Marktwirtschaft und Wettbewerb.

Aber eben auch die Chance zum sozialen Aufstieg, die ökonomische Teilhabe, die Wohlfahrt breiter Schichten und eine demokratische Lösung von Interessenkonflikten sollten gesichert werden. Mithin ging es auch hier darum, die Effizienz der Marktwirtschaft zu nutzen, aber die Friktionen demokratisch auszugleichen. Auf diesen historischen Kompromiss, auf diesen sozialethischen wie sozial-demokratischen Wirtschaftspolitikstil haben sich alle wesentlichen Strömungen und Verbände einigen können. In der Bundesrepublik haben sich die bedeutenden wirtschafts- und sozialpolitischen Richtungskämpfe immer in diesem Kompromissrahmen bewegt. Das Arrangement bildete die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg, den Wohlstand sowie die politische und soziale Stabilität der Bundesrepublik.

Zu diesem Arrangement gehört auch und gerade die Unabhängigkeit der Zentralbank. Es ist Teil der historischen Wahrheit, dass es sich hier zunächst um ein Konzept der westlichen Siegermächte von 1948 handelte. Später haben sich aber in der deutschen Politik alle Seiten darauf einigen können, die Zentralbank aus den wirtschaftspolitischen Kontroversen herauszuhalten und als unabhängige Institution ihre Zielvorgabe verfolgen zu lassen.

Unter dem Bretton-Woods-Regime war die Bundesrepublik in ein System fester Wechselkurse eingebunden. Mit dessen Ende 1973 ergaben sich geldpolitische Spielräume. Die Bundesbank forcierte ihr gesetzliches Ziel, die Währung zu sichern, mit langfristig überragendem Stabilitätserfolg. Dieser hat wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg wie zur allgemeinen Stabilität des Landes beigetragen. Das zugrundeliegende Konzept – mit den Elementen einer unabhängigen Zentralbank sowie der Konkretisierung auf das Ziel Preisstabilität – ist zur Blaupause für den Aufbau der Europäischen Zentralbank und des europäischen Systems der Zentralbanken insgesamt geworden.

Verstetigung der Inflationsrate verhindern

Heute steht die Geldpolitik im Euroraum vor einer schweren Bewährungsprobe: Die Inflationsrate ist viel zu hoch. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die Energiepreise kräftig in die Höhe schnellen lassen. Doch auch schon zuvor hatte sich der Preisanstieg verstärkt. Dazu trug bei, dass sich die Weltwirtschaft von ihrem Einbruch zu Beginn der Pandemie rasch erholte – auch dank der umfangreichen Unterstützung durch die Geld- und Fiskalpolitik in vielen Ländern. Vor allem die Nachfrage nach Waren zog kräftig an. Deshalb kam die Industrie mit der Produktion zum Teil nicht mehr hinterher. Mitunter mangelte es an Rohstoffen und Vorprodukten, Lieferzeiten wurden länger. Mit dem Wegfall der Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie belebten sich dann auch Dienstleistungsbereiche. Insgesamt hat der Preisanstieg an Breite gewonnen.

Die Geldpolitik im Euroraum muss dafür sorgen, dass die Inflationsrate mittelfristig wieder auf ihr Ziel von zwei Prozent fällt. Dabei kann das Eurosystem zum Beispiel hohe Energiepreise nicht verhindern. Was es aber zu verhindern gilt, ist, dass sich die hohe Inflationsrate verstetigt. Eine wichtige Rolle spielen dabei die längerfristigen Inflationserwartungen, beispielsweise wenn Unternehmen Preise setzen oder Tarifpartner Löhne aushandeln. Ökonomen reden gerne von Zweitrundeneffekten und Preis-Lohn-Spiralen.

Mit höheren längerfristigen Inflationserwartungen steigt auch das Risiko, dass sich die zu hohe Inflation auf diese Weise verfestigt. Und desto stärker müsste die Geldpolitik dann gegensteuern, um die Inflationsrate wieder auf zwei Prozent zu drücken. Die Geldpolitik kann das Risiko eines Abdriftens der längerfristigen Inflationserwartungen aber verringern, indem sie jetzt entschlossen handelt und entsprechend die Zinsen erhöht. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit der richtigen Geldpolitik unser mittelfristiges Ziel der Preisstabilität wieder erreichen werden.

Wir Geldpolitiker stehen hier in zentraler Verantwortung und werden entschieden alles Nötige tun. Dass die Stabilisierung schnell und durchgreifend erreicht werden wird, daran wirken alle gesellschaftlichen Gruppen mit. Sie müssen die Auswirkungen hoher Preissteigerungen diskutieren, politische Antworten definieren und ihrerseits adäquate Maßnahmen beschließen. Eine unabhängige Geldpolitik ist Teil des Dialoges, und die Bundesbank bringt sich mit ihrer Kompetenz, Tradition und Verantwortung in diesen Dialog ein.

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