Martin Walser war immer umstritten – mal wurde er dem linken, mal dem deutschnationalen Spektrum zugeordnet. Seine Helden im Roman erzählen aber immer nur wieder die Geschichte der Subjektivität als Tragikkomödie. Und für alle steht der zentrale Walser-Satz: Nie hat er an der Grundgewissheit gezweifelt, „dass nur der etwas zu sagen hat, dem etwas fehlt“. Daraus erwuchs der Reichtum seines Werks, das sich behauptet auch gegen etliche Niederlagen und schärfste Verrisse. Im Unterschied zu Heinrich Böll oder Günter Grass, den beiden Nobelpreisträgern, wäre freilich auch niemand auf den Gedanken gekommen, Walser das Etikett eines nationalen moralischen Gewissens anzukleben.
Heimat ist das, was man nicht mehr hat
Heimat und ihr Verlust ist das große Thema dieses Schriftstellers, der sein Leben lang in der Bodenseeregion lebte – die letzten Jahrzehnte in Nussdorf/Überlingen unmittelbar am Wasser. Viele seiner Romanhelden stammen aus dieser Gegend und haben hier ihr „Unglücksglück“ erlebt – wie Walser das nannte – und wie er es in seinem autobiographischen Werk Ein springender Brunnen beschrieben hat. „Die strengste Auslegung dieses Wortes ist für mich, dass Heimat eine Zeit ist. Ich sage, Heimat ist das, was man nicht mehr hat.“ Wenn man sich aus den Gegenden und den Häusern der Kindheit entfernt, dann existiert diese Heimat nur noch im Kopf oder in der Seele. In Wasserburg, wo er 1927 geboren wurde, erfuhr er als Elfjähriger zum ersten Mal Existenzängste, und er lernte, dass man sich von einer Mutter nie mehr befreien kann“.
Romane als Geschichtsschreibung des Alltags
Walser, „aufgewachsen in einer süddeutsch-katholisch-kleinbürgerlichen Deformationstradition“, gehörte noch zur Flakhelfergeneration, promovierte nach dem Studium von Germanistik und Philosophie über Kafka, ging zum Rundfunk und veröffentlichte 1957 seinen ersten Roman – Ehen in Philippsburg. Damals verwahrte er sich dagegen, „immerzu seinen eigenen Nabel mit Weltschmerz zu garnieren“ und sprach noch zwanzig Jahre später von der „Ichsucht, der lebenslänglichen Kinderkrankheit der Intellektuellen“. Die hatte er mit Heinrich Böll, Günter Grass und Uwe Johnson aus nächster Nähe in der „Gruppe 47“ erlebt. Und er setzte dagegen seine „Angestelltenbücher“, diese „Romane als Geschichtsschreibung des Alltags“, mit ihren Helden als „Entblößungs-Verbergungsmöglichkeiten“. In seinem „Vormittag eines Schriftstellers“(1994) schrieb er: „Das Kind, das eine Puppe in der Hand hat, kann dadurch Sätze sagen, die es ohne Puppe nicht sagen könnte. Durch die Puppe hat es Sprache, Mut, Lust. Die Figur des Autors ist eine Puppe, mit der er Erfahrenes umwerten kann.“ Der Kopfabenteurer Walser wurde nicht müde, in diesen Büchern das Alltägliche und das Ungewöhnliche wirksam zu mischen. Es waren „epische Vorhaben“, die für ihn zur „Geschichte der meisten Leute“ zusammenwuchsen, wie er 1975 in einem Brief an Jury Trifonow schrieb. Seine Helden erzählen noch einmal von der Geschichte der Subjektivität, fixiert auf die Beschädigungen, die als Folge des allgemeinen Machtmissbrauchs in der Gesellschaft auftreten.Ob sie nun Xaver Zürn (Seelenarbeit) oder Gottlieb Zürn (Schwanenhaus) heißen, ob Stefan Fink oder Alfred Dorn (Verteidigung der Kindheit) – was sie verbindet ist ihre „Leidenstemperatur“. Der Studienrat Halm im Fliehenden Pferd oder Heinz Murg, der DKP-Kandidat aus Jenseits der Liebe – auch sie Schmerzensmänner, die Walsers Hohelied des Mangels als traurige Ritter im Wohlstandsmüll ihrer Schwermut singen.
Grübler und Sprachgenie
Es sind die komplexen und komplizierten Gedanken Walsers, sein ungehemmtes dialektisches Fragen nach den Entfremdungs- und Verkrüppelungs-Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft in der alten Bundesrepublik. Ihnen nachzugehen und zu erkennen, mit welcher Brillanz und Gestaltungskraft der Autor vorging, das war ein Abenteuer für sich, das keinerlei Entsprechung hatte. Einhorn und Halbzeit, schließlich der Sturz des Anselm Kristlein - von Buch zu Buch steigerte sich Walser in ein Grüblertum, das sich auch in Essays, Dramen und Novellen ausbreitete. Der Kritiker Friedrich Sieburg urteilte damals: „Es ist schrecklich, diese neunhundert erfrorenen, vor Leblosigkeit raschelnden Seiten durchpflügen zu müssen, um zu erkennen, dass dieser Mann ein Genie der deutschen Sprache ist.“
In Jenseits der Liebe heißt es über die Hauptfigur Franz Horn: “Er hatte das Gefühl, er sei ausgerutscht und könne sich nirgends mehr festhalten.“ Genau dieses Lebensgefühl schien Walser von Jugend an begleitet zu haben. Denn die Reihe der Leidensrekordhalter bei Walser lässt sich mühelos fortsetzen, etwa mit seiner berühmten Erzählfigur Josef Georg Gallistl aus den frühen Siebziger Jahren (Die Gallistische Krankheit) Gallistl sagt von sich: „Ich bin überfordert, das ist klar.“ Alle sind sie überfordert von den Beschwernissen des Alltags, dem Druck der Wirklichkeit. Nachts erscheint ihnen ihr Chef im Alptraum, während sie wissen, dass der Chef keinen Gedanken an sie verschwendet. „Es wird einmal…“ diese optimistische Sentenz als eine dem Sozialismus eigene Formel hat in dieser Seelenarbeit keinen Platz. Walsers Empfindungsgenauigkeit ließ ohnehin eindeutige Bekenntnisse nicht zu. „Alles hat jetzt eine Tendenz, unheilbar zu werden,“ heißt es in seinem Roman Brandung, in dem er auch Erfahrungen aus seiner Gastdozentur in den USA verarbeitete.
„Wer nachdenkt, ist schon verloren,“ hieß es in Ehen in Philippsburg. Damals wurde Walser dem linken Spektrum zugeordnet. Er protestierte gegen den Vietnam-Krieg, machte Wahlkampf für die Sozialdemokraten, engagierte sich in der Gewerkschaft – und entdeckte früher als andere – das Thema „Die Deutschen und ihre Nation“. Auch das trug ihm heftige Kritik ein. In seinem berühmten Vortrag vor der Hanns-Seidel-Stiftung in München - „Reden über dieses Land“ - unterstrich er die Verbundenheit mit den Städten und der Kultur der DDR. Als Ausland mochte und konnte er den Honecker-Staat nicht akzeptieren. Walsers Kritiker nahmen übel. „Dumpfdeutsche Fieberphantasien“ entdeckten sie in seinem Roman Finks Krieg, einem Buch über die Machenschaften innerhalb der hessischen Ministerialbürokratie. Das literarische Element, die eigentliche Leistung des Schriftstellers interessierte nicht. Walser, den viele über Jahrzehnte als bedeutenden Chronisten der bundesdeutschen Gesellschaft gefeiert hatten, reagierte verbittert. Links – rechts: mit diesen Platzanweisungen wollte er nichts mehr zu tun haben. Jetzt ähnelte er zunehmend seinen Erzählfiguren, ihrem tragischen Herumstochern in der Wirklichkeit. „Ich will nicht so sein, wie ich bin…“
Walser litt unter dem Medien- und Meinungsgetöse, das ihm je nach Gusto Platzverweise aller Art einbrachte. Auf diese Weise erfuhr er den Alltag „als Kampf und Abenteuer“. Zugleich die Erfahrung des Alterns, aber vor allem die Erfahrung der Scham. Sprache komme allein von dem, was weh tue, was einem fehle, vom Mangel.
Wenn ich bei meiner Sprache geblieben bin, dann war das eben notwendig.
Als er 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, empörte sich die halbe Republik über seine Rede in der Frankfurter Paulskirche, in der er die Banalisierung der so genannten deutschen Vergangenheitsbewältigung kritisierte. Viele warfen ihm vor, dem Thema Auschwitz nicht mit der gebotenen Betroffenheit zu begegnen. Dabei hatte er sich schon sehr früh in den fünfziger Jahren zur deutschen Schuld bekannt. 1965 versuchte er im Essay Unser Auschwitz eine gültige, sprachgenaue „Entsprechung“ für die Dimensionen deutscher Verbrechen zu formulieren. Aber seine Kritiker wollten all dies nicht zur Kenntnis nehmen. Walser ging es auch in dieser Debatte um die Haltung der Medien in Deutschland. Er hatte von seiner Rede nichts zurückzunehmen: „Wenn ich bei meiner Sprache geblieben bin, dann war das eben notwendig.“ Dass er die Instrumentalisierung von Auschwitz als „Moralkeule“ anprangerte, brachte ihm den Vorwurf von Marcel Reich-Ranicki ein, Stammtisch-Vorurteile zu bedienen. Walsers Replik – der Schlüsselroman Tod eines Kritikers – führte die Kontrahenten in die Manege eines Feuilleton-Zirkus, in der es für beide Opfer dieser Inszenierung keinen Schlussapplaus, sondern nur Buhrufe gab.
Suche nach Liebe
„Ich wirke nicht günstig auf mich“, sagt sich Meßmer in seinen „Gedanken“, jener Erzählcollage, mit der sich Walser zugleich entblößt und verbirgt. “Ich möchte, dass die Abenteuer in Prosa stattfinden, nicht in Handlungen“. So legte er in seinem Goetheroman Ein liebender Mann dem Weimarer „Leidenschaftsdarsteller“ die Worte in den Mund: „Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren oder in mir entstanden.“ Goethes Entsagung im Alter gegenüber der gerade mal 18jährigen Ulrike von Levetzow ist aus Walsers Sicht Entbehrung, nicht versöhnlich lächelnder Verzicht. Wie Martin Walser im Alter die Liebe literarisch zu inszenieren verstand – in Der Lebenslauf der Liebe, Jenseits der Liebe oder in Angstblüte – zeigt den Autor als Lustwandler seiner ureigenen Ausdruckswelt. Glaube, Liebe, Hoffnung - drei zentrale Themen im Walsers Kosmos, diesem einzigartigen „Einbildungsgebäude“. Das Ringen um Anerkennung, das Bedürfnis nach Glauben, die Freude am Widerspruch, alles präsentiert in „Tanzschritten der Dialektik“, in der Überzeugung, dass nichts ohne sein Gegenteil wahr ist. Da erfindet er eine Liebeskorrespondenz zwischen einer Theologin und einem Schriftsteller (Das 13. Kapitel), konfrontiert Friedrich Nietzsche mit Karl Barth (Über Rechtfertigung. Eine Versuchung), lässt sich von Kierkegaard sein „Jenseits“ beglaubigen oder in dem Roman Muttersohn auf eine gedankenreiche Auseinandersetzung mit den Grundlagen unserer Existenz ein. Walsers Schreiben – seine Liebes- und Identitätsprobleme – ist ein Werk vom Mangel, von fehlender Zugehörigkeit – und von dem Wunsch, sich nicht ständig rechtfertigen zu müssen. Seine Suche nach Liebe, so ernsthaft wie witzig vorgetragen, hat ihm eine Publikumsresonanz beschert, die einzigartig ist. Auf die Frage, ob er an Gott glaube, hat Walser geantwortet: Er wisse nicht, ob es diesen Gott überhaupt gebe, aber er fehle ihm. Und in einem seiner letzten Werke,dem Lyrikband Sprachlaub, bekannte er: „Ich wehre mich nicht. Ich bin bedacht und will bis zum letzten Abend leben.“
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