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Dauerhafte Ungleichheiten in den Schulen der Migrationsgesellschaft

Internationale Schulleistungsvergleichsstudien wie PISA (Programme for International Student Assessment) haben verdeutlicht, dass das deutsche Schulsystem in mehrfacher Hinsicht gravierende Defizite aufweist. Zum einen ist die Schere zwischen leistungsstarken und -schwachen Schüler/innen weit geöffnet und die Kompetenzen selbst der Leistungsbesten sind im internationalen Vergleich eher mittelmäßig einzuschätzen. Das insgesamt schlechte Abschneiden der deutschen Schulen kann dabei nicht, wie häufig in Alltagstheorien unterstellt, durch einen hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund erklärt werden. Eine Sonderauswertung der PISA-Daten hat nämlich gezeigt, dass sich ein hohes Zuwanderungsniveau im Allgemeinen nicht negativ auswirkt. Zum anderen ist das deutsche Schulsystem mit Blick auf die Migrations- und Wissensgesellschaft als dysfunktional zu bewerten: Kinder und Jugendliche mit sogenanntem Migrationshintergrund sind schulisch weniger erfolgreich als Gleichaltrige »ohne Migrationshintergrund«, insofern sie an Haupt- und Förderschulen überrepräsentiert sind und eine niedrigere Gymnasialschulbesuchsquote aufweisen, geringere Kompetenzen im Lesen, in Mathematik und den Naturwissenschaften erwerben und hinsichtlich der Bildungserfolge, gemessen an den erworbenen Schulabschlüssen, schlechter abschneiden. Besonders besorgniserregend ist hierbei der hohe Anteil an 15-jährigen in Deutschland geborenen Schüler/innen mit familialer Migrationsgeschichte, die von den PISA-Autor/innen als Risikogruppe bezeichnet werden. Ihr Anteil an der sogenannten Risikogruppe beim Lesen betrug 44 %, in Mathematik 47 %. Dass diese Bildungsdisparitäten nicht den Schüler/innen und ihren Familien selbst und erst recht nicht ihrem »Migrationshintergrund« oder ihrer Mehrsprachigkeit angelastet werden können, zeigt der internationale Vergleich.

Straffe Kopplung von sozialer Herkunft und Schulerfolg

Den Bildungssystemen anderer – mit der Migrationsgesellschaft Deutschland vergleichbarer – Länder gelingt es deutlich besser, Chancengerechtigkeit herzustellen, indem sie geringe Leistungsvariationen zwischen Schüler/innen insgesamt aufweisen (wie in Schweden und in Finnland) und die für Deutschland charakteristische, äußerst straffe Kopplung von sozialer Herkunft und Schulerfolg auflösen oder zumindest stark abschwächen. Der Erkenntnisgewinn bzw. der zentrale Ausgangspunkt einer solchen internationalen Vergleichsperspektive wird von den Autor/innen der TIES-Studie (The Integration of the European Second Generation), in der nicht wie bei PISA und Co. punktuell die Leistungen von Schüler/innen, sondern ihre Bildungsverläufe in Deutschland und im europäischen Vergleich erfasst werden, durch die folgende, rhetorische Frage auf den Punkt gebracht: Sind die Kinder türkischer Einwanderer in anderen Ländern klüger als in Deutschland? Damit haben die Autor/innen die Irritation einer von ihnen in Deutschland interviewten Mutter paraphrasiert, die (Selbst-)Zweifel äußerte, ob denn die Kinder ihrer Schwester in Holland wirklich schlauer seien als ihre Kinder. Die Antwort auf beide Fragen lautet: Nein. Sie besuchen aber unterschiedliche Bildungssysteme, denen es vor allem aufgrund von bestimmten Strukturmerkmalen mehr oder – wie im Fall deutscher Schulen – weniger gelingt, Bildungschancen gerecht zu verteilen, d. h. von der familialen Herkunft zu entkoppeln. So wird auch in der bereits zitierten TIES-Studie aufgezeigt, dass eine ganze Reihe von familiären Faktoren bedeutsam für Bildungsverläufe sind, etwa die häusliche Unterstützung bei Hausaufgaben, die Schule als Gegenstand familieninterner Gespräche, die Teilnahme an schulischen Ereignissen und Aktivitäten, ein ruhiger, heimischer Arbeitsplatz etc. Je nach Schulsystem werden diese Faktoren aber unterschiedlich stark wirksam und für Deutschland besteht hier ein signifikant enger Zusammenhang, während die häuslichen Voraussetzungen in Schweden praktisch keine Rolle spielen. Auch das Bildungsniveau der Eltern ist insbesondere in Deutschland (und in Österreich) ein starker Indikator für Schulerfolg, während es anderswo kaum bemerkbar ist. Wichtig für die Betrachtung der Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund ist, dass die Disparitäten gegenüber Schüler/innen »ohne Migrationshintergrund« auch dann bestehen bleiben, wenn die soziale Herkunft, also etwa das familiäre Einkommen, die Berufstätigkeit der Eltern und/oder das Bildungsniveau der Eltern in die Analyse einbezogen und somit kontrolliert werden. Zur Veranschaulichung: Ein Kind aus einer Familie ohne Zuwanderungsgeschichte hat nach der Grundschule eine fünfmal größere Chance, eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten, als ein Kind mit sogenanntem Migrationshintergrund. Selbst bei vergleichbarer sozialer Herkunft sowie gleicher Lesekompetenz sind die Chancen der Schüler/innen »ohne Migrationshintergrund« auf eine Empfehlung für das Gymnasium oder die Realschule um den Faktor 1,66 bzw. 1,72 besser.

Perspektivlosigkeit deutscher Hauptschulen besonders deutlich

Zwar hat sich der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg in den vergangenen 15 Jahren etwas gelockert, dies konnte durch den dreijährigen Turnus der PISA-Studien nachgezeichnet werden. Inzwischen finden sich in Deutschland auch Gymnasien, in denen die Mehrheit der Schüler/innen über eigene oder familiale Zuwanderungserfahrung verfügt, was im Jahr 2000 bei der ersten PISA-Studie an keinem Gymnasium der Fall war. Der Unterschied zu den übrigen Schulformen der Sekundarstufe I hat sich etwas verringert, er ist aber insbesondere gegenüber den Hauptschulen weiterhin erkennbar. Wie auch die Autor/innen der TIES-Studie erachte ich es als bedeutsam bei der Beurteilung eines Schulsystems hinsichtlich der Chancengerechtigkeit nicht nur die jeweilige Spitze zu betrachten, sondern auch die Zahl der nicht hinreichenden Abschlüsse am unteren Ende des Schulsystems. Denn auch hier zeigt sich bei der TIES-Studie, dass es vor allem den Gesamtschulsystemen in Frankreich und Schweden zu gelingen scheint, niedrige Bildungsabschlüsse zu verhindern, während die Perspektivlosigkeit deutscher Hauptschulen besonders deutlich zutage tritt. Obwohl es in anderen europäischen Ländern ein vergleichbares Schulniveau gibt, so ist nirgendwo sonst die Zahl der zu gering gebildeten Schüler/innen dieser Schulform so hoch wie in Deutschland.

Die Autor/innen der TIES-Studie ziehen hier einen Vergleich zur Schweiz, weil dort ebenfalls die duale Berufsausbildung eine zentrale Rolle beim Übergang von der Schule in den Beruf spielt und zeigen auf, dass es dort sehr erfolgreich gelingt, Absolvent/innen »mit Migrationshintergrund« in die Ausbildung zu vermitteln (etwa 90 %). Trotz vieler bildungspolitischer Reformprojekte und damit verbundener Verbesserungen seit der ersten PISA-Studie ist es bisher also noch nicht gelungen, so beispielsweise die Autor/innen des Bildungsberichts von 2018, Bildungsungleichheiten im deutschen Schulsystem entscheidend zu verringern. Vielmehr machen die Autor/innen auf neue Problemlagen aufmerksam, die mit der Flexibilisierung des Erwerbs von Bildungsabschlüssen im nach wie vor gegliederten Schulsystem zusammenhängen: Mit den nun vielfältigeren Möglichkeiten, Bildungsverläufe individuell zu gestalten – von kurzen Bildungswegen (fast track) für Leistungsstarke bis hin zu verzögerten Karrieren der zweiten Chancen etwa über nachschulische Bildungsgänge –, sei ein steigendes Risiko verbunden und die Kluft zwischen Personen, die ihre Bildungserfolge Schritt für Schritt steigern könnten, und anderen, deren ungünstigen Ausgangslagen langfristig nachwirken, könnte größer werden. Mit den Worten des Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge gesprochen, könnte es sich also um einen »Paternoster-Effekt« handeln – die einen fahren nach oben, die anderen nach unten, was die Proklamation von erhöhter Chancengerechtigkeit seit dem PISA-Schock brüchig erscheinen lässt. In der Bildungssoziologie und -forschung sowie in der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung wird diese langanhaltende Problemlage mit Begriffen und Konzepten wie institutionalisierte Ungleichheiten, institutionelle Diskriminierung sowie heimlicher Lehrplan des Rassismus/Linguizismus erfasst, um die systematische Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund zu erklären. Diese strukturellen und institutionellen Voraussetzungen haben einen möglicherweise noch größeren Einfluss auf individuelle Bildungsverläufe, als dies bislang in der Bildungspolitik anerkannt wird, so die Autor/innen der TIES-Studie. Der internationale Vergleich zeigt, dass bei Kindern und Jugendlichen mit familialer Migrationsgeschichte, die mit sehr ähnlichen sozioökonomischen Voraussetzungen in das jeweilige nationale Bildungssystem eintreten, sehr unterschiedliche Bildungskarrieren möglich sind. Welche schulstrukturellen Rahmenbedingungen tragen aber zur mangelnden Chancengerechtigkeit in Deutschland bei?

Zu frühe Differenzierung

Das deutsche Schulwesen zählt im internationalen Vergleich zu jenen Bildungssystemen, die hoch selektiv und durch viele, auch frühe Übergangsentscheidungen gekennzeichnet sind. Durch diese Struktur und damit verbundene Übergangsschwellen werden negative Bildungskarrieren wahrscheinlicher als in inklusiven Bildungssystemen, in denen Schüler/innen unterschiedlicher Leistungsstärke länger gemeinsam lernen – in Finnland beispielsweise in der Regel neun Jahre. Denn je später die Schüler/innen erstmals auf unterschiedliche Schulen oder Bildungsgänge aufgeteilt werden, umso gerechter ist das jeweilige Schulsystem bzw. desto schwächer ist der Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Schüler/innen und ihren Leistungen – so ein zentraler Befund einer der jüngsten PISA-Studien. Insofern besteht eine der Schlüsselfragen der deutschen Bildungsreformdebatte darin, die im internationalen Vergleich verhältnismäßig kurze Grundschulzeit von meist vier (in einigen Bundesländern wie Berlin sechs) Jahren und die damit einhergehende frühe Differenzierung in die drei stark voneinander getrennten Schulformen in der Sekundarstufe I und das Förderschulsystem aufzuheben. Des Weiteren ist der Umbau auf ein Ganztagsschulsystem empfehlenswert, weil so die Chancen für Schüler/innen mit ungünstigeren Eingangsvoraussetzungen vergrößert werden, den Rückstand gegenüber Altersgleichen aufzuholen, die die Erwartungen der monolingualen und mittelschichtsorientierten deutschen Schule besser erfüllen.

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