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© Foto: picture alliance / imageBROKER | Michael Nitzschke

Die Bedeutung von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz Der doppelte Schleier des Digitalen

John Rawls hat Justitia den Schleier abgenommen, um ihn in seinem berühmten Gedankenexperiment allen Mitgliedern einer künftigen Gesellschaft anzulegen, die hinter dem Schleier des Nicht-Wissens über ihre eigene Position in der Gesellschaft die Regeln für diese Gesellschaft beschließen sollen. Rawls hat damit ein wirkmächtiges Modell entworfen, das es erlaubt, Regeln für eine gerechte Gesellschaft zu entwickeln. Heute besteht kein Zweifel, dass die Digitalisierung die Gerechtigkeitsfrage neu aufwirft, ja in vielerlei Hinsicht dramatisch verschärft. Wie kann uns John Rawls angesichts der heutigen Herausforderungen inspirieren, die Gerechtigkeitsfrage neu zu beantworten?

Mit seiner Theorie der Gerechtigkeit hat Rawls 1971 die Renaissance politischer Philosophie begründet, die seit der Vorherrschaft des logischen Empirismus unter Metaphysik-, ja unter Sinnlosigkeitsverdacht stand. Er hat in einer Zeit, die durch die Wertfreiheitsdiskussion geprägt war, und die einem einseitigen wissenschaftlich-technischen Verständnis von Rationalität folgte, eine starke politische Philosophie entgegengesetzt, die sich endlich wieder zutraut, mit rationalen Mitteln über normative Fragen zu urteilen. Seit Rawls können wir wieder mit vernünftigen Argumenten über politische Normen sprechen und streiten, ein Verdienst, das man nicht genug würdigen kann. Denn auch heute müssen wir die Machtanmaßung eines einseitigen technologisch-ökonomischen Weltbildes zurückweisen, das glaubt, mit digitaler Technik alle Probleme der Menschen lösen zu können und sie dadurch in Wahrheit verschärft.

Rawls hat der Gerechtigkeit in seiner Theorie eine herausgehobene Rolle zugewiesen. Für ihn ist Gerechtigkeit »die erste Tugend bei sozialen Systemen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen«. Eine starke These, denn aus ihr folgt, dass ebenso wie wissenschaftliche Theorien verworfen werden müssen, wenn sie nicht wahr sind, gesellschaftliche Institutionen oder Gesetze abgeschafft oder abgeändert werden müssen, wenn sie nicht der Gerechtigkeit dienen. Rawls mahnt damit eine nachhaltige politische Vernunft in Zeiten eines rein technologischen und ökonomischen Fortschrittsglaubens an.

Rawls’ Theorie beruht auf zwei Prinzipien. Zum einen dem Freiheitsgrundsatz: Alle haben weitreichende Freiheitsrechte. Damit ist seine Theorie dem Liberalismus zuzurechnen. Das bedeutet, Meinungs-, Rede-, Bewegungs- und Versammlungsfreiheit dürfen durch Forderungen des Gemeinwohls nicht ohne Weiteres eingeschränkt werden, sondern an solche Einschränkungen sind sehr hohe Begründungsvoraussetzungen gebunden. Rawls folgt Immanuel Kant, wenn er gegen den vor 1971 vorherrschenden Utilitarismus argumentiert, dass ein Einzelner nie zum Opfer des Gemeinwohls in Gestalt des »größten Nutzens der größten Zahl« werden darf, weshalb die Freiheitsrechte unbedingt gesichert werden müssen. Doch eine freiheitliche Gesellschaft muss nach Rawls ebenso unbedingt um einen zweiten Grundsatz ergänzt werden: Um Gerechtigkeit. Denn nur sie sichert die Freiheit aller auf Dauer, weil sie eine faire Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen ermöglicht. Unterschiede bei Reichtum und Macht sind nach Rawls grundsätzlich erlaubt, aber nur, wenn

  • davon alle Mitglieder, insbesondere die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft profitieren und
  • Positionen grundsätzlich allen zugänglich sind, wenn sie sich dafür eignen. Das bedeutet, dass Gerechtigkeit in dynamischen offenen Gesellschaften auch und vor allem Chancengerechtigkeit sein muss. Wenn Rawls zentrale These zutrifft, dass Gerechtigkeit die erste Tugend sozialer Systeme ist, müssen wir die Frage, wie Gerechtigkeit in der digitalen Gesellschaft möglich ist, heute neu stellen.

Dazu wollen wir sein Gedankenexperiment vom »Schleier des Nichtwissens« einsetzen, und zwar in zweifacher Weise: Es kann uns zunächst helfen, Antworten auf eine der zentralen Problemstellungen Künstlicher Intelligenz zu finden: die Frage nach der Ethik in der Entwicklung und Nutzung algorithmischer Systeme. Es kann uns aber darüber hinaus helfen, die Frage nach der Zukunft einer freien und demokratischen Ordnung angesichts der Bedrohungen zu beantworten, die von der derzeitigen Machtverschiebung hin zu einem technologisch-ökonomischen Komplex ausgehen.

In unserem Buch Prinzip Mensch, Macht, Freiheit und Demokratie im Zeitalter Künstlicher Intelligenz haben wir einen Vorschlag gemacht, wie sich Rawls’ Gedankenexperiment bei der Entwicklung von »Ethics by Design« für KI-Systeme einsetzen lässt: Alle Programmierer, die an einer KI-Software arbeiten, begeben sich dabei hinter einen virtuellen Vorhang: Sie wissen, dass sie Mitglieder der Gesellschaft sein werden, in der die von ihnen programmierte Software eingesetzt werden soll. Sie wissen aber nicht, in welcher Weise sie von den Folgen ihrer eigenen Programmierung betroffen sein werden. Sie könnten als Arbeitslose, Krankenschwestern, Rentner, Schüler, Manager, Geschäftsleute, Selbstständige, als Behinderte oder nicht Behinderte, Reiche oder Arme, Frauen, Männer oder Diverse, Christen, Juden oder Muslime etc. den Folgen ihrer Software ausgesetzt sein. Den Schleier des Nichtwissens vor der Programmierung anzuwenden könnte helfen, die Programmierer für die Auswirkungen ihrer Programme auf alle Beteiligten zu sensibilisieren und die Algorithmen dadurch sozial verantwortungsvoller und damit gerechter zu gestalten. Die Annahme ist, dass mit der Integration des »Schleiers des Nichtwissens« die Ingenieure einen ethischen Leitfaden zum festen Bestandteil ihrer Programmierung machen würden, der die Gesellschaft als Ganzes und auch deren schwache Mitglieder schützt. Durch die verbindliche Verankerung des Gedankenexperiments bereits in der Entwurfsphase der App kann künftig Ethik von Beginn an in die Entwicklung von Software einfließen. Durch den Schleier des Nichtwissens könnten also »faire Algorithmen« entwickelt werden.

Doch der digitale Schleier vermag noch mehr als eine bessere Gestaltung der Algorithmen zu ermöglichen: John Rawls übertrug sein Gedankenexperiment auf die fiktive vertragliche Begründung einer Gesellschaftsform. Weil die digitale Disruption gewaltige Machtverschiebungen auslöst und die Machtfrage neu stellt, benötigen wir einen erneuerten digitalen Gesellschaftsvertrag, dessen Eckpunkte uns Rawls’ Theorie liefern kann.

Die Theorie der Gerechtigkeit reiht sich ein in die Tradition der Vertragstheorien, die von einem angenommenen Urzustand ausgehen, um ein normatives Gesellschaftsmodell zu entwerfen. Rawls setzt diesen Urzustand bei der hochdifferenzierten modernen Gesellschaft an, die neben beträchtlichem Wohlstand auch eine ungleiche Verteilung der gesellschaftlichen Freiheits-, Güter- und Chancenressourcen zur Folge hat. Diese Ungleichheit ist geeignet, die Übereinkunft aller zu gefährden, wenn sie nicht durch Maßnahmen ausgeglichen wird, die gezielt die Schwachen stärken. Rawls’ Urzustand ist deshalb ein vorgefundener Gesellschaftszustand, der mit der Frage nach einer gerechten Ordnung und einem guten Leben konfrontiert wird. Es ist eine Gesellschaft, in der aufgrund der Vielfalt der Lebensentwürfe und der Wertvorstellungen vom ständigen Streit der Interessen als »Naturzustand« ausgegangen werden muss, der einen Mechanismus erfordert, wie sich die daraus resultierenden Konflikte lösen lassen. Diesen formalen Mechanismus liefert der Schleier des Nichtwissens, weil er eine Legitimation durch ein Verfahren ermöglicht, das Generalisierung ermöglicht und dabei doch die Pluralität von Wertvorstellungen und Lebensentwürfen garantiert.

Heute haben Digitalisierung und Globalisierung gesellschaftliche Ungleichgewichte durch eine zunehmende Asymmetrie des Wissens und der kommunikativen Macht verschärft, die die informationelle Selbstbestimmung untergraben und eine ernste Bedrohung für die Demokratie darstellen. Die Verteilungsfrage ist wesentlich zu einer Frage des Zugangs und der Verfügungsmacht über Daten, die Frage der Chancengerechtigkeit zu einer Frage der Datensouveränität geworden. Eine digitale Gesellschaft erringt nur Souveränität, wenn sie Privatheit sichert und gleichzeitig gemeinwohlorientierte Praktiken definiert, die es erlauben, Daten im Dienst der Allgemeinheit einzusetzen. Digitale Chancengleichheit, das bedeutet heute, gleicher Zugang zu allgemeinen Informationen und höchste Souveränität über persönliche Daten als Voraussetzung von Gerechtigkeit, aber auch Freiheit in der digitalen Gesellschaft.

Digitale Gerechtigkeit für das Zeitalter von Big Data und Künstlicher Intelligenz könnte also in Anlehnung an Rawls folgendermaßen definiert werden: Größtmögliche individuelle Datensouveränität soll verbunden werden mit größtmöglichem Nutzen der Daten für das Allgemeinwohl. Diesen Ausgleich muss eine gerechte digitale Gesellschaft herstellen. Ohne Ansehung der Personen, ohne reiche und mächtige Datenkonzerne gegenüber armen und machtlosen Individuen zu begünstigen. Und sie muss das Ergebnis für alle verbindlich herstellen mit dem scharfen Schwert des Gesetzes, nicht nur auf der Basis freiwilliger Selbstverpflichtungen. Denn die Erfahrung zeigt, dass nur im demokratischen Prozess der Gesetzgebung ein echter Interessenausgleich erfolgt, und dass wir im Übrigen auf die verlässliche Durchsetzung der Regeln, die wir als Gemeinwesen für wichtig halten, nicht verzichten können. Und dies gilt ganz besonders in einer Welt der gewaltigen Machtungleichheit zwischen Bürgern und Digitalkonzernen.

Bei der Frage nach der Gerechtigkeit müssen wir also weiter – wie Rawls – zwischen Verteilungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit unterscheiden. Verteilungsgerechtigkeit bedeutet unter der Voraussetzung der digitalen Datengesellschaft, dass der gesellschaftliche Nutzen von Daten von allen kontrolliert und gesteuert werden muss und nicht wenigen mächtigen Konzernen überlassen werden darf. Verteilungsgerechtigkeit hat aber Datensouveränität zur Voraussetzung, weil nur auf ihrer Basis gerechte und gemeinwohlorientierte Nutzung der Daten ermöglicht wird.

Deshalb muss Chancengleichheit zu digitaler Chancengleichheit werden. Digitale Chancengleichheit bedeutet, dass alle das Recht haben, die eigenen Daten zu schützen, die Grenze zwischen privaten und öffentlichen Daten in einem gesetzlich bestimmten Rahmen selbst festzulegen, dass alle gleichen Zugang zu allgemeinen Informationen haben und ohne Zugangsverzerrungen frei mit allen kommunizieren können. Auch denjenigen, die durch Geburt, Zufall oder Begabung, soziale Herkunft oder schlicht Geografie schlechtere Ausgangsbedingungen bei der persönlichen Entwicklung haben, müssen gerechte Chancen auf eine eigene Entfaltung gesichert eröffnet werden. Digitale Chancengleichheit soll verhindern, dass Macht- und Einkommensgefälle durch Datenmacht zementiert werden und Lebenschancen auf Dauer ungerecht verteilt werden. Nur wenn alle gesetzlich garantierte Rechte zur informationellen Selbstbestimmung haben, können sie ihre Chance auf eigene Lebensentwürfe wahren.

Zudem muss es in der digitalen Datengesellschaft auch eine Beitragsgerechtigkeit geben: Die Beiträge der »Datenspender« zu einem digital organisierten Gemeinwohl müssen anerkannt und angemessen belohnt werden. Und: Eine gerechte digitale Gesellschaft muss eine demokratische digitale Gesellschaft sein. Das bedeutet, die Datennutzung muss strikt grundrechts- und demokratiekonform erfolgen.

Schließlich müssen wir das von Rawls eingeführte Differenzprinzip unter digitalen Bedingungen zur Anwendung bringen: Demnach kann vollkommen gleiche Verteilung der Güter nicht das Ziel einer gerechten Gesellschaft sein. Eine gewisse Ungleichverteilung der Güter muss vielmehr in einer freiheitlichen Gesellschaft in einem bestimmten Maß hingenommen werden. Dieses Maß lässt sich für Rawls durch das Differenzprinzip bestimmen. Es besagt, dass Ungleichheiten dann zulässig sind, wenn »sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen«. Das Differenzprinzip auf das Digitale übertragen bedeutet also, dass die Digitalisierung »den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Nutzen bringen muss«. Damit stellt das Differenzprinzip eine Umkehrung des Winner-takes-all-Prinzips der Plattformökonomie dar.

Ebenso wichtig ist es, das Recht auf individuelle Lebensentwürfe gegen die algorithmische Deduktion von Zukunft zu verteidigen. Die Zukunft ist vielfältig und offen, und das soll sie auch bleiben, für Individuen und Gesellschaft. Wir müssen die Offenheit für eine radikale Neuerfindung des Individuums, für technologische und wirtschaftliche Innovation und politische Gestaltung gegen die Zementierung der Zukunft durch die stochastische Hochrechnung von Daten absichern, die auf zurückliegender Empirik beruhen, wie Künstliche Intelligenz sie vornimmt. Niemals dürfen wir in die Lage kommen, etwa einen politischen Wandel, der demokratisch legitimiert ist, nicht durchführen zu können, weil die Umprogrammierung der betroffenen Systeme der Künstlichen Intelligenz, die immer mehr Staatsaufgaben übernehmen, etwa zu teuer wäre. Bei jeder Anschaffung automatisierter Systeme in Staat und Gesellschaft, ob sie nun KI beinhalten oder nicht, muss der Frage gründlich nachgegangen werden, ob das System ausreichend offen ist, um zukünftigen, unvorhergesehenen und demokratisch gewollten Wandel auch zu vollziehen. Technologie kann helfen, Probleme zu lösen. Unreflektierter Einsatz von Technologie kann aber auch Strukturkonservatismus zementieren.

Algorithmen ermitteln Wahrscheinlichkeiten aufgrund alter Empirik und »optimieren« die Prozesse mit Blick auf die Erreichung von Mittelwerten. Menschliche Entwürfe sind hingegen heuristisch und je nach individueller Erfahrung und Situation perspektivisch und sie sind auch jederzeit für Korrekturen offen. Wenn Politik die Kunst des Möglichen bleiben und nicht zur Ausführung des Wahrscheinlichen degenerieren soll, muss die Offenheit gegenüber der Vielfalt und Fehleranfälligkeit menschlicher Heuristiken erhalten werden. Und auch gegenüber demokratischer Neuorientierung.

Beginnen wir also angesichts der wachsenden Überwältigungsmacht technologisch-ökonomischer Systeme, weniger marktbeherrschender Unternehmen und autokratischer Staaten, die sich der Überwachungs- und Steuerungsmacht digitaler Technologien allein für ihre Profit- und Kontrollinteressen bedienen, die Arbeit an einer Theorie des erneuerten digitalen Gesellschaftsvertrages. Er muss Grundrechte und Demokratie, Nachhaltigkeit und Solidarität in der digitalen Gesellschaft sichern und die praktische Entwicklung von Gesetzgebung in Europa und darüber hinaus im Sinne von Rawls inspirieren. Nehmen wir Rawls ernst im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz und nutzen wir die Fähigkeit menschlichen Denkens, indem wir Rawls’ Theorie des Schleiers des Nicht-Wissens auf die neuen Technologien anwenden. Denn sie selbst können dies nicht und werden es auch nie können.

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