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Ost- und westdeutsche Identitäten Der andere Stern, dieselbe Atmosphäre

»Die Zeit ist aus den Fugen.« Ein Zitat aus William Shakespeares Hamlet und zugleich der Titel eines Dokumentarfilms von Christoph Rüter über Heiner Müller, das Deutsche Theater, die Inszenierung des Hamlet, gekoppelt mit Müllers Stück Die Hamletmaschine im Sommer und Herbst 1989. »Was du getötet hast, sollst du auch lieben«, heißt es da etwa bei Heiner Müller. Drinnen Theater, draußen Revolution – oder das, was man dafür halten wollte. Die aus den Fugen geratene Zeit im Zeitraffer. Aus »Wir sind das Volk« wurde »Wir sind ein Volk«. Damals ließ sich denken, dass, wer innerhalb so weniger Tage die alte Identität abschütteln und gegen eine neue einzutauschen bereit ist, keine allzu großen Probleme damit haben werde, in einem größeren Bett aufzuwachen und in einem anderen System zu leben. Natürlich war dies ein Irrtum. Wer das eine nicht gewesen ist, würde das andere nicht einfach sein können. Und Volk, dem das Wort Heimat in seiner alten und schrecklichen Bedeutung geradezu in die Hacken tritt, war sowieso eine schwierige Angelegenheit. Trotzdem konnte die Sentimentalisierung all dessen für einige Zeit ein guter Kitt sein.

»Wir sind das Volk« schrieben die einen auf ihre selbstgebastelten Plakate. »Ich bin Volker« malte ein anderer am 4. November auf Pappe, hielt das Schild auf dem Alexanderplatz hoch und stellte damit die Identitätsfrage vom Kopf auf die Füße.

Im kommenden Jahr wird das Museum der bildenden Künste in Leipzig eine Ausstellung mit dem Titel »Point of no return« eröffnen, in der wieder einmal ostdeutsche Kunst gezeigt werden soll. Die ostdeutsche Seele holt man dafür aus den Depots und damit wird, in sicher nicht großem Rahmen, die Diskussion entfacht über Identitäten, deren Enteignung und die Missverständnisse, die damit einhergingen. 30 Jahre nachdem die Mauer verschwand. Bereits die Titel von Ausstellungen dieser Art konstatieren oder provozieren, dass wir uns mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob es Zeitverschwendung oder Erkenntnisgewinn bedeutet, sich mit Ost- und Westidentitäten zu befassen. Im Januar 2018 fand in Dresden eine Ausstellung mit dem Titel »Schnee von gestern« allergrößtes Interesse. Gerade wirkt es, als sei eine kleine Renaissance ausgebrochen. Vielleicht ist dies aber nur unserer Affinität zu Jubiläen geschuldet. Denn ansonsten gibt es über die Frage, ob wir es auch heute noch mit einer ostdeutschen und einer westdeutschen Identität zu tun haben, wenig Diskussion. »Schnee von gestern« könnte eine Ausstellung in einem westlichen Bundesland wahrscheinlich nicht heißen. Das ist einerseits gut, denn die Welt und die Zeit sind wahrlich aus den Fugen und es gäbe so viel zu debattieren und auszuhandeln, dass eine Diskussion, die sich immer auch den Vorwurf der Nabelschau gefallen lassen muss, geradezu luxuriös wirken kann.

Auf der anderen Seite wissen wir, oder glauben zu wissen, dass, wer ein Identitätsproblem hat, nicht solidarisch handeln kann. Und nichts bräuchte die Welt gerade mehr als Solidarität, die sich aus der Erkenntnis nährt, dass dort zugleich hier ist. Dazu bedürfte es nicht einmal der Chaostheorie.

Seit es Pegida und die AfD gibt, steht die Identitätsfrage wieder im Raum. Die Neue Rechte startete ihre Karriere vom Westen aus, wie der Soziologe Wolfgang Engler feststellt, und fasste vor allem im Osten Fuß. Die »Zone der Verwundbarkeit« ist im Osten größer und durchschlagender. An dieser Stelle, wie an vielen anderen Stellen auch, verschleiert die Identitätsdiskussion oft die Debatte über ökonomische Ursachen und Verwerfungen eines außer Rand und Band geratenen Wirtschafts- und Finanzsystems. Und noch mehr verhindert sie die Diskussion darüber, dass wir es bei dem politischen Rechtsruck mit einer europaweit und darüber hinaus um sich greifenden Entwicklung zu tun haben, die sowohl mit den ökonomischen Verhältnissen entfesselter Marktlogik als auch mit dem zunehmenden Verlust politischen Anstands einhergehend, mit dem Verlust des Primats der Politik zu tun hat.

Und doch lässt sich, kehrt man zurück nach Deutschland, die Identitätsfrage nicht ignorieren. Zehn Jahre nach dem Mauerfall hielt laut einer Umfrage nur ein Fünftel der Ostdeutschen die Demokratie westdeutscher Prägung für die beste aller Staatsformen. Linear gedacht müssten es jetzt drei Fünftel sein, also eine Mehrheit. Aber so funktioniert es in der Realität nicht. Engler beschrieb es 1999 in seinem Buch Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land am Beispiel der ambivalenten Bedeutung, die der Begriff Gleichheit in der DDR und später für die Ostdeutschen hatte: »Denn die Gleichen an sich sind friedfertig, mit sich selbst beschäftigt und äußerst vorsichtig. (…) Sie dulden sogar Unrecht und Bedrückung, wenn sie fürchten müssen, dass Recht und Freiheit anderen nützlicher sein könnten, als ihnen selbst.« Sie könnten sich mit der Tyrannis, die alle vor Armut schützt, unter Umständen leichter abfinden, als mit einer Demokratie, die nichts und niemanden verbindet.

Soziale Spaltung ist denn auch das Thema des Jahrhunderts. Sie bewirkt neben allen großen Verwerfungen und Abspaltungen, dass, nachdem die kulturelle Transformation des Selbst gescheitert scheint, der Begriff Heimat wieder aufgeladen wird und sowohl der Abgrenzung als auch der Selbstvergewisserung dient, nicht aber der Gelassenheit und Offenheit. Die Linke, im weitest möglichen Sinne gedacht, hat sich dieser Diskussion bislang nicht gestellt. Sie scheut den Heimatbegriff immer noch weitestgehend wie der Teufel das Weihwasser, auch wenn ihr klar ist, dass ein Begriff wie Region nicht taugt, um zugleich über ökonomische, soziale und emotionale Verhältnisse zu reden. Region ist immer nur Gegend. Heimat hingegen kann zu allem mutieren und Leerstellen füllen, wenn es an anderem Sinn mangelt.

Wenn man heute über ostdeutsche und westdeutsche Identität nachdenkt, nimmt der Begriff Gleichheit einen zentralen Raum ein. Die Einforderung von, die Sehnsucht nach, die Bereitschaft, für Gleichheit einen hohen Preis zu zahlen bzw. andere zahlen zu lassen. Die Politik gibt dies zu und verbrämt es zugleich, indem Begriffe wie Rentenanpassung oder Angleichung der Lebensverhältnisse in den Raum gestellt werden, die eine noch immer vorhandene Ungleichheit ins Positive zu wenden versuchen. Eine 30 Jahre währende Festlegung, wo die einen stehen und wer die anderen zu sein haben.

Wenn wir also von Identitäten Ost und West reden, muss auch über Habitus gesprochen werden. Es ist nicht leicht, von sich selbst loszukommen, leichter ist, mit sich eins zu sein. Scham oder das Gefühl, beschämt zu werden, verhindern dies jedoch. Vor allem aber verhindern sie eine Wiederaneignung der eigenen Vergangenheit jenseits von Nostalgie. Man kann sich – auch wenn es reine Theorie ist – die Frage stellen, wie es wohl gewesen wäre oder sein könnte, hätten die Ostdeutschen und die Westdeutschen die Identität des jeweils anderen als einen Zugewinn betrachtet. Daraus ließe sich wahrscheinlich eine Gesellschaft konstruieren, die in der Lage ist, ihre Probleme tatsächlich miteinander zu verhandeln. Stattdessen aber benutzt sie Probleme dazu, Scheingefechte zu führen, die sich aus weiterhin virulenten Ressentiments und tatsächlich vorhandenen Unterschieden nähren.

Nicht vernachlässigt werden darf dabei, dass die Unterschiede, was die Stärke und die Deutungsmacht dieser Ressentiments auf beiden Seiten anbelangt, zwischen dem städtischen Raum und der ländlichen Gegend groß sind. Und ebenso wenig kann außer Acht gelassen werden, dass Verwerfungen in der Vertikale, die gemeinhin in die Formel »Die da oben, wir hier unten« gepackt werden, eine produktive Auseinandersetzung in der Horizontale unmöglich machen. Das unbegreifliche Jetzt braucht Verlässlichkeiten, um erträglich zu bleiben. Und was ist verlässlicher, als ein festes, wackeres Vorurteil? Hier wie dort sollte zudem nicht unterschätzt werden, wie viel Trost sich aus einem Vorurteil, das keiner Beweiskraft mehr bedarf, ziehen lässt.

In den Dörfern – dies kann zumindest für die »neuen« Bundesländer konstatiert werden – ist die Herkunftsbeschreibung weiterhin an die Frage gebunden, ob jemand aus dem Osten oder aus dem Westen kommt. Auch bei jenen Generationen, die dem eigentlich kaum noch Bedeutung beimessen dürften. Und trotz der Tatsache, dass sich im landwirtschaftlich und meist monokulturell geprägten ländlichen Raum die kleine Mittelschicht eher aus jenen zusammensetzt, die aus der DDR kommend und bereits dort zur bescheidenen ökonomischen oder politischen Elite gehörend, wussten, wie sich aus einstmals Volks- Privateigentum machen lässt. Es gibt ja trotzdem genügend Geschichten zu erzählen von jenen, die gekommen sind, mit oder ohne Adelstitel, aber mit der Gewissheit im Gepäck, dass im Osten Goldgräberstimmung möglich ist. Auch die eingewanderten »Wessis« gehen in die dritte Generation, aber vergessen, wo sie herkommen, wird dort im Osten noch lange nicht.

Bis heute wird die Suche nach Identitätsbildungen in Ost und West, nach den Unterschieden und vielleicht zunehmenden Gemeinsamkeiten, gern als Befindlichkeitssoziologie abgetan. Dabei ist die Wissenschaft bereits zehn Jahre nach dem Umbruch zu interessanten Schlüssen gekommen – zum Beispiel was die Externalisierung von Problemen, die durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus entstanden, anbelangt.

Der Soziologe Norbert Elias hat bei der figurationstheoretischen Deutung von Außenseitern und Etablierten lange Zeiträume für einen Wandel veranschlagt. Drei Generationen. Wir könnten also mitten in einer Veränderung stecken, was unsere Selbstdeutung und Wahrnehmung des Anderen anbelangt. Die Frage, die sich dabei stellt, ist, in welche Identität dies mündet. Die bizarre und zugleich gefährliche Wiederbelebung eines Heimatbegriffs, der sich aus Abgrenzung und Abschottung gegen die Anderen nährt, die Unfähigkeit der im weitesten Sinne Linken, dem etwas Eigenes, demokratisch und solidarisch Verfasstes entgegenzusetzen, die Wiederbelebung einer deutschen Leitkultur, die verderbliche Zuspitzung ökonomischer und sozialer Ungleichheiten könnten ein Monster gebären. Da wäre mit zwei Identitäten, die trotz vieler Überlappungen noch den einen und anderen Unterschied aufzuweisen haben, besser auszukommen.

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