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Bürgerbeteiligung und Reform des Wahlrechts sind noch weitgehend ungeklärt Demokratiepolitik fristet ein Schattendasein

In der Bundesrepublik ist es zum fast schon normalen Schicksal von Koalitionsverträgen geworden, dass sie durch nicht vorhersehbare Krisenereignisse in weiten Teilen zur Makulatur werden. Von der Finanzmarkt- über die Euro-, Flüchtlings- und Coronakrise bis hin zur vom Ukrainekrieg ausgelösten »Zeitenwende« hatten alle Regierungen seit 2005 mit solchen Großkrisen zu tun. Die Folge war, dass sich ihre Prioritäten weg von der »Abarbeitung« der in der Koalition vereinbarten Vorhaben hin zur aktuellen Krisenbewältigung verlagerten.

Nicht alle Projekte fielen dadurch unter den Tisch. Im Gegenteil: Untersuchungen weisen für sämtliche Regierungen eine hohe Umsetzungsquote der Koalitionsverträge nach, die ihre Verbindlichkeit somit auch unter den veränderten Bedingungen behielten. Mit den neuen Prioritäten verschob sich jedoch der öffentliche Blick auf die Regierungsvorhaben, die jetzt in den Windschatten der wichtigeren Probleme traten. In einigen Fällen (etwa bei der Erhöhung des Mindestlohns) verpuffte so der erhoffte Einkommenseffekt. In anderen Fällen erwies es sich als Nachteil, dass die Regierung die Vorhaben nicht ausreichend und angemessen kommunizierte. Für letzteres ist die Debatte um das Bürgergeld ein gutes Beispiel.

Ein Politikbereich, der traditionell ein Schattendasein fristet und im Aufmerksamkeitswettbewerb nur sporadisch öffentliche Wirkung erzeugt, ist die Verfassungs- und Demokratiepolitik. In der letzten Wahlperiode ging das so weit, dass die im Koalitionsvertrag versprochene Einsetzung einer Expertenkommission niemals erfolgte, obwohl vom Amtsantritt der Regierung bis zum Beginn der Coronapandemie zwei Jahre Zeit gewesen wären. Die Kommission hätte Vorschläge machen sollen, »ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie ergänzt werden kann«.

An ihre Stelle trat gleichsam subsidiär der mit Unterstützung des Bundestages eingerichtete Leipziger »Bürgerrat Demokratie« – also eine zivilgesellschaftliche Initiative. Dieser sollte gleichzeitig als Blaupause für weitere Bürgerräte dienen, die vor allem im Umfeld der Grünen jetzt anstelle der früher propagierten Direktdemokratie als bevorzugtes Instrument der Bürgerbeteiligung galten und von daher nicht zufällig den Weg in den Koalitionsvertrag der Ampelregierung fanden.

Nebenbei wurde die letzte Große Koalition auch auf zwei weiteren Gebieten der Demokratiepolitik tätig: dem Wahlrecht und der Regulierung des Einflusses von Interessengruppen. Beim Wahlrecht verdienten ihre Bemühungen, das Problem des ständig größer werdenden Bundestages anzugehen, den Namen Reform aber nicht einmal ansatzweise. Zum einen, weil Union und SPD in der Frage, wie die Begrenzung am besten gelingen könne, weit auseinanderlagen und zum anderen, weil sie das Interesse an einem größeren Bundestag stillschweigend teilten.

Beim Lobbyregister stellte die gemeinsam beschlossene Verschärfung der Transparenzpflichten wiederum eine Folge der im Zuge der Coronakrise aufgetretenen Skandale um die Beschaffung von Schutzmasken dar, die vor allem die Union betrafen. Auch andere demokratiepolitische Neuerungen wie der Wegfall von Präsenzanforderungen im Parteiengesetz oder die Absenkung von Hürden bei der Wahlzulassung waren eine Folge der Pandemie.

Der Koalitionsvertrag der Ampel knüpft an beides an. Nachdem der Reformbedarf beim Wahlrecht spätestens mit der Bundestagswahl 2021 unabweisbar geworden ist, die das Parlament um weitere 25 Abgeordnete auf die bisherige Rekordmarke von 736 Abgeordnete hat anschwellen lassen, wurde die mäßig erfolgreiche Wahlrechtskommission der vergangenen Wahlperiode zu Beginn der jetzigen neu konstituiert. Sie besteht aus Abgeordneten und Sachverständigen, die von den jeweiligen Fraktionen nominiert werden – die ursprüngliche Idee, auch per Losverfahren ausgewählte Bürger:innen hinzuziehen, hat man fallengelassen.

Neben der Reform des Wahlsystems soll sich die Kommission auch mit weiteren Fragen des Wahl- und Parlamentsrechts befassen: der Dauer der Legislaturperiode (fünf statt vier Jahre?), der Begrenzung der Amtszeiten von Abgeordneten und Regierungsmitgliedern, der Zusammenlegung von Wahlterminen, der Absenkung des aktiven Wahlalters (auf 16), der Einführung von geschlechterbezogenen Paritätsregelungen sowie der Modernisierung der Parlamentsarbeit. Der Abschlussbericht ist für den 30. Juni 2023 vorgesehen. Das angekündigte Ziel, zumindest das Wahlsystem bereits innerhalb »des ersten Jahres« zu überarbeiten, wird die Ampel also verfehlen.

Welche Ergebnisse zeichnen sich ab? Gemessen am bisherigen Verlauf der Beratungen fällt die Zwischenbilanz ernüchternd aus. Die meisten Themen wurden noch gar nicht behandelt und in der zentralen Frage des Wahlsystems liegen die Positionen der drei Ampelparteien und der oppositionellen Union so weit auseinander, dass eine Konsenslösung nicht in Sicht ist. Dabei wäre eine solche politisch geboten, nur dass sie – weil das Wahlsystem einfachgesetzlich geregelt ist – eben nicht erzwungen werden kann.

Die Zeichen stehen nicht auf Konsens

Wo liegen die Differenzen in der Sache? Anders als in der vorangegangenen Wahlperiode entzünden sie sich nicht mehr an der Frage der Wahlkreiseinteilung. Eine Absenkung der Zahl der Direktmandate, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Überhangmandaten hätte vermindern können, ist vom Tisch, weil die damit einhergehende Vergrößerung der einzelnen Wahlkreise auch bei der hier zuletzt wieder erfolgreicheren SPD auf generelle Vorbehalte stößt. Diese hat sich deshalb mit ihren Koalitionspartnern auf das »Kappungsmodell« als bevorzugte Lösung verständigt. Direktmandate sollen nur noch vergeben werden, wenn sie durch die jeweiligen Zweitstimmenanteile gedeckt sind.

Um zu vermeiden, dass bestimmte Wahlkreise dann im Parlament überhaupt nicht mehr vertreten wären, schlägt die Ampel zur Ermittlung eines alternativen Wahlkreisgewinners die Einführung einer Ersatzstimme vor – das Mandat würde also nicht automatisch der oder dem Zweitbesten zufallen, sondern der Kandidatin oder dem Kandidaten, die beziehungsweise der nach der Umverteilung der Ersatzstimmen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt. Die Union hegt gegen diesen Vorschlag verfassungsrechtliche Bedenken und hat bereits den Gang nach Karlsruhe angekündigt, falls die Ampel ihn mit der eigenen Mehrheit durchsetzt.

Der Alternativvorschlag eines Grabenwahlsystems, den die von CDU und CSU nominierten Sachverständigen eingebracht haben, dürfte vor diesem Hintergrund primär als »Retourkutsche« zu verstehen sein. Dort würde die Hälfte der Abgeordneten nach den Regeln der relativen Mehrheitswahl gewählt, ohne sie – wie im heutigen System – auf den Zweitstimmenanteil anzurechnen. Das liefe auf eine Abkehr vom Proporzprinzip hinaus, auf dessen grundsätzliche Geltung sich Union und SPD 2013 mit der Einführung von Ausgleichsmandaten verständigt hatten. Ein solcher Systemwechsel würde den erbitterten Widerstand vor allem der kleineren Parteien auslösen und wäre schon von daher nicht legitimierbar.

Auch bei den meisten anderen Themen stehen die Zeichen nicht auf Konsens. Zum Teil dürften sie wie bei der Amtszeitbegrenzung oder der Zusammenlegung von Wahlterminen bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen scheitern. Bei den Paritätsregelungen bestünde dasselbe Risiko, während in der Frage des Wahlalters die bisher ablehnende Haltung der Union vielleicht nicht das letzte Wort bleiben muss, nachdem sich die CDU auf der Länderebene für eine Absenkung geöffnet hat. Die größten Einigungschancen dürften bei der Modernisierung der Parlamentsarbeit und der Verlängerung der Wahlperiode bestehen.

Jenseits des Wahlrechts verspricht der Koalitionsvertrag eine Stärkung der demokratischen Entscheidungsprozesse durch mehr Transparenz und eine bessere Bürgerbeteiligung. Das Transparenzziel soll zum einen durch eine Nachschärfung des Lobbyregistergesetzes und die von der Union in der alten Regierung blockierte Einführung des sogenannten »legislativen Fußabdrucks« verfolgt werden. Zum anderen möchte die Ampel strengere Regeln bei der Parteienfinanzierung durch eine Einbeziehung des bisher ausgeklammerten Sponsorings und die Herabsetzung der Grenzen für veröffentlichungspflichtige Spenden und Mitgliederbeiträge. Bei der Überwachung der Regeln schreckt sie vor effektiven Reformmaßnahmen zurück. Statt sie einer unabhängigen Behörde zu übertragen, obliegt sie weiterhin der aus Parteivertretern zusammengesetzten Bundestagsverwaltung, die lediglich personell und finanziell besser ausgestattet werden soll.

Auch im Feld der politischen Partizipation sind die Pläne über das Ankündigungsstadium bislang nicht hinausgekommen. Als Konsequenz der bereits während der Coronapandemie etablierten Praxis möchte die Ampel hier zum einen die eng gezogenen Grenzen für digitale Beschlussfassungen und Wahlen im Parteiengesetz erweitern. Zum andern strebt sie die Einführung eines digitalen Gesetzgebungsportals nach dem Vorbild Baden-Württembergs an, um den Verlauf der Gesetzgebungsprozesse besser nachvollziehbar zu machen und die Bürger in diese stärker einzubinden. Der letztgenannte Vorschlag trägt vor allem die Handschrift der Grünen – genauso wie die bereits erwähnten »Bürgerräte«, die zu konkreten Fragestellungen vom Bundestag eingesetzt und organisiert werden sollen.

Ist es der Veränderung der politischen Agenda durch den Ukrainekrieg geschuldet, dass den vielfältigen Ankündigen bisher noch keine Taten gefolgt sind? Sollte das so sein, wäre das zumindest im Feld der Bürgerbeteiligung bedauerlich, wenn nicht fatal. Der Grund liegt in der von den Ampelparteien richtig erkannten Notwendigkeit, die Verwaltungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren für klimaschutzbezogene Infrastrukturvorhaben massiv zu beschleunigen, da die Reduktionsziele ansonsten nicht erreichbar wären.

Diese Notwendigkeit hat sich durch die kriegsbedingte Verknappung des Gases, das als Brücke ins nachfossile Zeitalter dienen sollte, jetzt nochmals verstärkt. Wie eine die repräsentative Demokratie ergänzende Bürgerbeteiligung unter diesen Voraussetzungen aussehen kann, ist eine noch weithin ungeklärte Frage, der für die Bewältigung der klimapolitischen Herausforderungen maßgebliche Bedeutung zukommt. Das Schicksal der Ampel bleibt insofern auch an den Erfolg ihrer Demokratiepolitik geknüpft.

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