Jede Krise ist anders: Bis vor ein paar Monaten hätten wir alle diese Feststellung mit einem leichten Schmunzeln und viel Schulterzucken aufgenommen. Vielleicht hätten wir noch gedacht: Naja, sollen die Katastrophenschützer doch ordentlich üben. Aber ziemlich plötzlich war sie dann da, die sehr andere Krise. Der Ernstfall, bei Weitem nicht nur gesundheitspolitisch. Schon jetzt mit vielen kleinen Lehrstücken innerhalb des einen großen Lehrstücks.
Das verdammte Virus ist schwer zu verstehen, kaum zu packen, schädigt die meisten der Infizierten offenbar kaum oder gar nicht und bewirkt weltweit doch hunderttausendfach Tod und hundertmillionenfach neues Elend. Katastrophenschutzhandbücher helfen da wenig weiter. Die Öffentlichkeit in Europa ist hin- und hergerissen. Was funktioniert, ist immer wieder das Herdenprinzip, zumal international. Einer legt los, die anderen folgen. Ein Ernstfall im Zickzackmodus. Immer auf Sicht, nur auf Sicht – falls es die denn gerade mal gibt. Ansonsten: tastend, so nennt es der Bundespräsident.
Am Anfang stand nach Wochen blinder Sorglosigkeit das Dominoprinzip. Grenzschließungen, Lockdowns, Verhaltensregeln (Zusatz: »strenge«). Nun also durchregieren, die Stunde des Staates. Kontrolle, das Herzstück jeder Kriseninterventionsstrategie, ist in Zeiten des allgemeinen Vertrauensverlustes ja sowieso längst so etwas wie ein politisches Allzweckziel geworden. Nun also: Wiedergewinnung von Kontrolle, zumindest dem Anschein nach. Die Harten waren die Volkshelden.
Dann, Phase zwei, Aufmarsch der Gestrandeten. Soloselbstständige, Eltern, Gastronomen usw. Dem starken Staat dämmerte, dass er sich auf Jahrzehnte neu verschulden muss – und das internationale Abwürgen der Wirtschaft trotzdem so nicht weitergehen konnte. Diese Katastrophe hinter der Katastrophe stand auch nicht in einem der virologischen Krisenhandbücher. Schließlich, drittens, mit der »Öffnungsdiskussionsorgie«, wie es die von Tag zu Tag durchsetzungsschwächere Kanzlerin süßsauer genannt hat, tatsächlich ein Stimmungsumschwung. Neben viel Solidarität jetzt auch viel neues Alle gegen Alle. Zweifel, Verdrängung.
Rückblickend muss man die ersten Maiwochen als eine Art Implosion sehen. Der starke Staat delegierte Verantwortung an die Basis, die Experten vom Robert-Koch-Institut stellten zum Entsetzen der Journalisten ihre Pressebriefings ein. Kein Geringerer als der Kanzleramtschef befand, dass jetzt ein Regelungsumfang gefunden werden müsse, der sich längerfristig durchhalten lasse und nicht immer gleich das ganze Land lahm lege. Was bedeutet: In den Dominozeiten, beim medienbejubelten Schulterschluss zwischen Politik und Virologen, hatten alle wohl noch ziemlich kurz gedacht.
Wenn man die Abläufe dieses denkwürdigen Frühjahrs nun sortiert, stellen sich viele Fragen. Nicht rechthaberische, sondern Lernfragen. Niemand konnte die Abläufe vorher durchdenken, Schlimmeres war zu befürchten, das Ende ist bis heute ungewiss. Alles in allem hat vieles gut und manches hervorragend funktioniert, die innergesellschaftliche Solidaritätsbereitschaft inbegriffen. Zumal Krisen immer Erkenntnisse mit sich bringen: durch prägende Erfahrungen, im Großen wie im Kleinen. Zum Großen zählt das Verhältnis zwischen Entscheidern und Experten. Die positive Seite: Politik hat durch den Schulterschluss mit ihnen plötzlich ein hohes Maß an Rationalität ausgestrahlt. Der Pferdefuß: Irgendwann wurde auch in diesem Fall klar, wie theoretisch und eng gedacht das Wissen von Experten meist ist. Und wie komplex und zweischneidig im Vergleich dazu die gesellschaftliche Dimension all der rein klinischen Sichtweisen auf die Pandemie.
Man muss da nicht nur an das einsame Sterben im Intensivbett und an hunderttausende zwangsisolierte alte Menschen denken, die der Bundestagspräsident mit seinem wichtigen Hinweis auf die Bedeutung der Menschenwürde gegenüber dem Gesundheitsschutz vor allem im Sinn hatte. Es gibt Weiteres, früher hätte man sofort gesagt: ziemlich Konservatives bis Reaktionäres, das plötzlich als Gesundheitsschutz daherkommt.
Das Zurückwerfen von erlebter Gesellschaftlichkeit auf Familie/Hausstand, anfangs faktisch Protestverbot gegen die ergriffenen Maßnahmen, massive Beschränkung gelebter Mobilität, deutliche Verstärkung sozialer Benachteiligungen bei Jobs und Bildung, das Zurückwerfen kindlicher Sozialisation auf die Kleinfamilie zu Hause, totales Aussetzen gemeinschaftlicher Aktivitäten inklusive Wegbrechen der sie unterstützenden Jobs. Man kann das eine oder andere in dieser Aufzählung schlimm oder weniger schlimm finden. In der Summe ist es gravierend, auf Dauer ändert es die Gesellschaft.
Zu Beginn wurde alles sehr verständnisvoll hingenommen, da war ja der Dominoeffekt: Italien, Österreich, Frankreich, Tschechien, Polen. Das Beispiel Grenzschließungen zeigte, wie sich alle in den Reflex der Nationalisierung flüchteten – und mit welcher gespenstischen Selbstverständlichkeit das breit akzeptiert wurde. Deutschland, in der Mitte Europas, war in dieser Anfangsphase von außen determiniert und reagierte bei seinen Einschränkungen immerhin vergleichsweise maßvoll. Ein milderer Weg wie im geografisch randständigen Schweden hätte schon wegen all dieser Nachbarschaft niemals funktioniert.
Aber wie das mit Experten so ist: Wenn sie erst im Zentrum stehen, gibt es ihrer viele. Gegenmeinungen bei den Virologen, dazu nun Ökonomen, Pädagogen, Familienforscher, Verfassungsjuristen. Auch jenseits der Frage, wie logisch und haltbar die Anfangsregeln blieben (siehe: Dynamik Richtung Mundschutz, stark mediengetrieben), war damit die Uraufgabe des Politischen doch wieder da, der Zwang zur Abwägung. Die Zweifel an Expertise an sich wuchsen wieder. Und die Gesellschaft erlebt nun eine neue innere Spaltung, die zunächst nur rudimentär als politische Polarisierung erscheint: eine zwischen den Ängstlichen und den Wagemutigen, den Zurückgezogenen und den Kümmerern, den Vertrauensbereiten und den Misstrauischen.
Aber von wegen unpolitisch: Es ist für Sozialforscher kein Problem, aus solchen Eigenschaften eine Matrix zu erstellen, auf der am Ende rechte und linke Verschwörungstheoretiker in der gleichen Ecke auftauchen. In der Ecke diametral gegenüber die grundsätzlich gerne Spießbürgerlich-Obrigkeitstreuen, aber mit viel Ausgrenzungsbereitschaft gegen Andersdenkende oder auch nur Fremde, hier: wahrgenommen als böse Virusträger. In der Mitte gab es anfangs viel Folgebereitschaft, später zunehmend Verunsicherung angesichts eines Gesellschaftsstillstands von historischem Ausmaß wegen eines weithin unerforschten Virus, von dem gleichzeitig stets nur weit weniger als 0,1 % der Bevölkerung ansteckend infiziert war.
Schon die Frage, welche Art Rechnungen man moralisch betrachtet aufmachen darf, ob man überhaupt – zum Beispiel – Zahl der Toten, Infiziertenzahl, Wirtschaftsdaten und Arbeitslosenquote gegeneinander abwägen darf, inwiefern Verhaltensregelbruch gemeinschaftsschädlich ist, Leute ihn denunzieren und stigmatisieren dürfen: Es sind Fragestellungen gewesen, wie sie sich im historischen Gedächtnis tatsächlich nur in Kriegszeiten stellten. Keine falsche Parallele – aber es war eben auch ein Ernstfall für die offene Demokratie, allerdings in der offenen Demokratie.
Ein Ernstfall zugleich dafür, wie kundig und unabhängig in solchen Lagen freier Journalismus noch sein kann. Der Intendant des Deutschlandfunks hat dazu angemerkt, es habe ein Notstandsgefühl, aber noch keinen Notstand gegeben – und nie in den vergangenen Jahrzehnten seien sich in dieser Ausgangslage Medien und Bürger näher gewesen. Mit den gleichen Ängsten, Sorgen, Fragen. Das mag stimmen, muss aber nicht beruhigen. Weil freie Medien kritische Mittler sein müssen zwischen System und Lebenswelt: Konnten sie sich überhaupt noch eigenständig ein Bild machen?
Schon in Normalzeiten ist die Übersetzerrolle, wenn es um Fachexpertise geht, schwierig genug geworden. Es gibt heute, soweit Hauptamtlichkeit (angestellt oder frei) gemeint ist, schlicht weniger Journalismus als noch vor Jahrzehnten. Die Erträge vieler Publikumsmedien geben es nicht mehr her. Weniger kontinuierliches Verfolgen einzelner Themen, zumal wissenschaftlich komplexer. Weit weniger journalistische Präsenz in der Fläche.
In Krisensituationen wird eigenständiges Recherchieren und Überprüfen immer doppelt schwer. Medienleute hängen mehr als sonst vom Input der offiziellen Informationspolitik bzw. der Experten ab. Zunächst, als die Politik sich in Sachen Corona ganz auf die Experten berief, wurden die Virologen zu Talkshowstars. Dann kam eine Zeit, in der die öffentlich-rechtlichen Sender jeden Abend mindestens einen Bundesminister nach den Hauptnachrichten ausführlich im Info-Interview hatten. Das Fernsehen war da mit gutem Grund nicht zuerst Forum der Auseinandersetzung, sondern Informationsbühne und Transportmittel, zugleich auch endlich wieder mal Lagerfeuer für fast alle. Ein gerne auch mal eins zu eins funktionierendes Krisenkommunikationsinstrument für die Handelnden; da funktionierte nun die Lehrbuchweisheit durchaus. Ein Medium des Zusammenrückens, dem man aber auch die innere Rollenverunsicherung anmerkte, sobald wieder Protest war.
Als dann zunächst Flecken wie Heinsberg und Tirschenreuth, später Greiz und Coesfeld Infektionsschwerpunkte und somit Referenzorte wurden, war die Ausdünnung des Journalismus mit Händen zu greifen. In der Fläche und fern großer Städte gibt es selten noch souveräne Lokalreporter, kaum mehr gut vernetzte Regionalkorrespondenten. Jetzt kam in vielen Medienhäusern Kurzarbeit und Homeoffice hinzu. Recherchereisen in Zeiten geschlossener Hotels und Gaststätten? Noch möglich, noch gewollt? Bei aller Hochachtung für das, was seriöse Medien seit März – unter den gegebenen Umständen – geleistet haben: Manchmal war das Ergebnis beängstigend oberflächlich, Draufblick statt Einblick.
Das böse Wort vom Verlautbarungsjournalismus trifft nicht ganz, was da passierte. Unversehens sind, zumal international, alle im gleichen Hamsterrad. Milieulobbyismus, wohin man blickt. Wirtschaftsjournalisten verstärken die Alarmglocken der Ökonomen, Bildungsjournalisten beklagen das Vergessen von Kindern und Familien, Sportjournalisten berichten ohne kritische Distanz über die schamlose Geisterspielorgie im Profifußball, Brüsseler Korrespondenten geißeln die anhaltenden Grenzschließungen – und beim Kernthema mahnen die Coronaberichterstatter im Gleichklang mit den Virologen ständig vor zu eiligen Lockerungen.
Alles wie immer, jedoch schlimmer – in dieser Hinsicht. Jedenfalls stimmt besonders da die These, dass Krisen die Schwachpunkte im System besonders rücksichtslos offenlegen. Entscheider, Experten, Journalisten: Alle sind sie nie alleine auf der Welt, stets gibt es da, wenn es gut geht im Zuge überzeugender Argumentation, einen Gefolgschaftsmodus. Selbst in normalen Zeiten. Aber in einer Zeit tastender Krisenbewältigung verstärken und stützen sie, in bester Absicht und besten Willens einander gegenseitig, sowie sowohl großartige als auch gefährliche gesellschaftliche Trends.
Als die Öffnungsdiskussionsorgie ihren Höhepunkt erreicht hatte, verabredeten Kanzlerin und Ministerpräsidenten ihren vordergründig genialen machtpolitischen Ausweg: das Herunterverlagern des Shutdown-Managements auf die Regionen bei gleichzeitiger Neuinfektionsobergrenze. Optimistisch ausgedrückt: fortan viel Kontrolle ohne viel Detailverantwortung. Wieder international im Herdenprinzip, denn ohne Regionalisierung ist Pandemiebekämpfung auf langer Strecke unmöglich. Das Subsidiaritätsprinzip nun also neu erfunden, rein logisch der einzige Ausweg aus zentralstaatlicher Überreaktion.
Denn als das hatte sich die Virologenstrategie letztlich erwiesen, erfolgshalber. Die deutschen Intensivbetten waren nie auch nur annähernd ausgelastet, das anfangs ins Zentrum gestellte Argument des Vermeidens von Überlastungen des Gesundheitssystems war für Deutschland früh obsolet. Offenbar war der Infektionsumfang zu Beginn – glücklicherweise – insgesamt noch so gering, dass die mittelharte deutsche Shutdown-Strategie in Kombination mit einer großen Mitmachbereitschaft der Menschen bei Weitem ausreichte, die Pandemie erst einmal zu stoppen. Selbst da ein Lehrbeispiel: für die Krise vor der Krise.
Aber Deutschland hat es auf dem Weg zurück zur Normalität in keiner Weise leichter als die stärker betroffenen Nachbarn. Wegen der internationalen Vernetzung von Wirtschaft und Zusammenleben, vor allem aber wegen der Rückfallgefahr. Was es bedeutet, mit einer tückischen Gesundheitsbedrohung zu leben, die weiter viele Tote fordern wird, und zugleich nicht zurückzufallen in sehr traditionelle, menschlich distanzierte Lebensentwürfe, wird vielleicht erst nach Jahren bewertbar sein. Genauso die Wirkung auf die sowieso schon zunehmende soziale Schieflage in den Gesellschaften, die sich als dramatisch vorhersehen lässt.
Dieser sozial-kulturelle Ernstfall hat viele Facetten, allesamt von hochpolitischer Dimension. Unsere Art zu leben (und dabei viel zu reisen): Was daran ist wichtig, wo gibt es unangreifbare Kerne, wo gar kommt jetzt zu Recht ein Point of Return in Verantwortung für die Natur – weil mit der Klimakrise noch eine weit größere Herausforderung ungelöst wartet? Unsere Art zu denken: Welche Informationsbasis haben wir für das Verstehen der Welt, die wir erst mal weniger als früher selbst erleben – und wer kann diese Basis verlässlich garantieren? Schließlich: unsere Art zu fühlen. Die ersten Experten behaupten schon, dass sie sich zu verändern beginnt, bei kleinen Kindern ohne den gewohnten Kontakt zu Gleichaltrigen zumal. Emotion und Distanz, das geht nicht zusammen, jedenfalls auf Dauer nicht erquicklich. Ganzheitliches Erleben, mit allen Sinnen, lässt sich nicht ins Internet verlagern. Kultur nur zu einem kleinen, immerhin nicht belanglosen Teil. Begegnung, darum geht es im Zusammenleben. Begegnung braucht Gemeinschaftserlebnis, Nähe. Das Netz kann da aushelfen, aber nicht ersetzen.
Es ist ein überall gerne dahingeworfener Satz: Die Welt nach Corona wird eine andere sein. Er ist nicht falsch. Doch Inhalte, die gemeint sind, können sehr wohl falsch sein – oder aber richtig. Anhand der digitalen Kommunikation, jetzt wie in einem riesigen Feldversuch allgegenwärtig, lässt sich darüber trefflich streiten, am Ende wird es auch da nicht nur Schwarz oder Weiß geben. Aber wer wird in der Abstandsgesellschaft all diese jetzt so dringend nötigen Debatten führen und wo finden sie statt? Hoffentlich werden sie nicht nur von den Falschen geführt, die Gestrigen ohne Sensibilität für freie Lebensformen, die soziale Empathie nicht mehr kennen und offenes Zugehen auf Fremde noch nie mochten. Es wird Leute geben, die schlau einwenden: Das sind jetzt ja die Vorgestrigen. Die Gestrigen, das seid Ihr, die ehemals Progressiven und Weltoffenen. Dieser Gedanke, nur ein Albtraum, bisher. Deshalb aber bleibt es Sache aller, in diesem lang anhaltenden Ernstfall wach und selbstbewusst zu sein. Und – das nächste Klischee mit wahrem Kern – in der Krise eine Verpflichtung zu sehen. Im Streit um die Maßstäbe, um das konkrete Verständnis von Menschenwürde in sozialer und kultureller Hinsicht nicht nachzugeben, im Ringen darum, was uns wichtig ist.
In diesem umfassenden Sinn stimmt besonders, was so gerne mahnend verkündet wird: Wir sind noch mittendrin in der Pandemie. Denn es ist wahrlich noch lange nicht entschieden, wie es weitergeht.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!