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Den Anderen willkommen heißen

»(E)twas hat sich verändert in der Bundesrepublik. Es wird offen und hemmungslos gehasst. Mal mit einem Lächeln im Gesicht, mal ohne, aber allzu oft schamlos.« Diese beunruhigende Zeitdiagnose postuliert die Publizistin Carolin Emcke in ihrem aktuellen Buch Gegen den Hass

Die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels ist der Ansicht, dass seit einiger Zeit kollektive Ereignisse, die von Hass geprägt sind, im öffentlichen Raum sichtbar würden – so unter anderem die Gewaltausbrüche gegenüber Geflüchteten in Deutschland, die Polizeigewalt in den USA gegenüber Afroamerikaner/innen und die Terrorexzesse des sogenannten Islamischen Staates (IS). Beispiele wie diese markieren für die Autorin den vorläufigen Höhepunkt einer neuen »Lust am ungehemmten Hassen«. In detaillierten, einfühlsamen und anthropologischen Kurzporträts über Situationen, in denen Hass eine zentrale Rolle spielt, beschreibt Emcke Handlungen statt vermeintliche Charakteristika bestimmter Personengruppen. Dies eröffne, so schreibt sie, »die Möglichkeit, dass sich die Personen von ihren Handlungen auch distanzieren, dass sie sich ändern können«

Emcke geht es aber nicht nur um den sehr sichtbaren und medienwirksamen Hass beispielsweise gegenüber Geflüchteten oder denjenigen, die der IS als Feinde stilisiert, sondern auch um den latenten und chronischen Hass in unseren Gesellschaften. In unserer heutigen Öffentlichkeit könnten wir eine »wachsende Verachtung von allem Abweichenden« beobachten, die dazu führe, dass wir verstummten und uns einschüchtern ließen – »weil wir nicht wissen, wie wir diesem Gebrüll und dem Terror begegnen sollen, weil wir uns wehrlos fühlen und gelähmt, weil es uns die Sprache verschlagen hat vor Grauen«

Primär beschäftigt sich die Autorin mit der Emotion des Hasses – die eng verknüpft ist mit dem Phänomen der Sorge, die momentan »zu einer politischen Kategorie von eigentümlicher Autorität« erhoben werde. Emcke verweist auf die »besorgten Bürger«, deren öffentliche Besorgnis nicht kritisiert werden dürfe – »(a)ls seien ungefilterte Gefühle per e berechtigt. Als käme unreflektierten Gefühlen eine ganz eigene Legitimität zu (…).« Mithilfe dieser seltsamen öffentlichen Legitimation der Sorge könne der Rassist ein »besorgter Bürger« sein, statt sich das Etikett »Rassist« anheften zu müssen. Dies habe zur Folge, dass das als Sorge ausgegeben werde, »was gleichwohl Abscheu, Ressentiments und Missachtung birgt«, und dass dadurch die »Schwellen des Akzeptablen«, auch in einigen Medien, verrückt würden. Aber nicht nur Journalist/innen sieht Emcke in der Pflicht: Wer bei Exzessen des Hasses nicht eingreife, vergrößere die Menge der Hassenden: »Sie hassen nicht selbst. Sie lassen hassen.« Es sind diese simplen und zugleich brillanten Sätze, die Gegen den Hass so eindringlich machen – genauso wie die Erkenntnis, die sich aus all ihren Beispielen ziehen lässt: dass es momentan an vielen Stellen an Einfühlungs- und Vorstellungskraft mangelt

Stattdessen zeugen viele ihrer Beispiele von der Illusion der Reinheit, der Reinheit eines »Volkskörpers«, einer Religion, von Sexualität. Die Angriffe gegen Geflüchtete in Clausnitz, der Polizeieinsatz gegen Afroamerikaner/innen wie Eric Garner in den USA, der bei seiner Festnahme nach einem Würgegriff eines Polizisten starb, die Attacken gegen Transmenschen und auch die Terroranschläge des IS sind in den Augen der Autorin auch von dem Wunsch nach »Hygiene« motiviert. Und diese sei es, die die menschliche Pluralität letztlich vernichte. So entstehe in der Ideologie des IS, deren Schriften Emcke in Teilen analysiert, ein »dualistisches Weltbild, das nur das absolut Böse und das absolut Gute kennt. Jedes Dazwischen, jede Differenzierung, jede Ambivalenz fehlt.« Und dies, wiederum, führe letztlich zum uns alle bedrohenden Hass. Für dieses Dazwischen, dieses Unreine, dieses Unaufgeräumte macht sich Emcke in ihrem Buch stark. Damit gelingt ihr ein starker Appell an die Pluralität und die politische und zivilgesellschaftliche Garantie derselben

Auch Byung-Chul Han beschäftigt sich in seinem Buch Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute mit unserem Verhältnis zum Anderen. Im Gegensatz zu Carolin Emcke aber befindet der Philosoph und Kulturwissenschaftler: Die Zeiten, in denen es den Anderen noch gegeben habe, sind nun vorbei. »Die Negativität des Anderen weicht heute der Positivität des Gleichen.« Dieses Weichen sei gewaltsam geschehen, und »(d)as totale Ver-Gleichen führt letzten Endes zu einer Sinnentleerung« für das Selbst und die Gesellschaft. Han rahmt das von ihm diagnostizierte Übel mit medizinischem Vokabular ein – so befielen die »Wucherungen des Gleichen« den »Sozialkörper« wie Fettleibigkeit, und der Tod kommt auch daher, als Erschlagen oder Ersticken, ein Schicksal, das »das depressive Leistungssubjekt« durch das Selbst erfahre. Han verbindet die Gleichmacherei mit neoliberalistischen Prämissen von Performanz, Authentizität und dem Funktionsprimat, mit dem Effizienzprinzip, der »Totalvernetzung und Totalkommunikation« und der gleichmachenden Globalisierung

Neu sind diese Thesen zum und Hans Kritik am Neoliberalismus sicherlich nicht: »Der Tod ist das Ende der Produktion« – kapitalismuskritische Theorien haben dies schon lange in ähnlicher Form, wenn vielleicht auch nicht alle derart plakativ, formuliert. Auch nicht neu, aber weiterhin durchaus interessant, ist die Verbindung, die Han zwischen eben jenem Neoliberalismus und dem Nationalismus auf der einen Seite und dem Terrorismus auf der anderen Seite konstruiert: Beide sind für ihn eine unvermeidliche Reaktion auf die sich beschleunigende Gleichmacherei, die unsere Gesellschaften befallen hat. Han ist, wie Emcke auch, der Ansicht: »Der islamische Terrorist und der völkische Nationalist sind in Wirklichkeit keine Feinde.« Der Terrorismus sei »der Widerstand der Singulären gegen die Gewalt des Globalen«, und auch die Neue Rechte zeichne sich durch »Reflexe auf die Herrschaft des Globalen« aus. Derart oft formuliert der Philosoph solche Sätze, dass deren sprachliche Wirkmacht im Laufe der Lektüre leider etwas verloren zu gehen droht – was vielleicht auch daran liegt, dass Han in seinem Buch erstaunlich wenige Thesen formuliert. Eine seiner Hauptthesen lautet, dass die neoliberale »Positivität« die »Negativität«, die sich auch aus der Begegnung mit dem Anderen ergeben könne, völlig auslösche und »Terror« auslöse. Auch wenn sich der Neoliberalismus durchaus mit einer gewissen Form von Positivität verbindet und sich diese unheilvoll nutzbar macht, und auch wenn dies ein zentraler Kritikpunkt an der neoliberalen Rhetorik und Emotionspolitik ist, so bedürfen die These vom Terror und dessen Charakterisierung letztendlich doch mehr Tiefengang – zumal der Autor mit totalitären Begrifflichkeiten alles andere als geizt (z. B. »Terror des Gleichen«, »Terror der Authentizität«, »totale Abstandslosigkeit«). Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Hans Beobachtungen und Kritik an der allumfassenden Vereinnahmung des Neoliberalismus durchaus zutreffend sind

Diesem letztendlichen System-»Terror« des Neoliberalismus setzt Han sein Plädoyer für das Andere und Fremde entgegen: Der oder das Andere, vor dem sich so viele Menschen fürchten, ist nach Ansicht des Autors das, was es zu bewahren gelte. Denn für Han steckt in der Andersartigkeit und Distanz des Anderen nicht nur ein wertvolles Element zur Ausbildung des Selbst, sondern auch die Möglichkeit zum Begehren. Außerdem sei das Andere ein probates Mittel, um Widerstand gegen die Primate des Neoliberalismus zu leisten: »Das Subjekt der Verführung ist der Andere. Ihr Modus ist das Spiel als Gegenmodus zur Leistung und Produktion.«

Aber nicht nur die Akzeptanz des und das Spiel mit dem Anderen ist für Byung-Chul Han ein Gegenmittel gegen das gleichmachende Übel unserer Zeit: Auch das aktive Anhören des Anderen, als »politische Zuhörerschaft«, müssten wir wieder kultivieren lernen. Genauso, wie dem Anderen Gastfreundschaft entgegenzubringen. Denn: »Der Zivilisationsgrad einer Gesellschaft lässt sich gerade an ihrer Gastfreundschaft, ja an ihrer Freundlichkeit messen.«

Doch wem gewähren wir eigentlich Gastfreundschaft? Und in welcher Form und unter welchen Prämissen? Diese Fragen diskutierte der französische Philosoph Jacques Derrida im Rahmen eines Seminars Mitte der 90er Jahre. Die Aufzeichnungen zweier seiner Sitzungen sind in Buchform (Von der Gastfreundschaft) in einer Neuauflage im Passagen Verlag erschienen. Darin skizziert Derrida die äußeren Spannungsfelder, die mit der Gastfreundschaft verbunden sind – dasjenige zwischen Fremdheit und absoluter Anderheit des Gastes, und vor allem zwischen »absoluter« Gastfreundschaft und die durch bestimmte soziale und rechtliche Regeln bedingte Gastfreundschaft: »Gewährt man die Gastfreundschaft einem Subjekt? Einem identifizierbaren Subjekt? (…) Oder wird die Gastfreundschaft dem Anderen gewährt, ihm geschenkt, bevor er sich identifiziert, ja noch ehe er ein Subjekt, ein Rechtssubjekt und ein bei seinem Familiennamen zu rufendes Subjekt usw. ist (…)?« Um diese spannenden Antinomien kreisen Derridas Gedanken

Gestützt unter anderem auf Immanuel Kant, Platon und Sophokles entwickelt Derrida ein Verständnis beider Formen der Gastfreundschaft, das deren ambivalentes und widersprüchliches Verhältnis, aber auch die Bedingtheit beider Varianten zueinander deutlich macht. Dabei bringt Derrida dasjenige zutage, was die Gastfreundschaft in beiden Varianten auch in ihrem Innenverhältnis so spannungsgeladen macht – die Frage nach Nähe und Distanz, nach dem (oft »phallogozentrischen«) Machtgefüge zwischen dem Einladenden und dem Eingeladenen, und der Frage, ob wir den Fremden als Anderen in unserem Zuhause tolerieren können, ohne seinen Namen zu kennen und ohne eine Gegenleistung zu verlangen: »Die absolute Gastfreundschaft erfordert, daß ich mein Zuhause (chez-moi) öffne und nicht nur dem Fremden (der über einen Familiennamen, den sozialen Status eines Fremden usw. verfügt), sondern auch dem unbekannten, anonymen absolut Anderen (eine) Statt gebe (donne lieu), daß ich ihn kommen lasse, ihn ankommen und an dem Ort (lieu), den ich ihm anbiete, Statt haben (avoir lieu) lasse, ohne von ihm eine Gegenseitigkeit zu verlangen (…) oder ihn nach seinem Namen zu fragen.« Genau dies sei bei der bedingten Gastfreundschaft eben nicht möglich

Deutliche Kritik äußert Derrida am Eindringen des Staates in die Privatsphäre, das er als Reaktion auf die Ausweitung der (digitalen) Kommunikationswege deutet. Durch beides bedingt verwischten die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem zunehmend. Damit würden die essenziellen Grenzen des Zuhauses, das Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden oder dem Anderen erst ermögliche, verletzt, und die Gastfreundschaft damit letztendlich vernichtet

Jemanden – einen Fremden, eine Andere – bei uns sein zu lassen, einen Platz zuteilwerden zu lassen, willkommen zu heißen, von dem Anderen, der Fremden nicht zu verlangen, sich auszuweisen, unsere Sprache zu sprechen, gemäß unserer Hausregeln und der sozialen Regeln, in deren Gefüge wir uns befinden, zu handeln und sich zu verhalten – können wir das gewährleisten? Können wir das Andere, das »Unreine«, das Dazwischen zulassen und ertragen? Wie es scheint, gibt es kaum wichtigere Fragen für ein Leben in unserer Zeit

Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft (Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek). 4. durchgesehene Aufl., Passagen, Wien 2016, 168 S., 21,90 €. – Carolin Emcke: Gegen den Hass. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016, 240 S., 20 €. – Byung-Chul Han: Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute. 2. Aufl., S. Fischer, Frankfurt am Main 2016, 112 S., 20 €.

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