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© Gedenktafel Bozener Str. 18, Berlin-Schöneberg (OTFW, Berlin)

Der Demokratische Sozialismus Eduard Bernsteins

Eduard Bernstein (1850–1932) wird, sofern er heute im kollektiven Bewusstsein überhaupt noch präsent ist, seit nunmehr rund 120 Jahren zumeist als »Revisionist« des Marxismus wahrgenommen, was bis dato den Beigeschmack des Kritikers, wenn nicht gar des Verräters hat. Er selbst sah sich, nicht zuletzt geprägt durch sein ausgedehntes Zürcher, dann Londoner Exil (1880–1888 bzw. 1888–1901) im Gefolge der Sozialistengesetze als Weiterentwickler des Gedankenguts von Karl Marx und Friedrich Engels; mit letzterem stand er bis zu dessen Tod 1895 in engem Kontakt. Bernstein empfing besonders in England wichtige zivilgesellschaftliche Impulse aus der öffentlichen Diskussion über politische und soziale Reformen, die nicht selten zu Debatten und sogar gesetzgeberischen Initiativen führten. Auch war die englische Arbeiterbewegung, vor allem als Folge der vorangeschrittenen industriellen Entwicklung, in ihren inneren, oft anspruchsvollen Diskursen, besonders in der Fabian Society, deutlich ausdifferenzierter und im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie (zumindest in deren Außendarstellung) weniger auf »gesellschaftliche Umwälzung« schlechthin ausgerichtet, vielmehr auf graduelle Veränderungen und konkrete Reformen bedacht. Zudem waren der – bereits verstorbene – Karl Marx und der – betagte – Friedrich Engels in London nicht die nahezu unangreifbaren theoretischen Überväter, die zu kritisieren in Berlin als Sünde des Revisionismus, ohne jede inhaltliche Prüfung der Argumente aufgefasst wurde.

Bernstein erkannte dagegen schon aus seinem Londoner Exil deutlich die Divergenz zwischen dem revolutionär-orthodoxen Duktus der programmatischen Erklärungen der Partei und einem ausgeprägt pragmatischen Verhalten der Fraktion im Reichstag, aber auch der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften, als eine Kluft, die durch Verbalradikalismus und durch allgemein anerkannte Integrationsgestalten wie August Bebel nur notdürftig zu verdecken, aber nicht mehr inhaltlich zu überbrücken war. Ob diese ambivalente Situation mit den Schlagworten »negative Integration und revolutionärer Attentismus« gut benannt ist, wie Dieter Groh 1974 meinte, kann hier offenbleiben. Jedenfalls erschien die offene Austragung der unterschiedlichen Positionen auf Parteitagen, wie sie Bernstein noch von London aus erhoffte, im »Reich« spätestens seit der Jahrhundertwende als existenzgefährdend. Darum hatte der »Revisionismus« keine Aussicht auf Parteitagsmehrheiten, und Eduard Bernstein selbst blieb nach seiner Rückkehr nach Deutschland der Ausschluss aus der SPD wohl nur deshalb erspart, weil er seinerseits mit dem Risiko einer Parteispaltung verbunden gewesen wäre.

Bernstein wurde also in seiner Heimat kaum als Überbringer einer wichtigen Botschaft betrachtet, sondern vor allem an der Spitze der Partei, weithin als unnützer Unruhestifter. Er stellte die zuvor herrschende Textegese von Marx und Engels infrage, indem er nach der logischen und empirischen Stimmigkeit überkommener Dogmen fragte, die er so zu Argumenten und damit kritischer Überprüfung prinzipiell zugänglich machte. Es ist deswegen konsequent, dass der vorliegende Band »Die erkenntnistheoretische Dimension des Bernsteinschen Revisionismus« an den Anfang stellt, einen Auszug aus Helga Grebings 1977 erschienener Studie Der Revisionismus. Von Bernstein bis zum »Prager Frühling«, der einen Einblick in seine erkenntniskritischen und wissenschaftstheoretischen Positionen gibt und zeigt, dass Bernsteins »Eklektizismus« nicht a-theoretischem Geschmäcklertum entspringt, sondern einer Offenheit der politischen argumentativen Auseinandersetzung, die man damals zumal im deutschen Sprachraum kaum gewohnt war.

Bernstein überzeugt nämlich vor allem durch die Ernsthaftigkeit seiner ethischen Grundhaltung, auf deren Hintergrund erst scheinbare tagespolitische Anpassungen als normativ begründete, aber konsequente Entscheidungen verständlich werden, wie sein Wechsel 1917 von der – aus seiner Sicht »kriegsgeneigten« – SPD zur USPD, und seine Rückkehr zur SPD 1919, nachdem der Krieg zu Ende gegangen und die USPD immer stärker unter bolschewistischen Einfluss geraten war, zeigen. Seine frühe Relativierung des historischen Materialismus: »Die rein ökonomischen Ursachen schaffen zunächst nur die Anlage zur Aufnahme bestimmter Ideen, wie aber diese dann aufkommen und sich ausbreiten und welche Form sie annehmen, hängt von der Mitwirkung einer ganzen Reihe von Einflüssen ab« zeigt eine überraschende Nähe zu einer inhaltlich klareren Feststellung von Max Weber in der Einleitung zu Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen: »Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber die ›Weltbilder‹, welche durch die ›Ideen‹ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.«

Thomas Meyer, ein seit Jahrzehnten engagierter politischer und akademischer Verfechter der »sozialen Demokratie«, prüft sodann »Bernsteins Theorie aus aktueller Sicht« und sieht eine wichtige Aufgabe des heutigen Revisionismus darin, das Scheitern des »Neo-Liberalismus« – der in diesem Band leider nicht systematisch vom »Ordo-Liberalismus« abgegrenzt wird – deutlich zu machen und das für ein paar Jahrzehnte unterbrochene »Projekt der sozialen Demokratie« mit dem zentralen Grundwert der Gleichheit entschlossen fortzusetzen. Revisionismus, so betonen er und andere Autoren, heißt nicht Leisetreterei und fauler Kompromiss, sondern eine langfristig angelegte Strategie gesellschaftlicher Gestaltung. Das berührt sich wieder indirekt mit den Vorstellungen der für Bernstein wichtigen »Fabier« 130 Jahre zuvor in England. In der anschließenden Gegenüberstellung von Bernstein und Rosa Luxemburg durch den Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber zeigt sich deutlich das unzweideutige und konsequente Eintreten des Erstgenannten für Demokratie und Freiheit, das sich in dieser Klarheit trotz gelegentlicher Kritik an Lenins Politik bei seiner Kontrahentin nicht findet.

Bernstein musste aufgrund der finanziell beengten Familiensituation – er war das siebte von 15 Kindern, der Vater ein bescheiden entlohnter Lokomotivführer jüdischen Glaubens – die Schule mit mittlerer Reife verlassen und erwarb sich seine vielfältigen historischen und gesellschaftswissenschaftlichen Kenntnisse und seine publizistisch-politischen Fertigkeiten vor allem als Autodidakt und als verantwortlicher Redakteur der zunächst in Zürich, dann in London erscheinenden Zeitschrift Der Sozialdemokrat; ihr Erscheinen im Ausland war eine erfolgreiche Umgehung der bismarckschen »Sozialistengesetze«, die Bernstein aber einer gezielten Verfolgung durch Preußen aussetzte und dazu führte, dass der gegen ihn ausgestellte Haftbefehl erst 1901 aufgehoben wurde, elf Jahre nach dem Ende der gegen die SPD gerichteten Ausnahmegesetze. Bernsteins beachtenswerten historischen Arbeiten (Klaus Leesch) kommen hier ebenso zur Sprache wie sein Eintreten für eine internationale Arbeiterbewegung und die Völkerverständigung im Rahmen des Völkerbundes, die über die traditionelle Vertretung von Staatsinteressen hinausgehen und auf Völkerinteressen ausgerichtet sein musste (Holger Czitrich-Stahl). Die sozialdemokratische Einigungsbewegung 1918/1919 verdankt Bernstein gleichfalls wichtige Impulse, wie Detlef Lehnert zeigt.

Bedeutung für Erneuerung »links der Mitte«

Diesem ersten Teil über die Grundzüge von Bernsteins Denken und sein Wirken schließt sich Teil 2 an, der unter dem Titel »Bernstein reloaded« nach dessen Bedeutung für eine gegenwärtige Erneuerung »links der Mitte« fragt. Hier zeigen sich viele interessante, teils unerwartete Anregungen für die langfristige Ausrichtung der SPD als, wie ich sie nennen möchte, »linke Volkspartei«, etwa die Orientierung einer realitätsbezogenen Politik an Idealen, welche die Philosophin Susan Neiman bei Bernstein findet und gegen eine eher selbstwidersprüchliche »realistische Utopie« stellt. Der 3. Teil schließlich fragt nach »Transformation und Zukunftsfähigkeit« und damit auch nach dem Thema »Nachhaltigkeit«, insbesondere Klimastabilität, das derzeit die Grünen monopolisiert zu haben scheinen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war diese Diskussion noch in den ersten Anfängen, und Bernstein ist hier eher mit dem methodischen Prinzip der kritischen Überprüfung als mit zeitbedingten Einstellungen zu einzelnen Fragen, etwa zu Kolonien, anschlussfähig, vielleicht auch weiterführend. Die Herausgeber äußern sogar die Hoffnung, »die Beschäftigung mit dem großen Brückenbauer aus der Vergangenheit [könnte] auch heute helfen, dass sich Sozialdemokraten, Grüne und Linke aufeinander zu bewegen«.

Insgesamt ist der Band sehr anregend und tatsächlich auch insofern aktuell, als er zwar intensiv an diesen Klassiker der Sozialdemokratie erinnert, aber keine historisierende »Meistererzählung« aufbaut, sondern im historisch Geschehenen immer wieder nach Gegenwart und Zukunft der (Sozial-)Demokratie in Deutschland und Europa fragt. Bernsteins Verständnis ökonomischer Zusammenhänge war mehr durch umfassende Alltagserfahrung als durch akademische Lektüre geprägt, und das spiegelt sich auch in seinem zumindest verbalen Festhalten an marxistischen Planungsvorstellungen bis zu seinem Tode wider. Diese Unterbelichtung des Wirtschaftlichen findet sich, wenn auch in anderer Form, auch in diesem Band wieder: Grundfragen der (Markt-)Wirtschaft, wie die konzeptionelle Unterscheidung von Ordo- und Neoliberalismus und deren unterschiedlichen Vorstellungen von Wirtschaftspolitik, werden allenfalls am Rande angesprochen, obwohl sie für die Zukunft eines »demokratischen Sozialismus« von entscheidender Bedeutung sind. Der wohl einzige prominente Sozialdemokrat, der 1959 an Bernstein als einen der (indirekten) Väter des Godesberger Programms erinnerte, war Carlo Schmid, ein Vertreter der für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg charakteristischen Großvätergeneration in der deutschen Politik. Schmids ökonomische Vorstellungen waren aber noch durch den Streit von historischer und theoretischer Schule der Nationalökonomie und durch Integrationsgestalten wie Eugen von Philippovich aus der Zeit der vorvergangenen Jahrhundertwende geprägt.

Das erst spät erwachende Interesse der SPD an »Sozialer Marktwirtschaft« speiste sich jedenfalls nicht aus einer zeitnahen Befassung mit den großen ordnungspolitischen Kontroversen und Erfahrungen der 30er, 40er und frühen 50er Jahre, sondern vor allem aus der Stimmenkonkurrenz mit CDU und FDP, denen man dieses »Erfolgsmodell« nicht allein überlassen wollte (und durfte). Man wollte an dem allgemein als »Wirtschaftswunder« empfundenen Aufschwung auch programmatisch und politisch teilhaben, ohne sich allzu sehr auf komplizierte Detailfragen der Ordnungspolitik einzulassen. Stattdessen beschränkte man sich lieber auf auslegungsfähige Generalformeln wie »So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig«. Heute wird aber eine gründliche Befassung mit grundlegenden – teils neuen, teils überkommenen – gesellschaftlichen, aber vor allem wirtschaftlichen Fragen im Detail und weit über Bernstein hinaus unabdingbar sein, will man wieder zu einer stimmigen Reformpolitik gelangen, die sachliche Erfordernisse sinnvoll mit sozialdemokratischen Idealen verbindet. Nur eine solche Politik kann dann auch wirklich zukunftsgestaltend sein.

Horst Heimann/Hendrik Küpper/Klaus-Jürgen Scherer (Hg.): Geistige Erneuerung links der Mitte. Der Demokratische Sozialismus Eduard Bernsteins (Schriftenreihe der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus, Bd. 31). Schüren, Marburg 2020, 342 S., 25 €.

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