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Oskar Negts autobiografischer Rückblick Denken in Zusammenhängen

Oskar Negt, der am 1. August 85 Jahre alt wurde, hat unter dem Titel Erfahrungsspuren. Eine autobiographische Denkreise den zweiten Band seiner Autobiografie vorgelegt. Er berichtet darin über seine intellektuelle Entwicklung nach dem Abitur, seine berufliche Karriere, seine akademischen Förderer und Lehrer sowie seine Tätigkeit als Lehrender in der gewerkschaftlichen Bildung und als Professor an der Hochschule, aber auch sein politisches Engagement im Sozialistischen Deutschen Studentenbud (SDS) und danach im »Sozialistischen Büro«.

Zu Beginn gibt Negt einen kurzen Überblick über die wichtigsten Stationen seines Lebens als Erwachsener, die er dann im weiteren Verlauf ausführlicher beschreibt. Aber bereits das Eingangskapitel skizziert die Perspektive seines Denkens und Handelns. Beide stützen sich immer auf den »Erfahrungszusammenhang« als »Leitlinie der Sinnvermutung« – »nach unten« orientiert an den Erfahrungen des Alltags, »nach oben« am »Reflexionsvorrat« der großen Philosophen von Platon und Aristoteles über Kant und Hegel bis zu Marx und zur Frankfurter Schule. Zur »Frankfurter Schule« gehören für Negt nicht nur Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas, sondern auch Rosa Luxemburg, Georg Lukács, Karl Korsch und Lelio Basso.

Nach dem Abitur ging Negt 1955 zum Jurastudium nach Göttingen und verirrte sich – auf Empfehlung eines seiner Gymnasiallehrer – in eine schlagende Verbindung. Dort fühlte er sich, der seine Prägung als Sohn eines ostpreußischen Bauern und aufrechten Sozialdemokraten bewahrte und nie verleugnete, mehr als nur unwohl: »Ich wollte nicht dazu gehören.« Von Marx kannte er damals immerhin das, was die hervorragende Ausgabe der Frühschriften durch Siegfried Landshut hergab. Das genügte, um zu erkennen, dass in Verbindungskreisen nur »die Restauration alter Herrschaftsverhältnisse« zu erwarten war.

Denkreise zum Sozialismus

Er verließ Göttingen und die Verbindung »Holzminda« 1956, zog nach Frankfurt und trat dem SDS bei, in dem er einen Marx-Arbeitskreis mit begründete und sich damit auf eine »Denkreise« begab, »auf der es um überzeugende und verlässliche Formen des Sozialismus ging«. 1959 wurde er in Adornos Hauptseminar aufgenommen, in dem 90 % der Teilnehmer dem SDS angehörten. In diesem Seminar hielt er ein sich über drei Sitzungen hinziehendes Referat, das Adornos damaliger Assistent Jürgen Habermas ebenso lobte wie Adorno selbst.

Negts Karriere im SDS verlief nicht so erfolgreich. Wegen seiner Kontakte zu Dresdener Studenten wurde er – zu Unrecht – des Stalinismus verdächtigt und abgewählt. Als Student lebte er in sehr bescheidenen Verhältnissen von einem Lastenausgleichsstipendium in Höhe von 105 D-Mark im Monat und war hocherfreut, als er ein Lehrangebot der DGB-Bundesschule in Oberursel bekam, wo er bei freier Kost und Logis 250 D-Mark verdiente, obwohl er noch keinen Universitätsabschluss besaß. Nach dem Vorbild des Pädagogen Martin Wangenheim entwickelte er hier das gegen die »Trichterpädagogik« gerichtete Konzept des »exemplarischen Lernens« für die gewerkschaftliche und politische Bildung. So entdeckte er, »dass Theoriearbeit selbst eine Form von Praxis ist«, eine Einsicht, die ihn vor dem Versacken in blindem Aktionismus in der Protestbewegung und erst recht vor dem hybriden Irrweg der Terroristen der RAF bewahrte.

Nachdem sich Jürgen Habermas 1961 bei Wolfgang Abendroth in Marburg habilitiert hatte, weil Horkheimer ihm diesen Weg in Frankfurt verwehrte, wurde er noch im gleichen Jahr außerordentlicher Professor in Heidelberg. Negt arbeitete seine Diplomarbeit über Comte und Hegel mithilfe von Habermas und Adorno zu einer Dissertation um. Danach machte ihn Habermas zu seinem Assistenten in Heidelberg. Habermas und Negt blieben auch über die für beide Seiten kritische Phase von 1968/69 hinaus, als Habermas wieder in Frankfurt lehrte und die beiden sich politisch schroff gegenüberstanden, befreundet. Aber in ihren theoretischen Orientierungen gingen sie völlig getrennte Wege. Negt vermisst bei Habermas ein Interesse an »zentralen Lebensproblemen der Gesellschaft – zum Beispiel Arbeit, Bildung, Erziehung«. Während Habermas mit unerhörter Verve und weltweitem Erfolg eine Neuorientierung der »Kritischen Theorie« betrieb, hält Negt bis heute an einem »durch Kant und Hegel zurechtgerückten Marx« fest sowie an den seine »politische Vorstellungswelt damals bestimmenden Symbolfiguren Adorno und Otto Brenner«.

Wider den scheinrevolutionären Avantgardismus

1969 wurde das »Sozialistische Büro« (SB) in Offenbach gegründet, bei dem Negt Mitglied wurde. Beim Angela-Davis-Kongress am 3. Juni 1972 trat er, zusammen mit Wolfgang Abendroth, Herbert Marcuse und dem Gewerkschafter Willi Scherer, auf der großen Kundgebung der undogmatischen außerparlamentarischen Opposition als Redner auf. Negt setzte sich in seiner großen Rede mit dem Begriff »revolutionäre Gewalt« und dem Terror der RAF auseinander. Unter den Frankfurter Spontis (»Revolutionärer Kampf«) war zu dieser Zeit die Devise »wir distanzieren uns von nichts und niemandem« sehr geläufig. Negt zerpflückte diese Rosstäuscherfinte mit starken Argumenten und entlarvte den damals ausgeübten perfiden »Solidarisierungszwang« als »das schlechteste Erbteil der Protestbewegung«. Er formulierte maßgebliche Orientierungsgrundsätze wie »Nicht nach Köpfen, nach Interessen organisieren«, womit sich das SB von den Campus-Maoisten und ihrem »hohlen revolutionären Pathos« absetzte. Mit seinen programmatischen Beiträgen verständigte sich das SB auf ein Politikverständnis, das Politik nicht situativ auf Karriere- und Machtfragen reduzierte, sondern als »Produktions- und Kommunikationsprozess« verstand. Im Rückblick würdigt Negt das SB, als »das einzig beruhigende Element« im damals tobenden Schattenboxen unter den Generalsekretärsdarstellern des »scheinrevolutionären Avantgardismus«.

Lehrer autonomen Denkens

Nach etlichen Hürden, die mithilfe des niedersächsischen Kultusministers Peter von Oertzen überwunden werden konnten, wurde Negt – wie auch Jürgen Seifert und Peter Brückner – auf einen Lehrstuhl der sozialwissenschaftlichen Fakultät der damaligen TU Hannover berufen. Sein oberstes pädagogisches Lernziel als Hochschullehrer sah er im Herstellen von »Zusammenhängen«, was nur durch ein »produktives Rückgängigmachen von Arbeitsteilung« möglich war. Deshalb bildeten »Großvorlesungen« das »Zentrum seiner akademischen Tätigkeit«. Dem Lehren und Lernen in Kleingruppen gegenüber blieb er lebenslang skeptisch. Im Anschluss an Kant wollte er nie eine Philosophie, sondern das autonome Denken lehren – in freier Rede entlang von Notizen, Texten, Begriffen und Konzepten. Mit seinem Verständnis von Philosophie als einer von »Arbeitsteilung unabhängigen Weltbetrachtung« blieb Negt unter Philosophen vom Fach ebenso ein Solitär wie mit seiner diffizilen Überzeugung von der »Gleichrangigkeit der Erkenntnismaterialien Märchen, Mythen und wissenschaftlichen Untersuchungen«.

Die damit kompatible intellektuelle Produktionsform entwickelte er in Zusammenarbeit mit dem Juristen, Philosophen und Filmemacher Alexander Kluge in vier gemeinsam verfassten Büchern von insgesamt rund 2.200 Seiten Umfang zu der von vielen bewunderten »Denkwerkstatt« und »Produktionsgemeinschaft Negt/Kluge«. Negts »bäuerlicher Materialismus« und der »phantasiereiche und assoziativ und auch in Bildern denkende Intellektuelle« Kluge bewegten sich virtuos in der Welt, die Aristoteles, Kant, Hegel, Marx, Freud und die »Frankfurter Schule« bilden: »Jeder von uns konnte sich darauf verlassen, dass auch der abwegigste Gedanke des anderen eine Marschrichtung hat, die auf ein gemeinsames Ziel hinführt.«

Die Idee eines demokratischen Sozialismus verlor Negt nie aus dem Blick – selbst bei seiner zeitweiligen Beratertätigkeit des niedersächsischen Ministerpräsidenten und späteren Bundeskanzlers Gerhard Schröder. »Wir dürfen nicht warten, bis das Gemeinwesen verrottet ist« und »die betriebswirtschaftlich beschädigte Vernunft« alle Lebensbereiche beherrscht – das sind die tragenden Motive seines altersmilden Rückblicks.

Oskar Negt: Erfahrungsspuren. Eine autobiographische Denkreise. Steidl, Göttingen 2019, 384 S., 28 €.

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