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Europa braucht eine Politik der demokratischen digitalen Nachhaltigkeit Demokratie statt Algokratie

Die Demokratie ist bedroht. »Heute leben etwa 38 Prozent der Weltbevölkerung in nicht-freien Ländern, der höchste Anteil seit 1997. Nur noch etwa 20 Prozent leben in freien Ländern«, so beschreibt die amerikanische NGO Freedom House in ihrem aktuellen Bericht Freedom of the World die globale Situation im Jahr 2023.

Heute haben einige wenige amerikanische Big-Tech-Unternehmen Wirtschaftszweige erobert, durch die sie die vierte Macht im Staat zerstören können: den privat finanzierten und auch den öffentlich-rechtlichen Journalismus. Aber die Kakophonie der sozialen Netzwerke, die sie als Surrogat der freien Presse verbreiten, ist kein Ersatz für den Beitrag des investigativen, reflektierenden und kritischen Journalismus zur Kontrolle der öffentlichen und privaten Macht in freien Gesellschaften.

In einer ersten Phase der digitale Disruption wurden die Verlage und Medienhäuser durch diese Plattformen weitgehend verdrängt. Indem sie die Distribution von Informationen und die Bereitstellung von Angeboten zur Meinungsbildung automatisierten, unterwarfen Big-Tech-Unternehmen diese dem Regime der Algorithmen der Aufmerksamkeitsökonomie. Nun wird durch generative KI wie ChatGPT des amerikanischen Unternehmens OpenAI, das von Microsoft beherrscht wird, die Produktion von Texten und Bildern zunehmend von Journalisten an algorithmische Systeme ausgelagert.

»Der Einsatz von KI in den Medien ist bisher nicht klar als Hochrisikoanwendung im AI-Act identifiziert.«

Weil nach der Distribution nun auch die Produktion von Nachrichten und Mei­nungen zunehmend automatisiert wird, ist es deshalb notwendig, aber nicht ausreichend, einen konsequenten Prozess der demokratischen Regulierung dieser Technologie weiter voranzutreiben. Es müssen für solche hochriskante Anwendungen von KI klare rote Linien gezogen werden, wie das der AI-Act der EU-Kommission vorbereitet. Darin sollen inakzeptabel risikoreiche Systeme verboten, Hochrisikosysteme bestimmten Regeln unterworfen werden, während risikoarme Anwendungen ohne Auflagen bleiben. Der AI-Act der EU-Kommission wird das erste Gesetz weltweit sein, dass KI in allen Lebensbereichen reguliert. Aber es soll noch bis 2025 dauern, bis die künftige Verordnung in geltendes Recht umgesetzt ist. Und der Einsatz von KI in den Medien ist bisher nicht klar als Hochrisikoanwendung im AI-Act identifiziert. Dabei geht es hier um die vierte Gewalt und eine zentrale Funktion in der Demokratie.

Regulierung ist wichtig, aber nicht genug, denn im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz müssen wir von der Begrenzung digitaler Macht zur neuen Gestaltung des öffentlichen Raums nach demokratischen Regeln übergehen. Es geht dabei vor allem darum, die grenzüberschreitende Öffentlichkeit in Europa, die bisher von amerikanischen Netzwerken beherrscht ist, endlich nach europäischen Regeln und mit europäischen Infrastrukturen zu organisieren. Denn die Macht liegt in den Infrastrukturen, die heute vorwiegend aus Software bestehen.

»Bei der Errichtung einer Öffentlichkeit im digitalen Raum muss Europa vorankommen.«

Nötig wäre daher eine Art EU-Doppelbeschluss für generative Systeme Künstlicher Intelligenz, die unsere demokratische Öffentlichkeit gefährden: Klare, bindende Regulierung, basierend auf der Risikopyramide denkbarer Anwendungen, wie sie der AI-Act bereits in Ansätzen vorsieht. Und entschlossene eigene Gestaltung von KI in Europa, die unseren europäischen demokratischen Werten entspricht und eine freie Informationssphäre schützt und von der nationalen auf die europäische Ebene erweitert. Dafür bietet etwa der Media Freedom Act erste Ansatzpunkte. Doch die sind nicht ausreichend. Denn insbesondere bei der Errichtung einer europäischen Öffentlichkeit im digitalen Raum muss Europa vorankommen.

Das vereinte Europa hat nämlich neben der zunehmenden Zerstörung der nationalen Öffentlichkeiten durch Autokratismus und die anhaltende digitale Disruption ein weiteres Problem: Es verfügt selbst nur über eine fragmentierte und daher dysfunktionale Öffentlichkeit. Aufgrund von Sprachbarrieren gab es in der Vergangenheit keine Möglichkeit, eine gemeinsame Öffentlichkeit in Europa zu schaffen. Ohne eine gemeinsame, geteilte europäische Öffentlichkeit wird es aber keinen Fortschritt im Integrationsprozess geben, werden weder gemeinsame Umwelt-, Gesundheits- noch gar Außen- und Sicherheitspolitik möglich sein.

Nur ein gemeinsamer öffentlicher Raum ermöglich den Austausch der unterschiedlichen Perspektiven auf die gemeinsamen Herausforderungen. Nur eine integrierende Öffentlichkeit kann ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen, das Europa demokratisch handlungsfähig macht. Und Handlungsfähigkeit werden wir Europäer in der Welt von morgen brauchen, soviel ist sicher.

Dabei ist die aktive Einrichtung eines demokratischen öffentlichen Raumes und von digitalen Netzwerken, die für alle Europäer vertrauenswürdige und geprüfte Informationen zugänglich machen, nicht nur eine politische Richtungsentscheidung, sondern ein verfassungsrechtliches Gebot, das sich aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem Demokratieprinzip ableitet.

»Der Staat wie die EU müssen sicherstellen, dass sich die Bürger bei vertrauenvollen Quellen informieren können.«

Weil ein freier Kommunikationsprozess Grundvoraussetzung für freie Meinungsbildung und Entscheidungsprozesse und damit für die Demokratie selbst ist, muss der Staat ebenso wie die EU durch eine positive Medienordnung sicherstellen, dass sich die Bürger über die relevanten Angelegenheiten bei vertrauensvollen Quellen informieren können. Nur informierte und urteilsfähige Bürger sind zur demokratischen Willensbildung imstande, nur sie können demokratische Entscheidungen legitimieren.

Ein Blick auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes kann diese Zusammenhänge verdeutlichen. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach nicht nur die Pressefreiheit gestärkt, sondern den Gesetzgeber aufgefordert, Vorsorge für eine positive Medienordnung zu treffen, in der Staatsunabhängigkeit, Pluralität und Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht bestimmende Ziele sind. Die Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht durch Pressemonopole etwa muss bereits durch vorbeugende Maßnahmen verhindert werden, die schon unterhalb der konzentrationsrechtlich bedenklichen Schwelle ansetzen müssen. Denn wenn der Anbieterpluralismus merklich in Gefahr gerät, kann die Demokratie schon unheilbaren Schaden erlitten haben.

Angesichts der schon heute bestehenden Plattformmonopole und des Bedrohungspotenzials generativer KI für die Informationssphäre ist es wichtig, die Freiheitsrechte des Einzelnen sowie die Presse- und Informationsfreiheit mit Blick auf mögliche Entwicklungen digitaler Technologien in der Zukunft zu stärken.

Was bedeutet dies für Europa?

Es mutet im Zeitalter weltweiter grenzüberschreitender Informationssysteme antiquiert an, dass Staaten oder Länder allein die geforderte positive Medienordnung durchsetzen sollen. Zumal seit einigen Jahren ein Rückgang von Pressefreiheit und Medienvielfalt in zahlreichen Mitgliedstaaten nachgewiesen wird. Gleichzeitig dringen grenzüberschreitend nur die amerikanischen beziehungsweise chinesischen Plattformen in die nationale Medienordnung ein, um ihre Inhalte rein profitorientiert zu vertreiben. Eine europäische demokratische Öffentlichkeit schaffen sie nicht, vielmehr unterminieren sie durch De- und Entpolitisierung die nationale demokratische Öffentlichkeit, wo sie noch funktioniert.

»Das Grundrecht auf Informations- und Meinungsfreiheit hat in der gesamten EU Verfassungsrang.«

Dabei hat das Grundrecht auf Informations- und Meinungsfreiheit durch die europäischen Verträge in der gesamten EU Verfassungsrang. Es besteht also genau genommen die Pflicht des europäischen Gesetzgebers, einen für ganz Europa zugänglichen Informationsraum zu schaffen und zu garantieren, der demokratischen Anforderungen genügt. Umgekehrt müssen die Mitgliedstaaten aktiv an einer positiven europäischen Medienordnung mitwirken. Zumal in Deutschland, wo die Präambel des Grundgesetzes die Mitwirkung an der Europäischen Integration als Staatsziel definiert. Gerade auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die sich zur Legitimierung der Rundfunkgebühr gerne auf die »Demokratieabgabe« berufen, müssen deshalb einen aktiven Beitrag zu einem europäischen digitalen Informationsökosystem leisten.

Eine Nachrichten- und Informationsplattform, auf der sich alle Europäer in ihrer Landessprache bei vielfältigen vertrauenswürdigen Angeboten auch aus anderen Mitgliedsländern informieren können, könnte eine Maßnahme einer solchen positiven Medienordnung sein. Die noch zudem die Pointe hätte, dass KI-gestützte Übersetzungs- und Suchsoftware einmal zur Stärkung der Demokratie und der europäischen Einigung eingesetzt werden würden, statt wie bisher immer nur zu ihrer Unterminierung. Denn heute ermöglicht Sprachsoftware die Übersetzung in alle europäischen Sprachen in Echtzeit.

Dadurch könnten erstmals für alle Bürger die Perspektiven der anderen Länder unmittelbar zugänglich werden und ganz nebenbei die Pressevielfalt in jedem Mitgliedsland ohne großen Aufwand erhöht werden. Denn die Vielfalt und Unabhängigkeit der Berichterstattung lässt sich in so einem gemeinsamen Raum von nationalen Autokraten nicht mehr so beschränken, wie sie es bei nationalen Medien können. Auch die innerstaatliche Entwicklung der Demokratie in vielen Mitgliedstaaten wird von der Eröffnung eines europäischen öffentlichen Raumes profitieren. Für eine solche Plattform gibt es derzeit diverse Initiativen, die aber noch zu zögerlich gefördert werden. An diesen Initiativen sollten sich die deutschen Sender aktiv und konstruktiv beteiligen und so einen Vielfaltsbeitrag für die Demokratie in Europa leisten.

Europa muss neben eine Politik konsequenter Nachhaltigkeit im Hinblick auf die natürlichen Ressourcen eine ebenso konsequente Politik der demokratischen digitalen Nachhaltigkeit setzen, die sicherstellt, dass auch künftige Generationen noch frei entscheiden können, wie sie leben wollen. Sonst wäre der denkende Mensch, der sich in freier Selbstbestimmung in einer Demokratie mit anderen verwirklicht, ein weiterer Kandidat für die Liste der vom Aussterben bedrohten Arten – und mit ihm die Demokratie eine historische Episode, die schleichend durch eine Algokratie ersetzt wird.

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