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Zum 80. Geburtstag des »phänomenalen« Songpoeten Bob Dylan Der Alterslose

Vorne eine Acht? Man mag der nackten Zahl kaum trauen: Jemand wie er, der als »Tambourine Man« schon vor mehr als sechs Jahrzehnten die Erfolgsleiter erklommen hat und seitdem vom Olymp der Songwriterkunst, jenseits aller Grenzen von Rock, Pop und Folk, kommentierend und provozierend auf unsere unvollkommene, problembeladene Welt herabblickt, jemand wie er kann doch nicht einfach altern. Oder gar 80 werden. Jemandem wie ihm, dem Verfasser zeitloser Kostbarkeiten wie Simple Twist of Fate, Like a Rolling Stone, It's All Over Now, Baby Blue, Masters of War oder Don't Think Twice, It's Alright, mit einem Liedkatalog ohnegleichen, mit einem ehrfurchtgebietenden Repertoire und einer schier unüberblickbaren Diskografie, ist eigentlich ewige Jugend garantiert. Quasi automatisch.

Spätestens seit 1974 hat er – sozusagen vorausschauend – deshalb wohl auch mit seinem Titel Forever Young einen bemerkenswerten musikalischen Wunschkatalog zusammengestellt, der vorzeitigen künstlerischen und gesundheitlichen Verschleiß verhindern sollte: Weit mehr als eine hoffnungsvolle, nachdrückliche Aufzählung in Form eines inzwischen klassischen Geburtstagsständchens ist dabei herausgekommen. Ernsthaftigkeit dominiert, Pathos ist mit im Spiel. Gottes Segen, nie versiegende Energie und kontinuierliche Schaffenskraft werden darin in Aussicht gestellt oder zumindest ersehnt, Anständigkeit, Ehrlichkeit und Geschäftigkeit angemahnt, eine Lebensführung im Einklang mit der Wahrheit verlangt und ein solides charakterliches Fundament versprochen. Starkem Gegenwind möge man trotzen, sich stets geistige Beweglichkeit erhalten können. Frohgestimmt, authentisch und mutig solle man sein. Eigensinnig und widerstandsfähig bleiben. Und noch dazu altruistisch handeln. Ein Leben lang – dann winke irgendwann die Alterslosigkeit. Sich, moralisch faltenlos, über alle natürlichen Gegebenheiten hinwegzusetzen wird, vom lyrischen Ich, zum erstrebenswerten Zustand schlechthin erklärt. Einem unbarmherzigen biologischen Verlauf soll, indem man Verdienst an Verdienst reiht, ein Schnippchen geschlagen werden. Strophe für Strophe Zuversicht mitsamt vollmundiger Ankündigungen. Mit Kleinigkeiten gibt sich dieser Gratulant ausdrücklich nicht ab. Alle nur denkbaren Tugenden und Glücksvarianten werden von ihm heraufbeschworen.

Wohlgemerkt geht es hier um die Verheißung ewiger Jugend, nicht etwa ewigen Lebens. Nur, die Frage muss erlaubt sein, wer würde schon ein bis ins hohe Alter dermaßen perfektes Dasein führen, wer könnte solch anspruchsvollen Forderungen auch nur ansatzweise gerecht werden? Welche Schicksalsmacht würde einem noch so vorbildlichen Erdenbürger eine derart verschwenderische Fülle von Wohltaten wohl gewähren? Überprüft man die Liste dieser »frommen Wünsche« mit der immergleichen Anfangswendung »May you …«, so sind allerdings die meisten davon für ihren Urheber Bob Dylan unterdessen längst in Erfüllung gegangen oder sogar noch übertroffen worden: »Sprosse für Sprosse«, um seine eigenen Formulierungen aufzugreifen, hat er sich auf der »Leiter zu den Sternen« kletternd empor gearbeitet, und zwar in Windeseile; er hat unverwandt in das Scheinwerferlicht geblickt und sich in dessen Glanz sonnen können; seine Lieder, von denen viele zu Klassikern geworden sind, werden auch weiterhin gesungen, auswendig gelernt, bewundert und gecovert. In der Tat hat Dylan Courage und Ausdauer unter Beweis gestellt, und er wird aufgrund all dieser Leistungen sowie einer nahezu beängstigenden künstlerischen Hartnäckigkeit und Beständigkeit von seinen Fans, zur Belohnung, seit einer gefühlten Ewigkeit als »His Bobness«, als ein Magier oder auch Auserwählter verehrt.

Ihn umgab, ob beabsichtigt oder nicht, fast von Anbeginn eine Aura von Heiligkeit, ihm wird von selbsternannten Kennern gehuldigt wie sonst nur einem Guru. Dabei hat Dylan es gerade ihnen, seinen Anhängern, Kritikern, treuen Plattenkäufern, Konzertbesuchern und Jüngern, nie leicht gemacht. Hat sie stattdessen regelmäßig vor den Kopf gestoßen und systematisch Erwartungen enttäuscht. Und immer dann einen Haken geschlagen, wenn zu befürchten stand, dass seine Adepten ihm dicht auf den Fersen waren oder ihn vereinnahmen wollten, wenn er spürte, dass man versuchte, ihn festzulegen, wenn Stagnation drohte oder die Gefahr, sich womöglich aus einer einengenden stilistischen oder ideologischen Schublade nicht mehr befreien zu können. Die Gefolgschaft wurde ihm deshalb nicht versagt; am Denkmal, das ihm bereits seine Zeitgenossen errichtet hatten, wurde bislang nicht gekratzt – ganz im Gegenteil: Je mehr sich Dylan, ein ehemaliger Kleinstädter mit osteuropäisch-jüdischen Wurzeln, jeglicher Zugehörigkeitssehnsucht entzog, je mehr er sich zu einem »Mann hinter den Masken« stilisierte, sich als »lonesome hero«, als »Fremder« oder »Jokerman« gerierte, desto attraktiver erschienen seine Musik und seine Lyrik, desto faszinierender wirkten sein changierendes Image und seine mal lapidaren, mal virtuosen, mal poetischen oder auch geheimnisvollen Botschaften. Zuweilen komplex, ja kompliziert und vor allem immer vage genug, um mehrere Lesarten zuzulassen. Diese »messages« aus Dylans unzähligen Songtexten herauszufiltern und zu interpretieren, sie gegen Fehleinschätzungen in Schutz zu nehmen und als ureigenes literarisches Genre zu behandeln, haben sich Heerscharen von »Dylanologen« zur Lebensaufgabe gemacht: Auf allen Kontinenten wird seit den Tastversuchen von Robert Allen Zimmerman, so sein Geburtsname, in großem Stil Dylan-Exegese betrieben und um Deutungshoheit gerungen. Von 1961 an, als er das heimatliche Minnesota hinter sich ließ, seinen Jugendstätten Duluth und Hibbing Goodbye sagte und als ehrgeiziger Youngster im New Yorker Greenwich Village Fuß fasste, bis auf den heutigen Tag.

Dieser ins Extreme gesteigerte Forschungsfuror auf Seiten der Fürsprecher und Experten, einhergehend mit einer regelrecht uferlosen Sekundärliteratur, ist ebenso einzigartig wie Dylans konsequente Verweigerungshaltung und sein konstantes Bemühen um Rätselhaftigkeit. Gekoppelt an seinen ausgeprägten Willen, von Platte zu Platte, von Live-Auftritt zu Live-Auftritt, von Bootleg zu Bootleg ein genuines Songbook, das einzig und allein mit ihm in Verbindung gebracht werden kann, zu erstellen, zu erweitern und von Dekade zu Dekade schließlich zu vervollkommnen. Unverwechselbar und, nur scheinbar paradox, dennoch verlässlich chamäleonhaft und überraschend, gelegentlich selbstironisch und oftmals verstörend. Mit einem solchen Wechselspiel aus Beständigkeit einerseits und Un(an)greifbarkeit, aus glaubwürdig wirkenden Idiosynkrasien, seltsamen Manierismen und aufreizender Selbstreferentialität andererseits verprellte er, offenkundig unbekümmert, etliche potenzielle Gefolgsleute – und verscherzte sich es noch mit den Wohlmeinendsten unter ihnen. Mittlerweile ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Dylans Fähigkeit zu polarisieren, im Laufe seiner zahlreichen, so qualitativ unterschiedlichen Alben und Tourneen, sich tatsächlich zu seiner hervorstechendsten Eigenschaft entwickelt hat.

So hielt man ihn eine Zeit lang fälschlich oder jedenfalls voreilig für das Sprachrohr seiner Generation, hätte ihn gern zur Galionsfigur des Civil Rights Movement, des Pazifismus und der Antivietnamkriegsbewegung auserkoren, talentiert und eloquent genug, einen sozialkritischen und anklägerischen Text nach dem anderen zu verfassen, sich mit seinen frühen, eindringlichen Protestsongs wichtigen gesellschaftlichen Anliegen wie der Überwindung der Rassentrennung, dem Widerstand gegen das Wettrüsten oder der Anprangerung gesellschaftlicher Missstände zu widmen. Dieses Etikett eines engagierten Barden, Urhebers von »finger-pointing songs« und friedensstiftenden Bannerträgers behagte Dylan jedoch keineswegs, und auch die damit verbundene Ausschließlichkeit wie Parteilichkeit war ihm wesensfremd. Ähnlich erging es ihm mit den übertriebenen Erwartungen, mit der ihm die eingefleischten Folk-Puristen der anglophonen Länder begegnet waren: Ihren Träumen machte er im Juli 1965 auf dem Newport Folk Festival ein jähes Ende, als er seine akustische Gitarre kurzerhand gegen eine elektrische eintauschte und mit diesem symbolträchtigen Tabubruch sofort zum »Judas«, also zum Verräter abgestempelt wurde: Es galt, den Part als romantischer Troubadour möglichst rasch wieder abzuschütteln und keinen Monat länger ein Dasein als moralisch einwandfreier »Junge mit der Mundharmonika« zu fristen. Ende der 70er, Anfang der 80er, als er weitere aufregende künstlerische Rollenspiele hinter sich hatte, irritierte er die stattliche Dylan-Fangemeinde mit einer bis dato für unmöglich gehaltenen Kehrtwende dann vollends: mit der Hinwendung zum Christentum, die sich in einer Vielzahl religiöser Lieder und einer Reihe von »bekennerhaften« Alben im Prediger-Ton niederschlug.

Widersprüchlichkeiten, wohin man blickt: Ausgerechnet der schon früh populären Joan Baez, mit der ihn eine kurze Liaison verband und die ihm bei ihren umjubelten Konzerten den roten Teppich ausgelegt hatte, um ihn zu fördern, zu etablieren und den Weg zu ebnen, gab er, im Laufe einer exzessiven Englandtournee 1965, den Laufpass. Und ausgerechnet beim Höhe- und Endpunkt der Sixties, dem legendären Woodstock-Festival im Sommer 1969, das direkt vor seiner Haustür stattfand, war Dylan der große Abwesende. Nur um zwei Jahre später, im August 1971, beim von George Harrison initiierten »Concert for Bangladesh«, einem Vorläufer der Benefizkonzerte in der späteren Live-Aid-Ära, mitzumischen und dort einen denkwürdigen Auftritt hinzulegen. Wer ihn indessen irrtümlicherweise als ausgesprochenen Einzelgänger oder Außenseiter eingeschätzt hatte, wurde dreimal eines Besseren belehrt: bei seiner fruchtbaren Zusammenarbeit mit The Band (Stichworte Big Pink oder Basement Tapes), bei seiner aufsehenerregenden Rolling Thunder Revue, für die er, einem Zirkusdirektor gleich, Kollegen und Literaten um sich scharte und mit ihnen quer durch die Vereinigten Staaten tingelte, und angesichts seiner Beteiligung an der Supergroup Traveling Wilburys, an der Seite von Jeff Lynne, Roy Orbison, Tom Petty und wieder Harrison. Was bewies, dass er sich, wenn er von der künstlerischen Ausrichtung eines Projektes überzeugt war, durchaus auch einordnen und zeitweise integrieren konnte.

In ihrer berühmten Ballade Diamonds and Rust, die man sowohl als nostalgische Liebeserklärung als auch als bitterböse Abrechnung mit dem charismatischen Jüngling werten kann, den sie einst unter ihre Fittiche genommen hatte, bezeichnete Joan Baez »ihren« undankbaren Dylan treffend als »unwashed phenomenon«: In diesem Gegensatzpaar sind wesentliche Merkmale seiner Persönlichkeit, seines Outfits und seines Vortragsstils enthalten – der näselnde, kratzige Gesang, in dem Kantilenen, lang ausgehaltene Töne und dezidiert »schönes« Legato keinen Platz haben (sollen). Das unordentlich-ungehobelte Erscheinungsbild, um das sich der zierliche Provinzler mit dem lockigen Wuschelkopf und der markanten Adlernase nach Kräften bemühte, um als Outcast gelten zu können. Die unversöhnliche, oftmals mürrische Darbietungsform bei seinen Solokonzerten – nicht selten kehrt er seinem enthusiastischen Publikum dabei den Rücken zu, wirkt lustlos, gelangweilt und gereizt, kratzbürstig und alles andere als liebenswürdig.

Und doch handelt es sich bei diesem unzugänglichen schmächtigen Mann, den man an schlechten Tagen mit einer Nervensäge und einem durchschnittlichen Gitarristen verwechseln kann, eben genau um jenen Ausnahmemusiker und -dichter, der allein in den 60ern eine Handvoll maßstabsetzender Alben herausgebracht, der dem Boxer Hurricane Carter eine unvergessliche Hymne zugeeignet, der Jimi Hendrix zu einer spektakulären Version von All Along The Watchtower inspiriert, der mit Johnny Cash duettiert und der mit Meilensteinen wie Blowin' in the Wind und Knocking on Heaven's Door zwei so denkwürdige wie eingängige Jahrhundert-Songs geschaffen hat – Titel, bei denen man das Gefühl nicht los wird, sie seien Volkslieder und im Grunde schon immer dagewesen. Ein Phänomen eben. Über die Zeitläufe hinweg ist Bob Dylan, dessen Namensgebung zu den wildesten Spekulationen Anlass geboten hat, unbeirrbar er selbst geblieben. Gewiss, The Times, They Are a-Changing – allein Dylan bleibt sich treu. Nichts an ihm ist berechenbarer als seine permanente Wandlungsfähigkeit, ja geradezu Wandlungsnotwendigkeit.

Als kreativer Monomane ist Dylan der Erfinder eines Universums, in dem ganz eigene Gesetzmäßigkeiten vorherrschen und dessen Schöpfer sich nicht um »objektive« Qualitätsmaßstäbe oder gültige ästhetische Kriterien zu scheren hat. In ihm muss, von außen betrachtet, nicht unbedingt alles zueinander »passen«. So konnte er es sich etwa erlauben, 1970 mit Self-Portrait ein nahezu karriereschädigendes Album vorzulegen, das meilenweit von Bringing It All Back Home oder Blonde on Blonde entfernt war und mit dem er, das Objekt der Begierde so vieler Bewunderer, dann doch nicht in Ungnade fiel. Ferner konnte sich Dylan 2009 eine bizarre Platte mit Weihnachtsstandards leisten, die bestenfalls gerade noch als schlechter Witz durchging. Oder als Nebenprodukt eines unverbesserlichen Workaholic. Und niemand zwingt uns heutzutage, seine jüngsten Alben, auf denen er sich mit mokantem Unterton an den großen amerikanischen Liedern früherer Generationen abarbeitet, wirklich zu genießen. Wie auf seiner »Never Ending Tour«, bei der er nun schon seit geraumer Zeit Jahr um Jahr überall auf dem Planeten viele Konzerte absolviert, hat er sich offenbar vorgenommen, immerfort weiterzumachen und seine Zuhörer wie sich selbst mit allen möglichen Varianten alter und neuer, bewährter und experimenteller Songs unverdrossen bei Laune zu halten. Wer wie er über eine Bandbreite verfügt, die vom Erbe Woody Guthries über Blues, Folkrock, Gospel und Country bis hin zur Schaffung eigener musikalischer Mythen reicht, wem wie ihm das ganze Spektrum überlieferter Americana zu Gebote steht, der darf sich am Ende seines achten Lebensjahrzehnts getrost auch einmal als Crooner versuchen – aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz.

Dylan hat sich nie damit begnügt, einfach nur Liedermacher zu sein, hat sich nie damit zufriedengegeben, sich von einer Performance zur nächsten zu hangeln. Von seiner auffälligen Mehrfachbegabung machte er als Schauspieler, Filmregisseur, Romancier, Zeichner und Maler daher ausgiebig Gebrauch – eine Retrospektive seines beeindruckenden und erstaunlich umfangreichen bildnerischen Œuvres war 2007 erstmals in den Kunstsammlungen Chemnitz zu sehen. Diese monumentale Ausstellung löste freilich keine Kontroverse, sondern allseitige Begeisterung aus. Weitaus umstrittener war hingegen die Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn. Diese Ehrung wurde ihm im Herbst 2016 zuteil und würdigte vor allem den Poeten Dylan: völlig zu Recht, wenngleich wohl ein halbes Jahrhundert zu spät. Damit hätte man eher den Mittzwanziger auszeichnen sollen.

In seine vielschichtige, doppelbödige Songlyrik ist die Auseinandersetzung mit den großen französischen Dichtern der Moderne, mit dem Surrealismus und den Wortkaskaden der Beat-Autoren eingeflossen, finden sich Spuren afroamerikanischer Literatur, indianischer Epen und biblischer Gleichnisse wieder. Überführt in eine bildhafte Sprache, deren ungeheure Wucht selbst eine erfahrene Rock-Veteranin wie Patti Smith bei der Preisverleihung in Stockholm zu spüren bekam – sie war von der Kraft archaischer Metaphern und der daraus resultierenden musikalischen Sogwirkung bei ihrem Vortrag von Dylans A Hard Rain's a-Gonna Fall, das über weite Strecken einer apokalyptischen Anrufung gleicht, so überwältigt und ergriffen, dass sie ihren Vortrag unterbrechen und noch einmal von vorn beginnen musste.

Typisch Dylan, dass er selbst diese Gala schwänzte und sich von Smith vertreten ließ. Unerhörter Affront oder unangebrachte Schüchternheit? Für eine solche Hommage dieser Größenordnung, die nicht zuletzt seiner Kanonisierung dient, fand er sich vermutlich noch viel zu jung.

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