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Auszählen von Briefwahlstimmen © picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Der Faktor Zeit in der Ära multipler Krisen in EuropaDemokratie unter Druck

Am 26. Juli 2012 hielt Mario Draghi eine Rede vor einer internationalen Investorenkonferenz in London: »Within our mandate«, so der damalige europäische Notenbankpräsident, »the European Central Bank is ready to do whatever it takes to preserve the Euro. And believe me it will be enough«. Draghi beendete damit das gefährliche Spiel hinausgezögerter Entscheidungen demokratisch legitimierter Regierungen und Parlamente im Norden Europas, nicht zuletzt in Deutschland. Draghis Satz war eine Entscheidung. Schnell, klar und definitiv. Wenige Ökonomen zweifeln, dass sie richtig war. Draghis demokratische Legitimation dazu war allerdings mehr als dünn.

Im Herbst 2015 drängte ein Strom von Flüchtlingen über die Landesgrenzen. Erhebliche Teile der Gesellschaft, Ministerpräsidenten, Konservative, Rechtspopulisten und Boulevardmedien warfen der Kanzlerin Politikversagen vor. Sie hätte nicht rasch und entschlossen gehandelt. Die Kanzlerin ließ sich zunächst nicht drängen und antwortete: »Wir schaffen das«.

Weniger als fünf Jahre später hält Angela Merkel zu Beginn der Coronapandemie eine noch dramatischere Rede an die Nation und schwört sie auf einen neuen Modus des Regierens ein: »Deswegen lassen Sie mich sagen: Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.« Die Zeit drängte. Unmittelbares Handeln der Bundesregierung und der Bevölkerung kündigte sich an. Es war klar: Die Geschwindigkeit und damit der Modus politischer Entscheidungen würden in dieser dramatischen Krise vor allem vom Faktor Zeit bestimmt.

Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Nur drei Tage danach verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende. Nur wenig später forderten Medien, CDU und nicht zuletzt die Grünen eine schnelle Lieferung schwerer Waffen. Der Bundeskanzler ließ sich nicht drängen. Er reklamierte Zeit für Abstimmung mit den Verbündeten und für eine kluge Politik der Reduktion von Eskalationsrisiken. Seitdem wird er als Zögerer, Zauderer und Verhinderer kritisiert. Eine Dolchstoßlegende kündigt sich im Falle einer Kriegsniederlage der Ukraine an: Weil Deutschland, Frankreich und andere nicht schnell und genügend Waffen geliefert haben, konnte die Ukraine sich nicht hinreichend verteidigen.

Zeit spielt in der Megakrise der globalen Erderwärmung ebenfalls die entscheidende Rolle. Werden die CO2-Emissionen nicht schnell genug auf Null reduziert, nähert sich das Klima kaskadierenden Kipppunkten, jenseits derer eine Steuerung des Klimas nicht mehr gelingen kann. So argumentieren Klimaforscher, Fridays for Future und die Grünen. Auch hier wird von der Politik eine Beschleunigung der Entscheidungs- und Umsetzungsverfahren gefordert.

Wie unter einem Brennglas wurde in den vergangenen 15 Krisenjahren deutlich, welch übermächtige Rolle der Faktor Zeit für die Politik in der Demokratie spielt. Die Frage drängt sich auf: Sind Institutionen und Verfahren der Demokratie zu träge, um in angemessenem Zeittakt auf die Herausforderungen der sich offensichtlich immer schneller und krisenhafter wandelnden gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Umwelten zu reagieren? Wenn dies der Fall sein sollte, müsste sich der Zeittakt politischer Entscheidungen an das Tempo der Märkte, der Pandemien und Klimaprojektionen anpassen und sich zu einer »krisenkonformen Demokratie« wandeln?

Demokratischer Zeitbedarf

Demokratie braucht Zeit. Die Beschleunigung der sozialen, wirtschaftlichen und klimatischen Umweltveränderungen lässt ihr diese aber nicht mehr hinreichend. Demokratische Prozesse sind in ihrer Eigenzeit langsamer als die ökonomischen, ökologischen und technologischen Entwicklungsprozesse, die sie eigentlich durch die zielorientierte Setzung von Rahmenbedingungen steuern sollten. »Politik kommt daher chronisch zu spät« schreiben die Zeit-Forscher Henning Laux und Hartmut Rosa. Dies wird in der Zeitforschung der Politik die »Desynchronierungsthese« genannt. Demokratie steht deshalb vor der Frage: Soll sie sich selbst beschleunigen oder die sie umgebenden gesellschaftlichen Prozesse entschleunigen, falls sie das überhaupt kann? Wieviel Zeit braucht die Demokratie eigentlich?

Gewiss ist die – zunächst triviale – Erkenntnis: Sie benötigt ausreichend Zeit. Das gilt sowohl für die Phase der Konsolidierung von jungen Demokratien nach einer Transformationsphase als auch für die Routinen oder Krisenperioden etablierter Demokratien. Im Falle etablierter Demokratien greifen Faktoren wie die allgemeine Akzeptanz der Spielregeln, die Verteilung gesellschaftlicher Güter, die Eigenstrukturen des Rechtssystems oder die Effizienz staatlicher Bürokratien, die sich auf die Langsamkeit politischer Prozesse auswirken.

Der Zeitbedarf fällt auf jeder basalen Ebene moderner Demokratien an: der Partizipation, Repräsentation, Entscheidung und Umsetzung. Als Faustregel kann gelten: Je anspruchsvoller die Formen der politischen Partizipation sind, umso mehr Zeit benötigen sie. Betrachtet man jenseits der Wahlen anspruchsvollere Formen der Partizipation, wie die Mitarbeit in Parteien, in zivilgesellschaftlichen Assoziationen, deliberativen Verfahren und Bürgerräten, dann fallen beachtliche Zeitkosten an.

Auch für den Prozess der Repräsentation brauchen Demokratien Zeit. Jede Partei muss zunächst Interessen, Werte und Ziele in einem Programm artikulieren und bündeln. Je inklusiver und demokratischer dieser parteiinterne Prozess verläuft, umso mehr Zeit benötigt er. In der Bundesrepublik Deutschland benötigte ein Gesetzgebungsprozess allein im parlamentarischen Verfahren durchschnittlich 225 Tage, wie Laux und Rosa für die Jahre von 1949 bis 1994 errechnet haben. Nach der Vorbereitung der Gesetzesvorlage in Ministerien oder im Parlament muss jede Gesetzesinitiative das vorgeschriebene formale parlamentarische Verfahren durchlaufen: drei Lesungen für das Gesetz, Beratungen in den unterschiedlichen parlamentarischen Gremien und Phasen, bei zustimmungspflichtigen Gesetzen noch die Beratung durch den Bundesrat. Wer diese Verfahren verkürzen will, riskiert die Qualitätsminderung der Gesetze und die Abdunklung parlamentarischer Transparenz.

Zeitbedarfe in der horizontalen Dimension

Quer zur Betrachtung der drei vertikalen demokratischen Funktionen Partizipation, Repräsentation und Dezision lassen sich die drei horizontalen Demokratiefunktionen der Exekutive, Legislative und Judikative sehen. Diese müssen gewaltenteilig so aufeinander abgestimmt sein, dass sie ihre jeweilige Funktionstüchtigkeit stützen und kontrollieren.

Die horizontale Gewaltenkontrolle stellt eine kardinale Differenz zwischen demokratischen und autokratischen Regimen dar. Der Legislative wird klassischerweise die Aufgabe zugesprochen, die längerfristigen Maßstäbe politischen Handelns zu setzen, zu begründen und zu legitimieren. Der exekutiven Logik wohnt die Fähigkeit inne, Entscheidungen zu treffen, gegebenenfalls zu beschleunigen.

In Krisensituationen schlägt die Stunde der Exekutive. Drängender Handlungsdruck erfordert schnelle Reaktionen. Dazu ist von den drei Gewalten nur die Exekutive in der Lage. Dem entspricht auch die typische Verlagerung von Kompetenzen von der Legislative zur Exekutive. Doch ist es keineswegs klar, ob im Einzelfall tatsächlich ein objektiver Entscheidungsdruck besteht oder ob er von der Regierung oder der Öffentlichkeit künstlich erzeugt wird.

Die duale Logik der politischen Zeit

Die Demokratie ist immer Herrschaft auf Zeit. Die Entscheidung über das Personal staatlicher Herrschaft wird in Wahlen periodisch dem Souverän anheimgestellt. Der gewählten Regierung bleibt also nur begrenzte Zeit, um ihre Vorhaben umzusetzen. Begrenzt vom nicht so fernen Horizont periodischer Wahlen wagen (rationale) Politiker häufig nicht, langfristige Reformen dann durchzusetzen, wenn sie fürchten müssen, Opfer einer dualen Zeitlogik zu werden: Denn die Kosten langfristiger Großreformen, die nicht selten in wohletablierte Interessen und Besitzstände relevanter Wählerschichten eingreifen, fallen bei den nächsten Wahlen kurzfristig an; die elektoralen Gewinne sind aber erst und bestenfalls langfristig zu erwarten.

Rationale Politiker fürchten also die Abwahl und dass der politische Opponent die Früchte ihrer Reformanstrengungen ernten könnte. Diese Falle könnte in der gegenwärtigen postfossilen Transformation immer wieder zuschnappen. Das erste Opfer wäre vermutlich der Wirtschafts- und Umweltminister.

Demokratien benötigen Zeit. Sie sind in all ihren Dimensionen auf ausreichende Zeitressourcen angewiesen, um ihren eigenen Anspruch auf gleiche Teilhabe, politische Inklusion und vernünftige Politik zu erfüllen. In Zeiten der Globalisierung und multipler Krisen ist eine ausreichende Verfügung über die Ressourcen knapp geworden. Demokratien sehen sich immer größerem Zeitdruck ausgesetzt. Das Verhältnis von Zeitbedarf und verfügbarer Zeit geht auseinander.

Eine Beschleunigung des demokratischen Prozesses durch eine pauschale Verkürzung der ihm zur Verfügung stehenden Zeitressourcen – zum Beispiel die Verkürzung der Fristen parlamentarischer Beratungen – kann jedenfalls weder aus demokratietheoretischer noch aus steuerungspragmatischer Sicht eine sinnvolle Lösung darstellen. Sie würde demokratische Funktionen untergraben und die Rationalität politischer Entscheidungen aushöhlen.

Ein dezisionistisches Gegenprogramm anstelle von inklusiven Beratungs-, Entscheidungs- und Überprüfungsverfahren wäre nicht nur weniger demokratisch, sondern würde in der Summe auch zu einem qualitativ schlechteren materialen Politik-Output führen. Ein demokratisches Gemeinwesen kann nicht wie eine Investmentbank oder eine Diktatur geführt werden. In Krisenzeiten vergessen dies die Drängler in Wirtschaft, Medien und Politik.

Gleichwohl sind Normal- von Krisenzeiten zu unterscheiden. Es gibt durchaus notstandsähnliche Situationen, wie die Coronapandemie, in denen demokratische Politik auf einen anderen Zeittakt eingestellt werden kann oder gar muss. Dafür sollte es bessere gesetzliche Vorkehrungen geben, als dass man die »Zeitumstellung« allein der Situationsdeutung politischer oder medialer Eliten überlässt. Deshalb muss darauf geachtet werden, dass solche Notstandssituationen nicht ungebührlich hinausgezogen werden können.

Auch hier lassen sich aus der Spätphase der Coronapolitik warnende Lehren ziehen. Die Forderung nach Beschleunigung demokratischer Entscheidungen in der Klimapolitik wird den Zeitbedarf demokratischer Verfahren ernst nehmen müssen. Geschieht das nicht, erodiert die Qualität unserer Demokratie. Dies darf auch dann nicht hingenommen werden, wenn die Befürworter undemokratischer Beschleunigungen die prognostizierte Apokalypse kaskadierender Kipppunkte als stets wiederholbare Legitimation vortragen.

An der Zeitfront darf die Demokratie sich nicht unter Druck setzen lassen. Demokratie braucht Zeit. Sie darf und muss sich diese nehmen. Das schließt temporäre Beschleunigungen exekutiver Entscheidungsprozesse in notstandsähnlichen Krisenperioden keineswegs aus. Sie dürfen aber nicht zum Standard für die Normalzeiten demokratischer Politik avancieren. Auch nicht, wenn es einen anschwellenden Chorus gibt, der eine Krise nach der anderen verkündet. Gerade dann gilt: Souverän ist, wer über die Zeit verfügt. Das gilt nicht zuletzt für die Demokratie.

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