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Freizeitpark "Mini-Europa" in Brüssel. ©

picture alliance / REUTERS | Yves Herman

Zur Frage nach der Existenz einer europäischen Kultur Den Stier reiten

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»Wenn ich es noch einmal zu tun hätte, würde ich mit der Kultur beginnen« – ob dieser meistzitierte Satz europäischer Balkonredendichter tatsächlich von Jean Monnet stammt, ist zumindest fraglich. Der am 9. November (!) 1888 im französischen Cognac geborene Gründervater der europäischen Einigungsidee war vermutlich viel zu klug und nüchtern, um seine Vision eines allmählichen Zusammenwachsens der kerneuropäischen Staaten durch industrielle Verflechtung und Abbau von Handelshemmnissen mit einer derart breiigen Aussage zu übermalen. Da liegt die Vermutung doch näher, den Satz dem ehemaligen französischen Kulturminister Jack Lang zu unterstellen, der dieses Zitat der Europa-Ikone Monnet schlitzohrig im Konjunktiv mit »hätte er gesagt haben können« anheftete, vermutlich, um mehr Etat für die Kultur zu rechtfertigen, seine Kultur, die Kultur des »Guten, Wahren, Schönen«.

Gibt es eine Europäische Kultur?

Es wäre ja ein schöner Vorsatz, »es mit der Kultur zu versuchen«. Aber gibt es eine europäische Kultur? Kann es überhaupt eine geben? Und: was bedeutet es überhaupt, europäische Identität über die Kultur herleiten zu wollen? Diese Fragen sind heute und in Zukunft mehr als bloß Stoff für gelangweilte Salongespräche. Schließlich kann Europa nur dann eine Rolle im geopolitischen Reigen spielen, wenn es auch wirklich existiert. Die Beweisführung dafür ist nicht trivial.

Geografisch gibt es Europa nur als ungefähren Raum. Wahlweise mit oder ohne Russland diesseits des Urals, der Türkei oder Französisch Polynesien. Auch die Christenheit ist ein wenig spezifisches Alleinstellungsmerkmal für europäische Identität. Schließlich sind Christen in vielerlei Gruppen in Europa verortet und traditionell eher für Krieg und Spaltung verantwortlich. Und es gibt viele andere Religionen. Immerhin ist der Gedanke der »Oikumene« einst auf der Insel Kreta geboren worden, auf der bekanntlich auch die Göttin Europa per Stier eingeritten kam, womit der gleichnamige Mythos geboren war.

Ort der Toleranz

Da hilft schon eher der Blick auf eine vergessene, kleine Insel im ägäischen Meer: Delos. Heute baumlos und menschenleer, war sie einst die spirituelle und dann auch wirtschaftliche Herzkammer des attischen Bundes und damit auch dessen Versammlungsort, an dem zwischenstaatliche Vereinbarungen der verschiedenen politischen Gebilde rund um die Ägäis ausgehandelt wurden, um sich zu verbünden und stark zu machen gegen die ständige Bedrohung durch die Großmacht Persien.

Es muss sich um einen Ort der Toleranz und des interreligiösen Miteinanders auf engstem Raum gehandelt haben. Heute ist es ein großer Scherbenhaufen, auf dem nur noch ein paar Ziegen grasen. Ein Symbol der Existenz, aber auch der Zerbrechlichkeit des euro­päischen Gedankens.

Und natürlich die Römer (die aus Delos dann übrigens ganz im Sinne Jean Monnets einen Hafen des Freihandels machten, um damit die maritime Übermacht von Rhodos erfolgreich zu brechen). Ohne sie kein Europa. Was wären wir ohne die Römer? Allerdings waren auch die kulturell nicht ohne Fehl und Tadel. Zwar verdanken wir ihnen das Römische Recht und die Idee der Mischverfassung, aus der Montesquieu dann die zentrale politische Idee des modernen Europas, die Gewaltenteilung abgeleitet hat. Aber kunstkulturell betrachtet waren die Römer schlimme Kopisten und barbarisch funktionale Kulturverweser, denen nichts zu schade war, um es populistisch auszuverkaufen. Urheberrecht gab es nicht in Rom. Nur Plagiate.

Und das Heilige Römische Reich? Dem später der Zusatz »deutscher Nation« angehängt wurde? Das verbietet sich schon deshalb als historische Brutstätte des europäischen Gedankens betrachtet zu werden, weil Frankreich nicht dabei war. Und England auch nicht. Daran ändert auch der »Heilige Gral« in der Wiener Hofburg nichts. Aber es ist nicht die beachtliche 76 cm durchmessende, massive Achatschale, die es in die Herzkammer der europäischen Kultur geschafft hat, es ist der Mythos, der sie umrankt. Die Geschichte von einem, der kommt, die Unvollkommenheit der Noblen zu überwinden. Die Lichtgestalt. Es ist das giftigste Ingredienz europäischer (Un-)Kultur. Dabei ist es so schön, sich diesem Gedanken hinzugeben. Und so wahr und so gut kann er daherkommen oder sie, Held oder Heldin, Retter, Ritter. Was wäre europäische Kultur, ohne dieses Motiv? Die Klassik ächzt, die Romantik stöhnt vielgestaltig. Blut und Gral und Boden sind hier eins. Europa, ein Bühnenmärchen? Die Mächte Europas als zerstrittene Ritter der Tafelrunde, als Badende im eigenen Blut. Ein Wiedergänger europäischer Kultur, weder gut, noch wahr, noch schön, aber sehr, sehr populär!

Die europäische Kultur ist umrankt von einem Mythos.

Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts macht diesem Mythos scheinbar ein Ende. Europa ertrinkt tatsächlich im eigenen Blut. Es wird nur noch von außen gerettet. Geht das alte Europa im Ersten Weltkrieg unter, so verspielt im Zweiten Krieg der deutsche Mythos vom Einen, der kommt, um über die Niedrigkeit des politischen Streits hinauszuwachsen, seine Daseinsberechtigung, und der blutige Weg zu dieser Erkenntnis sitzt Europa lange so tief im Gedächtnis, dass endlich eine Weile Frieden ausbricht, auch wenn er sich lange wie kalter Krieg anfühlt.

Antike plus Humanismus

Wäre die Aufklärung nicht gewesen, aus der Antike geschöpft und um den Humanismus erweitert, Europa hätte nichts gehabt, um wieder aufzustehen. Geteilt erst und eingefroren in der bipolaren Welt bis 1989 und scheinbar befreit von allen Fesseln nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, lieferte die Aufklärung den Kompass für den nunmehr unumkehrbaren europäischen Weg. Demokratie, Pluralität, Freiheit, Individualität und das neue Streben hin zu nachhaltigerem Wirtschaften schienen genauso unveränderliche Leitplanken der europäischen Entwicklung zu sein wie die Unantastbarkeit der territorialen Integrität der Nationen. »Zum Zwecke der Überwindung derselben«, dachten wir naiven, deutschen Westlinge, während andere, viel dynamischere, weil vom Eise befreite Nationen im östlicheren Europa gerade endlich (wieder) Nationen werden wollten.

Das Aufeinandertreffen der westeuropäischen, von den (Nachkriegs-)Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland ausgehenden Hoffnung auf postnationale Strukturen in Europa, die den selbst erfahrenen national-identitären Irrweg endlich überwinden, stoßen da auf Schulterzucken, wo lange unterdrückte nationale Identität sich eben erst Bahn bricht.

Das Ende des Kalten Krieges lässt die zahllosen Leichen im europäischen Keller wieder auftauen. Wie konnte es auch anders sein.

Es gibt sie nicht

Und die europäische Kultur? Es gibt sie nicht. Sie schaut allenfalls aus tausend Augen zu. Als wäre es jemand von außen. Als gehöre sie nicht dazu, wenn die europäische Familie wieder in ihren alten Streit zurückfällt. Als wende sie sich ab, wenn die europäische Tafelrunde in die alte Fabel vom Tischlein-Deck-Dich zurückfällt.

Es ist der Streit, die Unaufrichtigkeit und das Misstrauen in der alten europäischen Familie, die ihr Dasein bestimmt. Und so geschieht es, dass sich trotz des reich gedeckten Tischs, der sich immer wieder aufs neue füllt und finsterste Zeiten überstanden hat, keine einigermaßen resiliente Gemeinsamkeit entwickelt, auch keine kulturelle. Zumindest keine, die sich vernünftig definieren ließe.

Und doch sagt die erstbeste künstliche Intelligenz auf die Frage »Gibt es eine europäische Kultur« einfach »ja, es gibt eine europäische Kultur, die sich durch gemeinsame Geschichte, Werte, Traditionen und einen gemeinsamen kulturellen Austausch auszeichnet, obwohl Europa viele verschiedene Kulturen und Sprachen umfasst«. Poooh, dann ist also vielleicht doch Hoffnung? Alles gut, sagt die KI.

Aber nur unter ein paar Bedingungen

Europa hängt davon ab, ob wir uns wirklich füreinander interessieren. Und ob dieses Interesse über Urlaub und die Vielfalt der europäischen Küche und Weinkeller hinausragt. Wir müssen an einer europäischen Öffentlichkeit arbeiten, ihr einen Raum geben und miteinander sprechen lernen, auch dann, wenn wir die Sprache des anderen nicht beherrschen. Und sei es in schlechtem Englisch. Oder mit gottseidank immer besser werdenden elektronischen Übersetzungstools, die die europäisch-babylonische Sprach­ver­wirrung überwinden. Denn das große europäische Missverständnis ist ja nicht zuletzt ein Sprachliches.

Wir müssen miteinander spielen, über Grenzen hinweg kreativ sein und dabei unsere Vielgestaltigkeit und kulturelle Diversität feiern.

Wir sollten uns für die Themen der benachbarten Europäerinnen und Europäer einsetzen, auch dann, wenn wir es nicht für möglich halten.

Wir müssen unsere Datenräume schützen und unser geistiges und kulturelles Eigentum. Wir müssen die Wege beherrschen, auf denen wir uns austauschen. Wir müssen dafür sorgen, dass es auf diesen Wegen mit rechten Dingen zugeht und nicht Datenwegelagerer uns alles abnehmen, was uns ausmacht.

»Europa hängt davon ab, ob wir uns wirklich füreinander interessieren.«

Wenn wir uns auch in Zukunft ein Bild von der Wirklichkeit in Europa und darüber hinaus machen wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Bilder, die wir sehen und die wir tauschen, in der Wirklichkeit aufgenommen worden sind. Wir müssen der elektronischen Fatamorgana unverzüglich den Stecker ziehen, sonst setzt sie sich als Scheinwelt über die wirkliche Welt hinweg. Dazu brauchen wir allen libertären Meckereien und Polemiken trotzend Regeln, deren Einhaltung Teil unserer Kultur werden muss, so schnell es geht. Europa ist eine Ansammlung regelbasierter Gesellschaften, deren Regelwerke große Schnittmengen haben. Das ist ein großer Vorteil, kein Nachteil. Genauso wie persönlicher Schutz, äußere Sicherheit und unabhängige Rechtsprechung zum unveräußerlichen Teil europäischer Kultur gehören.

Es gibt sie doch

Aber wenn wir diese und ein paar andere wichtige Grundpfeiler des humanistischen Weltbilds behaupten wollen, dann ist eine klare Sicht der Dinge unabdingbar. Und die Möglichkeit, Dinge wirklich so zu betrachten wie sie sind und darauf zu vertrauen, dass passiv oder aktiv verbreitete Informationen korrekt wiedergeben, was wirklich passiert, das ist die Voraussetzung dafür, den europäischen Traum weiter zu leben. Man kann das in diesen Tagen gar nicht oft und deutlich genug sagen. Deshalb ist unabhängiger Journalismus so wichtig wie der Stier, den Europa reitet.

»Fair is foul and foul is fair« sagen die bösen Geister bei Shakespeare. Fast alles, was uns in diesen Tagen scheinbar neu begegnet, ist in Zeugnissen und Überlieferungen der euro­päischen Kultur vorgedacht. Das ist der eigentliche Reichtum Europas. Kultur liefert lebendiges Zeugnis für jahrtausendelanges Scheitern der europäischen Idee, die ihrem Kern nach ja über Europa hinaus geht. Sie verkörpert nämlich in Wirklichkeit den sehr einfachen und weltweit und seit jeher verbreiteten Menschheitstraum, auskömmlich und in Frieden die Schönheit des Seins und die Liebe auskosten zu können, so lange es die kurze Frist des Lebens zulässt. Wir haben in Europa alle Mittel, diese Kultur zu pflegen und weiter zu tragen. Euro­päische Kultur darf nicht identitär werden. Ihr einzig identitätsstiftendes Merkmal sollte ihre Offenheit sein, nur so lässt sich das Wimmelbild unseres Kontinents genießen.

Kommentare (1)

  • Zhuk Samsa
    Zhuk Samsa
    25.10.2025 - 03:25 Uhr
    Wunderschöne Worte. Vielen Dank. In diesen Zeiten macht es Hoffnung, dass kluge Menschen so scharf denken und formulieren können: Die Kultur des Scheiterns ist aus der Liebe geboren! "Fail again. Fail better" - sagt eine Figur irgendwo bei Samuel Beckett, ja, noch so ein Spruch aus der kulturellen Mottenkiste, aber es stimmt. Hoffnung ohne Optimismus ist was wir jetzt brauchen. Damit aus Worten Taten werden. Und Aktivismus. Die europäische Bewegung Diem25 gibt diesem eine Plattform. Join us! Solange Europa von Oligarchen regiert wird, bleibt unsere Kultur nur ihre Deko....

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