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picture alliance / photothek | Thomas Trutschel

Komplexe Zeiten brauchen gesellschaftlichen Streit, der nicht spaltet, sondern Lösungen hervorbringt Debatten unter Niveau

Egal ob von rechts oder links, im jüngsten Buch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier oder in den Leitartikeln der Presse und vermutlich auch am heimischen Gartenzaun: Ein vielbeschriebener Grunddefekt ist die mangelnde Bereitschaft, auf andere einzugehen und sich auf Argumente einzulassen. Zuhören, Argumente diskutieren und nicht die Person, die sie vorbringt.

Von einer »sich immer weiter steigernden Unduldsamkeit gegenüber Standpunkten, die nicht die eigenen sind«, sprach der liberale Justizminister Marco Buschmann. Nicht sehr viel anders klingt es in einer anderen Ecke des politischen Spektrums, wenn Sahra Wagenknecht sagt, es sei »kaum noch möglich, irgendwie rational über eine Lösung von Problemen zu diskutieren«. Und der Autor und Moderator Micky Beisenherz schreibt, dem Begriff »umstritten« müsse im 75. Jahr der »grantigen Bundesrepublik« die Würde zurückgegeben werden.

Man müsste es eben einfach nur machen. Duldsam sein, rational diskutieren, Zweifel zulassen. Um es mit den Worten des Bundespräsidenten zu sagen: »Dafür braucht es zuallererst die Einsicht, dass das eigene Interesse nicht der alleinige Maßstab sein kann. Und es braucht Geduld, auch die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten, und die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen.«

Die gute Nachricht: Der Befund, was die eigentliche gesellschaftliche Aufgabe wäre, ist da. Er trifft auf eine breite Zustimmung. Die schlechte Nachricht: Offenbar gelingt die Zustimmung vor allem in der Abstraktion. Und in der Projektion auf andere. Intolerant, engstirnig und irrational sind selbstverständlich die anderen. Wir erleben in dieser Hinsicht eine Ritualisierung der Debatte über die Debattenkultur. Sie hat ihren eigenen Sound entwickelt, der sich durch eine große verbale Aufgeschlossenheit ausdrückt, die die Ablehnung eines klaren Entweder-oder umfasst. Die Kritik daran, dass ausgeschlossen, abgegrenzt, verdächtigt wird, noch bevor jemand überhaupt das Wort ergreift. Auch wenn es keinen Zweifel gibt, dass es allen, die dies betonen, sehr ernst sein dürfte.

»Der Appell, Ambivalenzen zuzulassen, birgt die Gefahr, zur Pose zu werden.«

Der Appell, Ambivalenzen zuzulassen, birgt die Gefahr, zur Pose zu werden. Er hat vor allem eine handlungsentlastende Metaebene: Indem ich mich klar be­kenne zu den hehren Grundsätzen einer toleranten Diskussionskultur, habe ich meinen Beitrag zur Zivilisierung der Debattenkultur bereits geleistet. Dabei liegt der Lackmustest selten im Grundsätzlichen, sondern im Konkreten: Migration, Krieg in Nahost oder der Ukraine, die Entschlossenheit beim Kampf gegen den Klimawandel. Wie schnell verfallen wir von einer verbalen Aufgeschlossenheit in reale Blockaden, wenn wir frontal auf andere Positionen treffen? Wer es ernst meint mit einer offenen Debattenkultur, merkt es eigentlich erst, wenn es weh tut.

Was ist der Grund dafür, dass es uns so selten gelingt die notwendigen Brücken zwischen Abstraktion und Realität zu bauen? Ein Grund, wenngleich sicher nicht der einzige, liegt in einem gestiegenen Sortierbedürfnis unserer Gesellschaft. Das scheint zunächst paradox: Emanzipations- und Individualisierungsprozesse haben unsere Gesellschaft mobiler und dynamischer gemacht, zugleich Singularisierung und Vereinzelung – auch zu Lasten kollektiver Akteure wie Kirchen, Parteien und Vereine – befördert. Wo man sich früher oftmals bequem einsortieren konnte in die Denkweise und Argumente jener kollektiven Akteure, ist der und die Einzelne heute dauerhaft gefordert Haltung zu zeigen, Position zu beziehen und sich zu verhalten. Sag mir, wo du stehst - die Parole des einstigen kommunistischen Agitationshits scheint in vielen Fragen der Grundsound unserer Zeit.

Fragmentierte Öffentlichkeit

Verändert haben sich auch die Arenen, vor allem auch dadurch, dass unsere Debatten heute vor einem völlig neuen technologischen Hintergrund stattfinden. Wie die Gesellschaft, so hat sich auch unser Medienverhalten individualisiert. Das 20-Uhr-Tagesschau-Lagerfeuer-Feeling ist einer fragmentierten Öffentlichkeit auf unzähligen Plattformen gewichen. Und wo man zur Berichterstattung von Print- oder TV-Medien zumindest Beschwerde beim Deutschen Presserat erheben kann, beeinflussen ein chinesisches Unternehmen und reiche Milliardäre im Silicon Valley gesetzlich weitgehend ungestört den Medienkonsum junger Menschen überall auf der Welt. Ohne Zweifel haben soziale Medien und jüngst KI und Deep Fakes unsere Debattenkultur negativ beeinflusst.

Sie tun dies teils unbewusst beziehungsweise aus schnöden Geschäftsinteressen heraus. Teils – siehe die zunehmend problematische Rolle eines Elon Musk als Eigentümer von X – als überaus willige Helfer all jener, die Debatten vereinfachen und polarisieren. Akteure – Steffen Mau und Kollegen nennen sie »Polarisierungsunternehmer« – die Krisen und Unsicherheiten bewusst instrumentalisieren, die Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander aufbringen und einfache Lösungen für hochkomplexe Fragen suggerieren.

Vor der Kulisse der Krisenhaftigkeit unserer Zeit, die eigentlich auch ein höheres Maß an Komplexität und Kompromissgeist in der Auseinandersetzung mit anderen Positionen und Perspektiven erforderte, ist dies eine besondere Gefahr. Die Polykrise versetzt uns als Gesellschaft ohnehin in eine Dauer-Nervosität: Wer blickt noch durch in den Kriegen und Konflikten? Aber auch in sehr lebensnahen Fragen? Etwa wie Wärmepumpen funktionieren. Oder ob man für die eigene Lebenswelt genügend digitale Kompetenzen mitbringt. Wer bejaht angesichts all dessen noch die Frage, dass die eigenen Kinder es einmal besser haben werden, als man selbst?

»Die Hoffnung auf die Wirkungsmacht des ›besseren Arguments‹ wird kaum ausreichen.«

Die Dünnhäutigkeit in Diskursen kann also kaum verwundern. Und es wird deutlich, dass vor dieser Kulisse ein bisschen mehr Habermas wagen, die Hoffnung also auf die Wirkungsmacht des »besseren Arguments« kaum ausreichen wird. Ebenso wenig wie das sonntagsredenhafte Beschwören des Zusammenhalts – ein besonders »deutscher Fetisch«, wie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller es nennt. Um als Gesellschaft besser streiten zu können, müssen wir weitere große und kleine Stellschrauben drehen, die letztlich uns alle – mal mehr und mal weniger – angehen und in Verantwortung nehmen.

In den Schulen muss es anfangen

Es fängt im Kleinen, oder besser gesagt: bei den Kleinen an: Wir brauchen mehr Zeit für Debatten- und Kontroversitätskompetenz, für Medien- und Demokratiebildung in den Schulen. Ein Schulfach, das die junge Generation fit macht für die Demokratie und sehr viel fitter als die älteren Generationen in der digitalen Welt. Aber vor allem müssen wir auch in der Politik das Ringen um die besten Lösungen besser organisieren. Nach drei Jahren Ampel wissen wir, was nicht mehr funktioniert: die Logik von Koalitionsausschüssen, vom Zwang, Einigung zu suggerieren, wo keine ist.

Stattdessen sollten wir das Parlament als wirkliches Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen (re)aktivieren. Man stelle sich vor, Robert Habeck hätte am Anfang des Heizungsgesetzes zunächst nur das Ziel formuliert, bis 2045 das Heizen in Deutschland CO2-frei zu machen. Ein Ziel, über das der Bundestag in Ausschüssen und mit Expertenanhörungen debattiert hätte. Und zwar ergebnisoffen, begleitet durch eine mediale Öffentlichkeit, die die einzelnen Zwischenschritte nicht daran hätte messen können, ob der Minister sich durchsetzen kann oder nicht.

»Der Journalismus muss sich fragen: Was können wir tun, um Debatten konstruktiver abzubilden.«

Es würde in der Folge auch dem Hauptstadtjournalismus guttun, sich mehr in Fachfragen einarbeiten zu müssen und Politik nicht vor allem als Machtpoker und Intrigenstadel zu inszenieren. Ohne Frage: politischer Journalismus lebt auch von der Spannung des Wettbewerbs. Aber kriegen »K-Fragen« oder Beobachtungen darüber, wer mit wem kann und wer nicht mehr, nicht unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit? Oft mehr als wirklich drängende Alltagsfragen, um die ja täglich in der Politik gerungen wird: die Krankenhausreform zum Beispiel. Oder auch die Rentenreform: Und zwar nicht entlang der Frage, wie sehr diese dazu beitrug, dass die FDP die Ampel zum Platzen brachte. Sondern was die Pläne konkret für jeden einzelnen bedeuten. Angesicht einer zunehmend messbaren News Avoidance, also dem bewussten Verzicht vieler Menschen auf Nachrichtenkonsum, muss sich auch der Journalismus fragen: Was können wir tun, um Debatten konstruktiver abzubilden – und damit zu führen.

Ganz entscheidend ist aber vor allem eines: ein verantwortungsvolles Verhalten gesellschaftlicher Eliten sowohl im Sprechen als auch im Handeln. Das gilt gerade dann, wenn sich Stimmungslagen aufzuheizen drohen wie nach dem Attentat von Solingen. Dienen sowohl die gewählten Worte als auch vorgeschlagene Maßnahmen einer erhofften Problemlösung oder vor allem dem politischen Geländegewinn? Zu oft haben sich auch Politikerinnen und Politiker von Parteien der Mitte hinreißen lassen, Scheindebatten zu befeuern. Das gilt seit geraumer Zeit für Migrationsfragen. Aber auch Sozialstaatsdebatten lassen sich vordergründig leichter erzählen, wenn sie wie beim Bürgergeld auf die de facto sehr geringe Zahl von sogenannten »Totalverweigerern« reduziert und damit emotionalisiert wird. Dauerhaft Schaden nimmt aber die Demokratie. Wer wenn nicht ihre Eliten müssten besonders aufpassen, dass wir nicht weiter mit dem Feuer spielen.

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