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Gegen das langsame Verschwinden öffentlicher Räume Demokratie braucht Begegnung

Ob Schwimmbäder, Jugendclubs oder Bibliotheken – die Zahl der Begegnungs­orte ist in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden. Aber Demokratie braucht Räume des Zusammentreffens, damit sie dauerhaft funktioniert, gerade in Zeiten großer Transformationen. Sie sind die In­frastrukturen, auf denen unser Zusammenleben basiert. In sie sollten wir investieren.

»Unsere Begegnungen sind homogener geworden und die In­frastrukturen haben sich zunehmend ausgedünnt.«

Der Bustakt: ausgedünnt. Die Dorfkneipe: geschlossen. Der Bahnhof: schon lange verbarrikadiert. Das Schwimmbad in der nächstgelegenen Stadt? Wurde durch ein teures Spaß- und Erlebnisbad ersetzt. Im Sportverein suchen sie derweil händeringend nach Nachwuchs für die Vereinsarbeit. So geht es vielen Begegnungsorten in Deutschland. Alternativen gibt es: Fitnessstudios boomen, Urban Gardening blüht auf und projektförmiges Engagement floriert. Es hat sich etwas verändert in den letzten Jahrzehnten: Unsere Begegnungen sind homogener geworden und die Infrastrukturen, auf denen sie beruhen, haben sich zunehmend ausgedünnt.

Die Folge: Menschen fahren in ihren Autos aneinander vorbei, im Fitnessstudio versteckt man sich beim Training unter Kopfhörern und das neueste Projekt findet nur mit Gleichgesinnten statt. Drei gesellschaftliche Prozesse sind dafür verantwortlich: die Individualisierung unserer Lebensgestaltung, eine Entmischung unserer Wohnumgebung und der Abbau öffentlicher Infrastrukturen.

Eine große Stärke liberaler Demokratien ist es, dass jeder Mensch sein Leben nach eigenem Gutdünken gestalten kann – solange er oder sie dabei niemandem die Freiheit einschränkt. Das führt – ebenso wie Globalisierungs- und Migrationsprozesse – zu einer Gesellschaft, in der Menschen sich immer weniger ähnlich sind. Das katholische Arbeitermädchen vom Lande, den Industriearbeiter aus der Stadt und den Bürgersohn aus der Vorstadt mit klar erkennbarem Aussehen, erwartbarem Lebensstil und erahnbaren Wahlabsichten – sie gibt es heute kaum noch. Gesellschaft ist heute vielfältig und divers.

Menschen gestalten ihr Leben immer individueller. Darunter leiden vor allem die großen Massenorganisationen des Industriezeitalters: Kirchen, Gewerkschaften und Parteien haben massiv an Zulauf verloren, sie werden wohl nie wieder die umfassende Bedeutung haben, die sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für viele Menschen besaßen. Als westdeutscher Facharbeiter am Wochenende Golf spielen, Reisen in die Mongolei unternehmen und den Verein Union Berlin unterstützen: Das ist keine ungewöhnliche Kombination. Menschen kommen heute stärker aufgrund ihrer Interessen und Vorlieben zusammen.

»Unterschiedliche Lebensrealitäten finden nur noch entfernt voneinander statt.«

Zugleich werden uns unsere Nachbar:innen immer gleicher. Egal ob Einkommenshöhe oder Bildungsstand, unterschiedliche Lebensrealitäten finden nur noch entfernt voneinander statt. Im Hausflur und im Vorgarten begegnen wir also immer häufiger Menschen, die uns ähnlich sind. Das hat Auswirkungen über das Wohnhaus hinaus. Auch Schulen und die oft ungeliebten Elternabende bestehen so immer häufiger aus Menschen, die uns ganz ähnlich sind. So müssen wohlhabende Eltern sich immer weniger damit auseinandersetzen, dass ein Drittel der Familien in der Klasse sich keinen Klassenausflug nach St. Moritz leisten kann. Bildungsärmeren Familien fehlen dagegen oft Vorbilder für anspruchsvollere Berufe und Aufstiege und wichtige Kontaktnetzwerke.

Ein dritter, oft schleichender Prozess ist der Abbau öffentlicher Infrastrukturen. Spätestens seit den 90er Jahren wurde in Ländern und Kommunen gespart: Schwimmbäder wurden geschlossen, Bibliotheken zusammengelegt, die Parkpflege an den günstigsten Anbieter vergeben, die Öffnungszeiten von Jugendclubs eingeschränkt. Dass damit wichtige Begegnungsorte verloren gehen, hatte kaum jemand auf dem Schirm – außer den Betroffenen selbst.

Alle drei Prozesse führen zu etwas, das die Soziologie Homophilie nennt: Unser Umfeld wird uns immer ähnlicher. Wir begegnen also immer mehr Menschen, die uns in vielen Hinsichten ähnlich sind. Menschen gruppieren sich dabei immer stärker nach Milieu, Interessen und Lebensrealität.

Alles nicht so schlimm?

Nun könnte man sagen, das sei alles nicht so schlimm, unsere Begegnungen haben sich eben verändert. Aber wem wir wie begegnen, vor allem in unserem Alltag, hat Auswirkungen darauf, wie gut unsere Demokratie funktioniert. Wir müssen, verkürzt formuliert, regelmäßig einem Querschnitt der Menschen begegnen, mit denen wir ein demokratisches Gemeinwesen bilden. Dafür braucht es leicht zugängliche Orte. Das können viele sein, sie sind nicht alle in staatlicher Verantwortung: Die Dorfkneipe gehört ebenso dazu wie Parks, Cafés, Schulen, Super- und Baumärkte, Schwimmbäder und andere. Wichtig ist: Ein Bier für drei Euro ist keine große Zugangshürde, ein Erlebnisbadeintritt für 27 Euro pro Person schon.

Warum brauchen Demokratien diese Begegnungen? Weil sie nicht auf stark autoritäre Mittel zurückgreifen können, um Regeln durchzusetzen. Sie sind vielmehr auf Vertrauen angewiesen – sowohl das Vertrauen der Menschen in ihre Institutionen, stärker aber noch auf interpersonales Vertrauen. Und dieses Vertrauen nimmt in Deutschland ab.

Warum soll ich mich an ein Tempolimit halten, nicht auf dem Radweg parken oder den Müll ordnungsgemäß entsorgen, wenn sich die meisten anderen nicht an diese Regeln halten? Die Wahrnehmung unserer Mitmenschen ist oft durch (sozial-)mediale Diskurse verzerrt. Und: Wir nehmen andere, uns unbekannte Menschen systematisch negativer wahr als uns und unser nahes Umfeld.

Begegnung erzeugt Vertrauen

Ein wichtiges Korrektiv kann die Begegnung von Angesicht zu Angesicht sein. Hier spielt der Zufall eine große Rolle. Stehen wir Menschen erst einmal gegenüber, ist die Situation nicht zu unangenehm, lassen wir uns schnell irritieren. Warum hält sich dieser mittelalte Mann so penibel an die Verkehrsregeln? Warum grüßt die Busfahrerin freundlich? Wieso heben Jugendliche Müll auf, anstatt ihn zu erzeugen? Solche Begegnungen verändern unser Bild von Personengruppen, nicht sofort, aber schleichend.

»Interpersonales Vertrauen ist Kernbestandteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts.«

Interpersonales Vertrauen ist Kernbestandteil dessen, was häufig als sozialer oder gesellschaftlicher Zusammenhalt diskutiert wird. Alltägliche Begegnungs­orte können hierzu einen Beitrag leisten. Das beginnt schon bei der zufälligen Wahrnehmung, beispielsweise in der Bahn zur Arbeit und kann beim sprachlichen Austausch in der Kaffeeküche des Büros oder der Eckkneipe vertieft werden. In der Kneipe über Politik streiten, sich einig sein, dass man sich nicht einig wird und danach trotzdem noch ein Getränk zusammen trinken – das ist gelebte Demokratie.

Es gibt auch Orte, an denen sich immer wieder dieselben Menschen begegnen, etwa in der Kleingartenanlage oder der Schule. Wir stellen uns dann auf diese Menschen ein, entwickeln Erwartungssicherheit – auch ein Bestandteil von Vertrauen. Und viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich und arbeiten zusammen an Projekten – das vertieft das Vertrauen noch einmal zusätzlich.

Begegnungsorte sind Infrastrukturen unserer Demokratie. Sie sind essenziell dafür, dass Demokratien funktionieren – genau wie Parteien, freie Medien, funktionierende Gerichte und andere mehr. Genau diesen Stellenwert sollten wir ihnen zuweisen. Parks und Schwimmbäder, Jugendclubs und intakte Schulen sind nicht nur nice to have, sondern elementare Bedingungen, damit unsere Demokratie gelingen kann. Und Kneipen und Cafés sind nicht nur Wirtschaftsfaktoren oder Anziehungspunkte für Touristen, sie sind leicht zugängliche Begegnungsort für viele.

Sie haben das Potenzial, neues Vertrauen zwischen den Menschen entstehen zu lassen. Viele neue Studien bescheinigen den Deutschen, dass dieses ihnen langsam abhandenkommt, spätestens seit der Coronapandemie. Die Herausforderungen werden aber in den kommenden Jahren eher zu- als abnehmen. Resilienz ist gefragt, auch für die Demokratie.

Neue Ideen und Allianzen

Nun wird es nie wieder so, wie es einmal war. Deshalb braucht es mindestens zwei Dinge: neue Ideen und neue Allianzen. Multifunktionale Orte sind eine Möglichkeit. Warum nicht etwa in Brandenburg die zahlreich vorhandenen Herrenhäuser auf dem Land restaurieren und Arztpraxen, ein Gemeindezentrum der Kirche, Raum für lokale Vereine, eine kleine Bibliothek und frei nutzbare Flächen kombinieren? Warum nicht Schulen am Nachmittag und Abend stärker für die Stadtgesellschaft öffnen? Warum nicht Bibliotheken noch stärker als Orte des gemeinsamen Schaffens denken?

Der Staat allein wird das nicht richten. Das Geld wird in öffentlichen Haushalten in absehbarer Zeit eher nicht sprudeln, Ausgaben konkurrieren mit dringenden Zukunftsprojekten. Deshalb brauchen wir neue Allianzen, etwa zwischen Staat, Zivilgesellschaft und stärker als bisher der Wirtschaft. Der weiterbildende Baumarkt, der Supermarkt mit Rentnercafé oder die Swimmingpoolfirma mit Schwimmbadangebot sind nur einige Beispiele. Ideen gibt es viele, vor allem lokal. Ihr Schatz muss nur gehoben und ermöglicht werden, unter anderem finanziell.

»Vielleicht brauchen wir eine Generalsanierung der Begegnungsinfrastrukturen.«

Wie könnte das zusammengenommen aussehen? Vielleicht brauchen wir eine Generalsanierung der Begegnungsinfrastrukturen in Deutschland, wie es bei der Bahn gerade angegangen wird. Womöglich ist genau dieser Kraftakt nötig, um in zehn oder 15 Jahren in Deutschland wieder resiliente, innovative, variable und zugängliche Begegnungsinfrastrukturen zu haben, die von den Menschen gestaltet, genutzt und gepflegt werden. Ein Investitionsfonds Begegnung, in den nicht nur der Staat, sondern auch Unternehmen, Stiftungen und Privatpersonen einzahlen, könnte eine solche Investition ermöglichen. Wichtig ist, dass die Begegnungsorte vor Ort geplant, gestaltet und umgesetzt werden – die Nutzenden wissen am besten, was sie brauchen.

Ein solcher Fonds hätte das Potenzial, neues Vertrauen zu schaffen, weil Menschen ihre alltäglichen Begegnungsräume vor Ort selbst und qualitativ hochwertig gestalten, weil sie ihre Mitmenschen treffen und so Gesellschaft in ihrer Vielfalt erleben. Das macht Demokratie resilienter und damit gerüstet auch für künftige Krisen.

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