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Konzepte zur Entwicklung der Stadt-Region Ruhr Dem Ende wohnt ein neuer Zauber inne

In diesem Jahr feiert das Ruhrgebiet seinen Abschied von der Steinkohleförderung: Die letzte Zeche wird hier schließen. Längst ist das Münsterland das einzige nennenswerte Kohleabbaugebiet in Deutschland. Erinnert wird dann an das, was war und an das, was bleibt: die Ewigkeitslasten des Bergbaus, die Monumente der Industriekultur, die Leistungen der Bergarbeiter, das Leben ihrer Familien sowie ihrer einzigartigen Gewerkschaft und natürlich an gewachsene Traditionen und Mentalitäten, die nicht über Nacht verschwinden werden.

Wie weit der Strukturwandel jedoch inzwischen fortgeschritten ist, lässt sich an der ehemaligen Bergbaustadt Bochum ablesen. Der Anteil der Studierenden an der Wohnbevölkerung liegt hier inzwischen auf dem Niveau Freiburgs und wird weiter wachsen. In der Wissenschaftsstadt an der Ruhr arbeiten inzwischen über 80 % aller Beschäftigten im Dienstleistungsbereich und es lässt sich trefflich darüber streiten, inwieweit es sich bei den in der Produktion verbliebenen Tätigkeiten nicht vielfach auch tatsächlich um Dienstleistungsfunktionen handelt. Umgekehrt entstehen regelrechte Dienstleistungsfabriken, bei denen zwar kein Schornstein mehr raucht, in denen die Beschäftigten aber einem digitalen Takt folgen müssen, hinter dem ein hoch modernes »Scientific Management« steckt. Das unbarmherzige Regiment des Taylorismus ist somit alles andere als eine nur verblassende Erinnerung an die Stahl- oder Automobilherstellung.

In dieser Phase, die nicht passender hätte gewählt werden können, ist ein opulent ausgestatteter Band erschienen, der den Stand des Strukturwandels nicht nur beleuchtet, sondern auch Konzepte zur Zukunft einer »Agglomeration Ruhr« vorstellt. Das Buch wurde von einem ausgewiesenen Wissenschaftler/innenteam herausgegeben, in dem sich mit Christoph Zöpel nicht nur ein promovierter Ökonom befindet, sondern auch eine politische Persönlichkeit, die u. a. als langjähriger Landesminister das heutige Ruhrgebiet sehr aktiv mit verändert hat. Zu seinen herausragenden Leistungen zählt die Initiierung der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, einem über zehnjährigen Zukunftsprojekt von 1989 bis 1999, dessen durchschlagenden Erfolg heute niemand mehr bezweifelt, das aber von ihm und seinen Mitstreiter/innen gegen durchaus erhebliche Widerstände durch- und umgesetzt werden musste.

Zöpel hat sich an einem an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund angesiedelten Projekt über »Raumstrategien Ruhr 2035+« beteiligt, das einen interdisziplinären Ansatz aus Raumplanung und Sozialwissenschaften verfolgt und dem es um Perspektiven für einen der größten Ballungsräume in Europa geht. Denn bereits dies ist eine zentrale Hinterlassenschaft der Montanindustrie – ein Raum, der allein schon wegen seiner Größe unter den zahlreichen anderen Montanregionen, oder genauer: Post-Montanregionen auffällt. Bei diesem Raum handelt es sich inzwischen um eine Großregion mit Industrie, die keine klassische Industrieregion mehr ist. Nur stammen deren Siedlungs- und Infrastruktur weitgehend aus dieser Zeit. Das Buch, das Ergebnisse von »Raumstrategien 2035+« bündelt und auf vorherigen Forschungen aufbaut, beginnt mit einer Provokation, nämlich der entschiedenen Abkehr vom Begriff »Ruhrgebiet«. Denn dieser erinnere zwar an das rheinisch-westfälische Industrierevier, bilde jedoch die Lebenswirklichkeit des städtischen Siedlungsraums mit über fünf Millionen Einwohnern immer weniger ab. Deswegen sprechen die Herausgeber/innen konsequent von der »Agglomeration Ruhr« oder einfach von »Ruhr«.

Erfolgreich gestalteter Strukturwandel

Rasch zeigt sich, dass »Ruhr« nicht ein Ballungsraum unter vielen ist – was er nach Ansicht der Autorinnen und Autoren auch weder sein kann noch werden soll: Ihnen geht es um die einzigartige Chance, eine eigene Form der Urbanität auszuprägen – »Ruhrbanität« nennen und empfehlen sie dies. Ruhrbanität jedoch will erarbeitet werden. Denn – und dies ist einzufügen: Wenn der Strukturwandel nicht erfolgreich gestaltet worden wäre, dann hätte sich das Ruhrgebiet unter den in jederlei Hinsicht von der Industrie verwüstet verlassenen Regionen wiedergefunden, derer es in Europa oder Nordamerika einige gibt. Man sollte sich stets klarmachen, dass es sich bei »Ruhr« um einen postmontanen, polyzentrischen Raum handelt, der zu einer amorphen und auf paradoxer Weise klaustrophobischen Untergangslandschaft hätte herabsinken können, zu einem »Rust Core« mitten in Europa, der allenfalls die Filmkulisse für eine Dystopie hätte abgeben können, in der die hintergangenen und vergessenen Bewohner/innen als Komparsen eines kreativen Regisseurs dienen, der die Gegenwart in einer zerstörten Vergangenheit sucht. Doch die »Agglomeration Ruhr« lässt sich formen, zu einer neuen urbanen Landschaft, anders als Paris oder London, aber nicht weniger aufregend und bedeutsam. Dies unterstreichen kompetente Autor/innen, die entscheidende Handlungsfelder definieren und diese für eine politische Gestaltung erschließen. In Schlagworten: Die denkmalsgeschützte Berg- oder Stahlarbeitersiedlung bleibt, ganz anderer Wohnraum – auch für neue Wohnformen in der Dienstleistungsgesellschaft – muss erschlossen werden. Die No-go-Areas der Industriekonzerne mitten in den Städten verschwinden, und die wachsende Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft stellt ganz andere Ansprüche an die Flächennutzung als die Industriegesellschaft. Hier kann endlich weniger Verbrauch mehr sein. Moderne Mobilität – über viele Jahre ein Fremdwort in den Autofahrerstädten des Reviers – kann heute nur noch als intelligente Vernetzung diverser Verkehrsträger geplant werden – die Arbeiten am ersten Radschnellweg (RS1) der Republik belegen dies. Lokale Energieproduktion zwischen Großkraftwerken? Gestern unvorstellbar, heute zeigt »Innovation City Ruhr«, dass industriell geprägte Quartiere energetisch saniert werden können. Und dass Neubaugebiete mit Geothermie beheizt und gekühlt werden, gibt es auch in Ruhr. Nicht zuletzt: Was für den Kaiser noch undenkbar war, nämlich eine Arbeiterregion mit höheren Schulen, ist längst Wirklichkeit geworden: Entlang der Ruhr hat sich eine außergewöhnliche Wissenschaftslandschaft entwickelt. Die Zahl der Studierenden in Bochum übersteigt aber nicht nur die Zahl der früher um das Ruhrgebiet stationierten Soldaten; sie übertrifft – jedenfalls in Bochum – inzwischen auch die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder. Gleichwohl kämpft die Region immer noch gegen die Verschleuderung vieler Talente und einer Bildungsbenachteiligung, die sich in einer digitalisierten Arbeitswelt, die neue Arbeitsinhalte und Beschäftigungsverhältnisse hervorbringt, geradezu verhängnisvoll auswirkt. Und nicht zuletzt: Der Reichtum an Möglichkeiten kultureller Freizeitgestaltung ist und bleibt ein unmittelbarer Gradmesser für mehr Lebensqualität. Die Wissenschaft – dies illustriert der vorliegende Band – hat Vorschläge zu machen, die von der Politik beachtet, bewertet und aufgenommen werden müssen. Insoweit dient der Mitherausgeber Christoph Zöpel, der am 4. Juli 75 Jahre wird, der Leserschaft selbst als ein gutes Beispiel für eine Region, die nach wie vor auf Pioniere und Pionierinnen angewiesen ist: auf politische, die an wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert sind und diese für die eigene Arbeit nutzen; und auf wissenschaftliche, die die Politik nicht aus ihrer Gestaltungsverantwortung entlassen.

Jan Polívka/Christa Reicher/Christoph Zöpel (Hg.): Raumstrategien Ruhr 2035+. Konzepte zur Entwicklung der Agglomeration Ruhr. Kettler, Dortmund 2017, 296 S.; 39,90 €.

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