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© Foto: picture alliance/dpa | Sina Schuldt

Defizite in der stationären Langzeitpflege

Nach Einführung der Pflegeversicherung zum Beginn des Jahres 1995 war es lange Zeit vergleichsweise ruhig geblieben um diesen vorerst letzten Zweig der Sozialversicherung. 25 Jahre des Auf- und Ausbaus waren geprägt von einer stetig steigenden Zahl an Pflegebedürftigen und Pflegekräften sowie einem Ausbau der notwendigen Infrastruktur. Die vergangene Legislaturperiode hat dann eine Reihe von Defiziten in ungewohnter Schärfe in den öffentlichen Diskurs zurückgebracht. Diese Defizite lassen sich auf Konstruktionsfehler bei der Einführung der Pflegeversicherung zurückführen. Drei zentrale Konfliktlinien werden in diesem Beitrag aufgegriffen, weil sie nach meiner Einschätzung auch die nächste Legislaturperiode entscheidend prägen werden.

Private Investitionen statt kommunaler Verantwortung

In den letzten Jahren ist festzustellen, dass private Investoren zunehmend in den Markt für stationäre Pflegeeinrichtungen in Deutschland einsteigen. Für Finanzinvestoren sind auskömmliche und vor allem vergleichsweise sichere Renditen zu erzielen. Zumindest vor der Pandemie war die Auslastung stationärer Einrichtungen hoch, Wartelisten waren die Regel. Die sinkende Auslastung als Folge der Pandemie wird bis heute durch staatliche Ausgleichszahlungen kompensiert. Das Risiko für die Betreiber ist dennoch begrenzt, weil die Eigenanteile der Pflegebedürftigen bei Vorliegen von Hilfebedürftigkeit durch die kommunalen Sozialhilfeträger übernommen werden.

Eine weitere Besonderheit dieses Finanzierungskonstrukts liegt darin, dass Investitionen der Träger auf die Eigenanteile der Pflegebedürftigen umgelegt werden können. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass sich die Trägerstruktur der privaten Einrichtungen verändert. Es gibt einen klaren Trend von familiengeführten Trägern mit nur wenigen Heimen hin zu Ketten mit dutzenden Einrichtungen. Die drei größten in Deutschland aktiven Ketten haben jeweils mehr als 100 Pflegeheime und stammen aus Frankreich, Schweden und Deutschland selbst.

In der öffentlichen Debatte wird zunehmend thematisiert, ob öffentliche Mittel – seien es Sozialversicherungsbeiträge der Pflegeversicherung oder Steuermittel der Kommunen – zur Renditesicherung privatwirtschaftlicher Pflegeheimbetreiber eingesetzt werden sollten. Diese Debatte kommt – etwas überspitzt formuliert – 25 Jahre zu spät. Zwar wurden die Länder und Kommunen durch die neuen Leistungsansprüche der Pflegebedürftigen bei der Einführung der Pflegeversicherung durch sinkende Ausgaben für Sozialhilfe entlastet. Gleichzeitig ist es nicht gelungen – wie eigentlich vom Bundesgesetzgeber beabsichtigt – die Länder und Kommunen im Gegenzug zu Investitionen beim Aufbau der pflegerischen Infrastruktur zu verpflichten. Diese Lücke haben private Investoren geschlossen. Die wenigsten Kommunen übernehmen heute eine aktive Rolle bei der Planung einer bedarfsgerechten pflegerischen Infrastruktur. Auch diese Aufgabe obliegt weitgehend Marktkräften.

Schlechte Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte

In der vergangenen Legislaturperiode sind zunehmend die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte in der Langzeitpflege ins Blickfeld der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Im Gegensatz zur Akutpflege in den Krankenhäusern hat es zwar in der Langzeitpflege keinen Abbau im Personalbestand gegeben – die Anzahl der beschäftigten Pflegekräfte ist umgerechnet in Vollzeitäquivalente langsam aber stetig gewachsen. Dieses Wachstum war aber nicht ausreichend, um die stetig gewachsenen Anforderungen zu kompensieren. Die Anforderungen an die stationäre Pflege in den Heimen haben sich in der jüngeren Vergangenheit massiv verschärft. Das gilt nicht nur für den rein quantitativen Anstieg der Pflegebedürftigen in Heimen. Außerdem ist der Anteil der Pflegebedürftigen mit eingeschränkter Alltagskompetenz gestiegen, die Verweildauern sind gesunken, zudem steigt die Bedeutung von Behandlungspflege genauso an wie die der Kurzzeitpflege nach einem Krankenhausaufenthalt. Der bescheidene Personalaufwuchs konnte den gestiegenen Pflegebedarf nur teilweise kompensieren. Die Bundesländer machen den stationären Einrichtungen zwar Vorgaben zur personellen Mindestausstattung von Fach- und Hilfspersonal in den stationären Einrichtungen. Diese Vorgaben orientieren sich jedoch bisher nicht am tatsächlichen Bedarf und variieren sehr stark zwischen den Ländern. In der Konsequenz ergibt sich ein Kreislauf von steigenden Anforderungen an die Pflegekräfte, die zu hohen physischen und psychischen Belastungen und zu Berufsaustritten führen – mit der Konsequenz weiter steigender Belastungen für die verbliebenen Pflegekräfte. Verschärft wird diese Problematik durch die schlechte Bezahlung von Pflegekräften in der Langzeitpflege, die noch einmal deutlich unter der Vergütung in der Akutpflege liegt. Auch hier hat der Gesetzgeber die Lohnfindung lange Zeit den Kräften des Marktes überlassen. Insbesondere private Träger konnten in der Vergangenheit durch Einsparungen bei den Personalkosten die Gewinne zu Lasten der Pflegekräfte maximieren. Der Erfolg dieser Strategie wurde zudem durch die geringe Tarifbindung der Arbeitgeber und den extrem geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Beschäftigten begünstigt.

Der Gesetzgeber hat in der vergangenen Legislaturperiode erste Schritte unternommen, die Situation der Beschäftigten in der Langzeitpflege zu verbessern. Zunächst wurden Pflegekassen und Sozialhilfeträger dazu verpflichtet, die Kosten für tariflich bezahlte Pflegekräfte zu übernehmen – der Einsatz dieser Arbeitskräfte galt nunmehr generell als wirtschaftlich. Dadurch entstehen Pflegeheimen zumindest keine Nachteile, wenn sie ihre Beschäftigten nach Tarif vergüten. Diese Maßnahme änderte aber nichts daran, dass private Träger durch die unterdurchschnittlich hohe Vergütung ihrer Beschäftigten nicht nur ihre Gewinne sichern konnten. Gleichzeitig konnten sie auch die kalkulierten Pflegesätze niedrig halten, was bei fixen Zuschüssen der Pflegekassen zu niedrigen Eigenanteilen der Pflegebedürftigen führte. Die Eigenanteile sind der entscheidende preisliche Wettbewerbsparameter. Niedrige Eigenanteile sichern demzufolge die Auslastung der privaten Betreiber.

Dieses Preisdumping zu Lasten der Beschäftigten ist nur durch eine Ausweitung der Tarifbindung zu verhindern. Nach mehreren gescheiterten Versuchen hat der Bundesgesetzgeber zum Ende der Legislaturperiode eine solche Tarifbindung auch für private Betreiber vorgeschrieben. Die Formulierungen im Gesetz sind jedoch interpretationsbedürftig, sodass der Erfolg dieser Maßnahme unsicher ist. Aus meiner Sicht ist dieser Weg dennoch erfolgversprechend, weil durch Strukturvorgaben das Renditepotenzial privater Anbieter massiv reduziert werden kann. In diesem Kontext sind auch die geplanten bedarfsorientierten Vorgaben für die Personalbemessung zu sehen, die für alle Betreiber gelten.

Finanzielle Überforderung der Pflegebedürftigen

Im Gegensatz zur Krankenversicherung war die Pflegeversicherung nie dazu konzipiert, den gesamten Bedarf der Leistungsberechtigten zu finanzieren. Die Pflegeversicherung war als Teilleistungsversicherung angelegt. Eine Vollversicherung wäre zum damaligen Zeitpunkt wegen des damit verbundenen Finanzierungsbedarfs und des Widerstands insbesondere der Arbeitgeber nicht umsetzbar gewesen. Aus heutiger Sicht ist jedoch bemerkenswert, was der Gesetzgeber seinerzeit unter Teilleistung verstanden hat. In der Gesetzesbegründung zur Einführung der Pflegeversicherung wurde das Ziel einer Lastenverteilung der Kosten formuliert. Danach sollten die pflegebedingten Kosten durch die Pflegeversicherung, die Kosten für Unterkunft und Verpflegung durch die Pflegebedürftigen und die Investitionskosten durch die Kommunen getragen werden. Schon allein aus verfassungsrechtlichen Gründen war der Bundesgesetzgeber jedoch nicht in der Lage, die Länder und Kommunen zur Investitionsförderung zu verpflichten. Die seinerzeit eingeführte Regelung in § 9 SGB XI – wonach zur finanziellen Förderung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen Einsparungen eingesetzt werden sollen, die den Trägern der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen – hat lediglich appellativen Charakter.

Auch die ursprünglich geplante Finanzierung der pflegebedingten Kosten durch die Pflegeversicherung kann heute nur noch zum Teil realisiert werden. Ursache ist ein weiterer Konstruktionsfehler der Pflegeversicherung – die unzureichende Dynamisierung der Leistungen. Mit anderen Worten: Die Festzuschüsse der Pflegeversicherung sind deutlich langsamer gestiegen als die von den Pflegeheimen in Rechnung gestellten pflegebedingten Kosten. In der Konsequenz steigen die von den Pflegebedürftigen bzw. den Sozialhilfeträgern zu finanzierenden Eigenanteile für die pflegebedingten Kosten kontinuierlich an. Besonders stark ist das Wachstum, seitdem in den letzten Jahren auch die Vergütungen für die Pflegekräfte ansteigen. Insofern war es folgerichtig, dass der Gesetzgeber die oben bereits erwähnte Pflicht zur tariflichen Entlohnung der Beschäftigten mit einer finanziellen Entlastung für die Pflegebedürftigen kombiniert hat. Diese Entlastung wird allerdings aller Voraussicht nach nur kurzfristig andauern, weil der Gesetzgeber auf eine umfassende Finanzierungsreform der Pflegeversicherung verzichtet hat. Hierzu hätte etwa ein Finanzierungsbeitrag der privaten Pflegepflichtversicherung gezählt, die aufgrund der deutlich besseren Risikostruktur finanziell deutlich gesünder ist als die soziale Pflegeversicherung. Auch dieses Problem ist auf einen Konstruktionsfehler bei der Einführung der Pflegeversicherung zurückführen, da der Gesetzgeber seinerzeit die Dualität zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung in der Pflegeversicherung fortgeführt hat.

Trotz einer Vielzahl von Maßnahmen in der vergangenen Legislaturperiode zur Stabilisierung der stationären Langzeitpflege bleibt die Situation der Pflegebedürftigen und der sie versorgenden Beschäftigten ganz oben auf der sozialpolitischen Agenda. Aus meiner Sicht sollten demzufolge die Konstruktionsfehler bei der Einführung der Pflegeversicherung schrittweise beseitigt werden. Dazu gehört eine Rekommunalisierung bei der Pflegebedarfsplanung und der Finanzierung notwendiger Investitionen im Rahmen einer kommunalen Daseinsvorsorge. Eine solche Strategie würde den Spielraum privater Investoren genauso begrenzen wie eine stringente Umsetzung der Pflicht zur tariflichen Bezahlung der Beschäftigten und Vorgaben zur bedarfsgerechten Personalbemessung. Gleichzeitig sind die Eigenanteile der Pflegebedürftigen wirksam zu begrenzen. Auf die Finanzierungsseite kann ein Beitrag der privaten Pflegepflichtversicherung die dazu notwendigen Mittel zumindest teilweise finanzieren.

Kommentare (1)

  • Daniel
    Daniel
    am 31.10.2021
    Es gibt keinerlei Anzeichen für ein Umdenken.

    Grundsätzlich wollen viele Deutsche gerne eine Top-Versorgung, aber wenn sie gefragt werden, wer das zahlen soll, fallen ihnen zuerst die anderen ein. Die aktuellen Sprechblasen aus den Verhandlungen zur Ampel zeigen genau dies in blumigeren Worten: "mehr Digitalisierung", "weniger Bürokratie" und "Anwerbung von Pflegekräften im Ausland" zeigt genau die neoliberale Stoßrichtung, die sagt: wir üben uns in Aktionismus, der bestenfalls nur wenig kostet, sind aber an Veränderungen nicht wirklich interessiert, sondern verschieben die Probleme einfach weiter in die Zukunft.

    Also ist doch schon absehbar, was kommen wird: bestenfalls eine Stagnation auf schlechtem Niveau in der Akutpflege, bestenfalls Stagnation in der Langzeitpflege bei ungehemmt steigenden Eigenanteil, schlechtestenfalls eine Personalflucht in beiden Bereichen.

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