Dystopien für ein Europa, das seine demokratischen Werte und damit seine Einheit untergräbt, haben Konjunktur. Gegen die grassierende »Demokratie-Malaise« scheint kaum ein pro-europäisches Kraut gewachsen zu sein. Sie ist der Kern der Krise der Europäischen Union, die Anti-Establishment-Bewegungen erst populärer werden lässt und ihnen dann zur Macht verhilft. Sollen die Theorien über eine europäische Integration nicht durch Desintegration obsolet werden, bleibt nur noch wenig Zeit, um eine demokratische Wende herbeizuführen. Die deutsche Debatte zur Zukunft Europas tut sich jedoch schwer, illiberalen Volkssouveränitätsdiskursen eine schlüssige Erzählung zur europäischen Integration durch mehr Demokratisierung entgegenzusetzen. Müsste ein solches Narrativ doch manchen Mythen widersprechen: dem von der »Alternativlosigkeit« technokratisch regelbasierter Euro-Rettungspolitik über die vom Bundesverfassungsgericht gezogenen »roten Linien« bis hin zu dem Glauben, dass Europas nationale Vielfalt eine Parlamentarisierung der EU verhindere. Ziel dieses Beitrags ist zu zeigen, dass ein Narrativ zur Demokratisierung Europas nicht utopisch bleiben oder einen revolutionären Sprung erfordern muss. Um überzeugend wirken zu können, ist ein Konzept vonnöten, das die Notwendigkeit und Machbarkeit der Demokratisierung des EU-Systems schlüssig darlegt. Es muss zeigen, warum eine demokratische Rückkopplung europäischen Regierens zur Lösung seiner gegenwärtigen Rationalitäts- und Legitimitätskrisen notwendig ist, wie sie funktionieren kann, und auf welche Weise sie im rechtlichen und politischen Minenfeld der EU-Politik durchsetzbar wäre.
Um dieses Argument zu entwickeln, greife ich auf drei prominente Debattenbeiträge zur Zukunft Europas zurück: Jürgen Habermas’ Plädoyer für den Weiterbau der EU zu einer »doppelt souveränen« supranationalen Demokratie von 2014 (nachzulesen in der Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft Leviathan 42:4); den Plan von Johannes Becker und Clemens Fuest (Der Odysseus Komplex. Ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise), die nationale Demokratie auf der Grundlage von mehr europäischer Technokratie auszubauen; und schließlich »T-Dem«, den von Stéphanie Hennette, Thomas Piketty, Guillaume Sacriste und Antoine Vauchez entwickelten Vorschlag »For A Treaty Democratizing Euro Area Governance«, der im September bei C.H.Beck unter dem Titel Für ein anderes Europa. Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone erscheint.
Weiterbau der EU zu einer supranationalen Demokratie
Der demokratische Wandel in der EU sei nötig, so Jürgen Habermas, weil »Abstiegsängste auf Seiten vieler Bürger« und eine »Krisenpolitik mit handgreiflichen Ungerechtigkeiten« die nationalen Gesellschaften »gegeneinander aufgebracht« hätten. Die »schreienden sozialen Ungerechtigkeiten« infolge von Austeritäts- und Reformzwängen in der Währungsunion sowie der fehlende Mut, europäische Themen in die Öffentlichkeit zu bringen, gefährdeten »das Projekt Europa«. Eine Überwindung dieser Gefahren sei möglich, so Habermas, durch eine demokratische Weiterentwicklung der EU, welche die sozialen und bürgerrechtlichen Errungenschaften des Nationalstaates mit den Vorzügen einer demokratisch verfassten großen politischen Einheit verbindet. Dafür schlägt er das Konzept der »doppelten Souveränität« vor, welches die europäischen Bürger und die demokratisch verfassten europäischen Staatsvölker als Einheit konstituiert. Diese »heterarchische Verfassung« könne die Übertragung weiterer Befugnisse auf die EU-Ebene legitimieren und einen Politikwechsel für eine solidarische Bewältigung der Krise durchsetzen. Die Praktikabilität von Habermas’ Konzept ist umstritten. Fritz Scharpf kritisiert, dass fundamentale politische Konflikte in der Währungsunion nur dann lösbar seien, wenn »supermajoritäre Entscheidungsregeln« die »legitime Diversität der Mitgliedsvölker« schützten. Diese würden jedoch die Konsenszwänge reproduzieren, die eine supranationale europäische Demokratie gerade überwinden müsste (in: Leviathan 43:1). Dieter Grimm weist darauf hin, dass sich die Dilemmata supranationalen demokratischen Regierens nicht einfach beheben ließen: Selbst wenn durch ein europäisches Wahlrecht und europäische Parteien der Legitimationsstrang vom Wähler zum Europäischen Parlament (EP) gestärkt würde, käme Letzteres nicht an politisch wichtige Entscheidungen heran, wenn diese durch den Europäischen Gerichtshof konstitutionalisiert sind. Beide Einwände sind triftig, doch macht eine Suche nach Auswegen aus dem Dilemma weder die Auflösung der Währungsunion noch die Entkonstitutionalisierung der EU zwingend notwendig.
Ausbau nationaler Demokratie durch Dezentralisierung der Fiskalunion
Dem Weg zu einer supranationalen Demokratisierung der Union diametral entgegengesetzt ist der Kurs, den die Ökonomen Johannes Becker und Clemens Fuest einschlagen. Kern ihres »pragmatischen Vorschlags zur Lösung der Eurokrise« ist eine Reform der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, die auf europäischer Ebene mehr Technokratie und auf nationaler Ebene mehr Demokratie etabliert. Ihr Konzept postuliert die Einheit von (parlamentarischer) Kontrolle und (fiskalischer) Haftung in einem »Nebeneinander von Mitgliedstaaten«. Dazu wären die operativen Entscheidungen von nächtens ausgehandelten Brüsseler Paketlösungen in die Euro-Staaten zurückzuverlagern, deren demokratische Autonomie zu stärken, und die Entscheidungshoheit für Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zurück in die Hände einzelstaatlicher Parlamente zu geben. Zu deren Autonomie gehöre sicherlich auch, schlechte wirtschaftliche Entscheidungen treffen zu können, ohne durch Brüsseler Interventionen gehindert zu werden. Im Gegenzug müssten sie aber bereit sein, die Verantwortung und Kosten für ihre Fehlentscheidungen selber zu tragen. Die gemeinsamen Regeln hierfür verankern Becker/Fuest in einer »dezentral organisierten europäischen Fiskalunion«. Die Autoren gestehen ein, ihr Plan habe ein Problem: Die für die Umsetzung notwendigen Vertragsreformen erforderten einen großen Integrationsschritt wie im Vertrag von Maastricht, aber breite Mehrheiten seien schwerlich zu schaffen, »wenn einige Länder – darunter die aktuell hochverschuldeten – zu Verlierern einer solchen Reform zählen«. In diese offene Flanke sticht Wolfgang Streecks Kritik, das vorgelegte Anti-Euro-Krisen-Rezept versuche einen pragmatischen »Sonderweg aus der Solidarität« (Süddeutsche Zeitung, 26. März 2017), der für Deutschland kostspielig würde, gegen deutsche Export- und Steuerzahlerinteressen nicht durchsetzbar und in künftigen Finanzkrisen kaum überlebensfähig sei. Eine Lösung der Euro- und EU-Krise muss jedoch nicht auf den von Streeck favorisierten »Weg zurück« hinauslaufen – die Nostalgie einer nationalen Einheit von Währung, Wirtschaft und Volk. Den Beweis dafür tritt der bislang originellste Beitrag zur europäischen Demokratisierungsdebatte an, »T-Dem« – ein Vorschlag, wie die Eurozone zu demokratisieren sei.
Einbau eines demokratischen Transplants in die Eurozone
»T-Dem« geht von der Frage aus, wie sich die populistische Welle, die unsere Demokratien zu destabilisieren droht, eindämmen und ein Auseinanderfallen der Europäischen Union verhindern ließe. Kernproblem Europas sei, dass Austeritätspolitik, die einseitig die breite Masse belaste und das große Kapital schütze, nicht vom Europäischen Parlament sondern von den Regierungen der Eurozone allein, zumeist ohne nationale Parlamente bestimmt würde. Als Lösung schlägt »T-Dem« ein »demokratisches Transplant in das Herz des existierenden Eurozonen-Systems« vor: eine parlamentarische Vertretung der Eurozone, welche die Bürgerschaft einbindet und ihren mehrheitlichen Interessen gegenüber der Euro-Exekutive zur Durchsetzung verhilft. Nur nationale Parlamente besäßen die Legitimität, ihre Machtbefugnisse in den Bereichen Haushalts-, Fiskal-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zu bündeln, um die technokratischen Bürokratien, die seit Ausbruch der Finanzkrise geschaffen wurden, zur Verantwortung zu ziehen. Zur Demokratisierung des Eurozonenregimes soll das aus nationalen Parlamentariern proportional nach Bevölkerungsgröße zusammengesetzte Eurozonenparlament mit starken Programmplanungs-, Kontroll-, Untersuchungs- und Entscheidungsrechten ausgestattet werden. Ein erheblich aufgestocktes Budget soll es zudem ermächtigen, die Freiheit substanzieller Alternativen zurückzugewinnen und sich für nachhaltiges Wachstum, Beschäftigung, soziale Kohäsion und die wirtschaftliche und fiskalische Konvergenz in der Eurozone einzusetzen.
Gegen »T-Dem« lassen sich kritische Einwände formulieren. Aus supranationaler Perspektive werden manche befürchten, dass die interparlamentarische Legislativgewalt zwar die Eurozone politisch einen, das Europäische Parlament aber schwächen und mit dem neuen Kerneuropa die EU spalten würde. Diese Kritikpunkte laufen ins Leere, wenn die Repräsentanten des EPs mit einem Teil der Sitze des Eurozonenparlaments vertreten sind. Die Euro-Versammlung soll zudem dem EP Kompetenzen nicht abspenstig machen, sondern vielmehr der Eurozonen-Exekutive neue parlamentarische Befugnisse abringen. Auch bliebe die Einheit der EU gewahrt, wenn die Noch-nicht-Eurozonenländer der EU mit Beratungs- und Informationsrechten in die neue parlamentarische Versammlung einbezogen würden. Weiterhin kann »T-Dem« aber auch nationale Ängste hervorrufen, etwa dass das vorgesehene Haushaltsbudget die Nettozahler der EU – allen voran Deutschland – teuer zu stehen käme, dass diese dann aber nicht einmal mehr von ihrem derzeitigen faktischen Vetorecht in zwischenstaatlichen Verfahren profitieren könnten. Auch diese Sorgen erweisen sich insofern als nicht fundiert, als dass das neue Euro-Budget nach »T-Dem« auf neuen Eigenmitteln beruhen soll, auf Einnahmen etwa aus einer Finanztransaktions- und Unternehmenssteuer sowie aus der Bekämpfung von Steuerbetrug und -vermeidung. Nicht zuletzt muss auch gefragt werden, wie sich eine solche demokratische Neugründung der Eurozone im Haifischbecken sich kreuzender Vetos und populistisch aufgeheizter Ratifikationsreferenden durchsetzen ließe. »T-Dem« schlägt hierfür kurzfristig einen zwischenstaatlichen Vertrag der Eurozonenländer vor, welcher mittelfristig in die Verträge der Europäischen Union überführt werden soll. Wird sich das französisch-deutsche Tandem dafür einsetzen und »T-Dem« positive Resonanz dies- und jenseits des Rheins, und nicht nur in- sondern auch außerhalb der Eurozone erfahren?
Den anderen beiden vorgestellten Vorschlägen ist »T-Dem« insofern überlegen, als es dem Mehrebenen-Regieren der EU Rechnung trägt. Das Eurozonenparlament bündelt die Souveränitäten der nationalen und europäischen Ebene. Die damit geschaffene Euro-Legislative braucht die gegenwärtige Übermacht von Exekutive und Judikative nicht mehr zu scheuen. Sie bringt auch mehr politische Handlungsfähigkeit zur Gestaltung der globalen Finanzströme und der europäischen Wirtschafts- und Währungsordnung auf die Waage. Zur Umsetzung bedarf dieses Konzepts allerdings eines transnational anschlussfähigen Narrativs zur öffentlichen Kommunikation einer Vision, die den deutsch-französischen Integrationsmotor beflügelt, Europas nächste Stufe der Demokratisierung in Angriff zu nehmen. Der Clou dabei muss sein, die Eurozone zu parlamentarisieren, ohne Spaltungen der EU zu riskieren. Ihre Erfolge sollten die Noch-nicht-Euro-Länder motivieren, im Schlepptau zu bleiben, oder gar an Bord kommen zu wollen.
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