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© Photo by Edwin Hooper on Unsplash

Der Ernstfall und der Ernstfall danach

Wer in den letzten Jahren die Berichterstattung in den Medien verfolgte, konnte leicht den Eindruck gewinnen, als gerieten die Demokratien in Europa immer tiefer in eine Krise, die sie aus eigener Kraft nicht würden überwinden können. Die Institutionen der Demokratie seien verkrustet, hieß es, allzu umständlich und oft immun gegen neue Erfahrungen und Ideen, das Führungspersonal in der Regel träge, inkompetent und ängstlich, die Wähler häufig uninformiert, eigensüchtig und leicht verführbar, die Parteien, die Volksparteien voran, blutleer und ohne Ideen, eine Ansammlung von kleinkarierten Karrieristen. Wie sollten derart verfasste Gesellschaften, so fragten sich viele, mit ernsten Herausforderungen wie Flucht und Migration, mit dem Klimawandel und dem anschwellenden Rechtspopulismus fertig werden?

Und dann kam die Corona-Krise und mit ihr jener »Ausnahmezustand«, von dem Staatsrechtler und -philosophen in der Tradition von Carl Schmitt gern behaupten, dass er von Demokratien prinzipiell nicht bewältigt werden könne. Aber stimmt es wirklich, dass ein Ausnahmezustand wie die COVID-19-Pandemie zwangsläufig die Stunde der Diktatoren ist? Kommen Demokratien in Zeiten einer außerordentlich großen Gefahr zwangsläufig an ihre Grenzen und erweisen sich damit diktatorischen Regimen als grundsätzlich unterlegen, weil letztere keine Rücksicht auf Menschenrechte und auf die Launen des Publikums nehmen müssen und somit schneller und konsequenter das zur Gefahrenabwehr Notwendige durchsetzen können?

Am Beispiel China, wo die Epidemie ihren Anfang nahm, haben wir sehen können, dass gerade Diktaturen dazu neigen, gefährliche Entwicklungen, von denen sie einen Imageschaden für Land und Regierung befürchten, zu vertuschen. Wie ernst die Lage war, erfuhr die Bevölkerung in der besonders betroffenen Stadt Wuhan und der Provinz Hubei erst Wochen nach den ersten Hinweisen, obwohl einzelne Mediziner früh gewarnt hatten. Erst als das Ausmaß der Katastrophe nicht mehr zu verbergen war, wurde von den Behörden energisch eingegriffen, dann allerdings mit einer Konsequenz und Härte, die erstaunlich schnell zu einer Besserung der Lage führte. Inzwischen läuft die chinesische Wirtschaft wieder auf vollen Touren, was die Führung des Landes zum Anlass nimmt, ihren eigenen Umgang mit der Epidemie propagandistisch als Beweis dafür zu nutzen, dass das chinesische System mit seiner nahezu totalen Überwachung und seiner Unterdrückung der Meinungs- und Redefreiheit der Demokratie in allen Belangen, auch bei der Bekämpfung einer Pandemie, überlegen sei. Zugleich spricht viel dafür, dass in China weitaus mehr Menschen infiziert wurden und an der Pandemie starben, als bisher offiziell eingeräumt worden war, und dass der Sieg über Corona möglicherweise zu früh erklärt wurde.

Richtig ist, dass auch Demokratien in außerordentlichen Gefahrensituationen oft zögern, notwendige drastische Maßnahmen zu ergreifen, vor allem, wenn diese mit der Einschränkung oder vorübergehenden Aussetzung demokratisch verbriefter Freiheitsrechte verbunden sind. In Demokratien können die Verantwortlichen auch in einer akuten Bedrohungslage eben nur adäquat handeln, wenn sie das Vertrauen der Bevölkerung und ihrer parlamentarischen Vertretung genießen, und dies muss zumeist in aufwendigen Informations- und Diskussionsprozessen gewonnen werden. Ist dies aber einmal sichergestellt, weil die Appelle der Regierung, die Argumente der Experten und Berichte und Kommentare freier Medien überzeugend waren, sind Demokratien in der Regel gegenüber Diktaturen im Vorteil, weil sie sich auf die aktive Mitwirkung der Bürger verlassen können und in aller Regel auf einer diskursiv abgesicherten Faktenbasis operieren.

In den meisten europäischen Ländern verfahren die Regierungen heute nach diesem Muster, und auch die Europäische Kommission ist nach längerem Zögern auf diesen Kurs eingeschwenkt. Entscheidend ist allerdings, dass die im Zuge der Gefahrenabwehr unvermeidlichen Einschränkungen von Grundfreiheiten im Rahmen einer von der Verfassung gedeckten Notstandsgesetzgebung erfolgen, dass die Einschränkungen parlamentarisch legitimiert und zeitlich beschränkt sind und eine baldige Rückkehr zur verfassungsgemäßen Situation zwingend vorgesehen ist. Die Grundsätze der Menschenwürde und des Menschenrechtsbekenntnisses (Art. 1 Abs. 2 GG) sowie andere Einzelgrundrechte dürfen, wie der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde im Zusammenhang mit der Diskussion über die Einführung der Notstandsgesetzgebung Ende der 60er Jahre formulierte, »in keinem Fall außer Anwendung gesetzt werden«. In der Demokratie sei der Ausnahmezustand gerade »nicht ein Freibrief zu willkürlichem, an keine rechtliche Grenze mehr gebundenem Handeln«.

Auf Kosten der Demokratie?

Freilich ist ein solcher Menschenrechte und Verfassung respektierender und vernunftgeleiteter Umgang mit der Krise keineswegs in allen formal demokratischen Staaten, auch nicht überall in Europa, der Fall. Politiker wie Boris Johnson in Großbritannien, Donald Trump in den USA, Scott Morisson in Australien und Jair Bolsonaro in Brasilien haben lange die fachlichen Ratschläge von Virologen und Epidemiologen beiseite gewischt, falsche Hoffnungen auf eine baldige Überwindung der Krise geweckt und dadurch die Situation in ihren Ländern erst recht eskalieren lassen. Andere versuchen die Krise auszunutzen, um ihre Machtbefugnisse auf Kosten der Demokratie auszuweiten. In Polen hat die regierende PiS die Corona-Krise genutzt, um verfassungswidrige Wahlrechtsänderungen durchzusetzen, die ihr den Sieg bei der nächsten Wahl des Staatspräsidenten sichern sollen, und in Ungarn hat der regierende Premierminister Viktor Orbán inzwischen gar eine unbefristete Notstandsgesetzgebung beschließen lassen, die ihm auf unbegrenzte Zeit das Regieren per Dekret am Parlament vorbei erlaubt.

Noch deutlicher als in Ungarn und in Polen ist der Bruch mit demokratischen Gepflogenheiten in Israel. Eva Illouz, Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem, schreibt in einem Essay in der Süddeutschen Zeitung vom 24. März 2020: »In den israelischen Institutionen hat die Corona-Krise trotz der (bislang) relativ geringen Opferzahlen einen Schock ausgelöst (…) Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat grundlegende Bürgerrechte faktisch außer Kraft gesetzt, die Gerichte geschlossen und sich damit auf Haaresbreite vor einem Verfahren gerettet. Am 16. März billigte die israelische Regierung den Einsatz technologischer Mittel, die der Geheimdienst Schin Bet zum Aufspüren von Terroristen entwickelt hatte, um die Bewegungen von Virenträgern zu verfolgen. Sie umging die Zustimmung der Knesset und ergriff Maßnahmen, zu denen sich kein anderes Land bereitgefunden hat, nicht einmal die autoritärsten.« Inzwischen ist es Netanjahu gelungen, seinen Rivalen Benny Gantz für eine »nationale Notstandskoalition« zu gewinnen, die ihm vor allem dazu dienen soll, sich der drohenden Strafverfolgung zu entziehen.

In Deutschland haben sich die schon für tot erklärten Volksparteien in der ebenfalls vielfach für tot erklärten Großen Koalition bei der Bewältigung der Krise bisher nicht nur als überraschend handlungsfähig erwiesen, sondern zumeist auch darauf geachtet, das demokratische Regelwerk im Zuge der Gefahrenabwehr möglichst unangetastet zu lassen. Zwar gibt es auch hier Versuche profilsüchtiger »starker Männer«, die »Stunde der Exekutive« für zweifelhafte Befugniserweiterungen von Ministerien und Verwaltungen zu nutzen, und eine ernsthafte Diskussion über die richtige Vorgehensweise mit dem Hinweis auf die angebliche »Alternativlosigkeit« des von ihnen vorgeschlagenen Weges zu unterbinden. Im Ganzen aber arbeiten Parlament, Regierung und Bevölkerung im Bund und in den Ländern zurzeit in großer Einmütigkeit bei der Bewältigung der Krise auf der Basis der Verfassung zusammen.

So beeindruckend allerdings die Solidarität der Menschen im Lande ist, so auffällig ist, dass viele Politiker und große Teile unserer (Medien-)Öffentlichkeit immer noch nicht begriffen haben, dass die Menschheit längst eine Schicksalsgemeinschaft bildet und Solidarität deshalb zwangsläufig global gelten muss. Das heißt zum Beispiel, dass sich Deutschland und die Niederlande endlich dazu durchringen sollten, den besonders betroffenen europäischen Ländern wie Italien und Spanien schnell, wirksam und ohne diskriminierende Auflagen zu helfen, statt sich weiter als Zuchtmeister der Eurozone aufzuspielen. Das heißt darüber hinaus, dass wir uns bei der Bewältigung der Corona-Krise – und erst recht beim Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Krise – um die armen Länder der Südhalbkugel kümmern müssen, die ohne massive Hilfe (u. a. von IWF und Weltbank, aber auch von der EU) im Chaos zu versinken drohen.

Noch ist die Krise nicht vorbei und noch kann niemand sagen, ab wann wieder so etwas wie Normalität einkehren wird, oder zumindest die das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aushebelnden Ausgangsbeschränkungen für alle oder für größere Teile der Bevölkerung gelockert werden können. Um nachhaltige Schäden durch die Pandemie so gering wie möglich zu halten, ist es richtig, kleine Geschäfte und Betriebe wieder zu öffnen. Vor allem aber sollten wir schon jetzt anfangen darüber nachzudenken, was nach der Krise dringend getan werden muss.

Lastenausgleich und öffentliche Güter

Da wären zunächst kurzfristige Maßnahmen wie eine Art Lastenausgleich zugunsten derjenigen, die durch die Krise wirtschaftlich besonders hart getroffen wurden und nicht auf ein größeres Vermögen zurückgreifen können. Zudem wäre darauf zu achten, dass wirklich alle die Freiheit der Bürger und den Datenschutz einschränkenden Maßnahmen nach dem Ende der Krise auch tatsächlich wieder zurückgenommen werden. Um eine gefährliche Zuspitzung, wie wir sie jetzt erleben, in Zukunft nach Möglichkeit zu vermeiden, kommt aber neben der Stärkung der europäischen Solidarität vor allem ein Thema auf den Tisch, das bei aller notwendigen Anstrengung, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, leicht vergessen werden könnte: die Korrektur der durch den Neoliberalismus verursachten Schwächung des Staates und seiner Fähigkeit zur Vorsorge.

Nie hat es sich so deutlich gezeigt wie in der gegenwärtigen Krisensituation, wie gefährlich es ist, große Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge zu privatisieren, das Gesundheitssystem dem Diktat der Marktlogik und den Renditeerwartungen großer Konzerne zu unterwerfen und die Versorgung der eigenen Bevölkerung vom reibungslosen Funktionieren weltumspannender Lieferketten abhängig zu machen. Nun, da der Ernstfall eingetreten ist, stellen wir auch in der reichen Bundesrepublik überrascht fest, dass uns Ärzte, Pflegepersonal, medizinisches Gerät und Schutzbekleidung, hier und da sogar Krankenhausbetten fehlen, um adäquat auf die Zuspitzung der Krise reagieren zu können, weil auch wir unser Gesundheitswesen kaputtgespart haben.

Richtig ist, in Italien, Spanien, Großbritannien und den USA, erst recht in den armen Ländern der Südhalbkugel, sieht es in dieser Hinsicht viel schlechter aus als in der Bundesrepublik. Und wie die Lage in Ländern wie Russland, Indien und weiten Teilen Afrikas wirklich ist, kann man mangels belastbarer Zahlen nur ahnen. Aber auch in Deutschland kann sich, wenn die Corona-Fallzahlen weiter ansteigen, die Lage so zuspitzen, dass unser Gesundheitssystem der Belastung nicht mehr standhält und Ärzte in ein unzumutbares moralisches Dilemma geraten, weil sie nun entscheiden müssen, welcher Patient die womöglich rettende Behandlung erfährt und wer nicht.

Noch ist die Krise nicht überstanden, aber das Nachdenken darüber, was von ihr im Bewusstsein der Menschen bleibt, hat schon begonnen. »Wird man später einmal von uns als einer Gesellschaft erzählen«, schreibt Hilmar Klute in der Süddeutschen Zeitung vom 28./29. März 2020, »die sich in höchster Not ihrer Schwächsten besonnen hat und daraus nicht nur ein karitatives Tages- oder Wochenprojekt gemacht, sondern für lange Zeit die Lehre gezogen hat, dass es nicht anders als gemeinsam gehen kann? Oder wird man von kalten, unmenschlichen Abwägungen berichten, nach denen der Wert eines alten Menschenlebens geringer bemessen wurde als der eines mittelständischen Unternehmens?«

Die reiche Bundesrepublik wird mit dem umfangreichen im Bundestag beschlossenen Wirtschaftsförderprogramm voraussichtlich relativ bald wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen, wenn das Corona-Virus erst einmal besiegt ist. Aber wenn wir jetzt nicht begreifen, dass das Wohlergehen der großen Mehrheit der Bevölkerung mindestens so sehr von unserem Gemeinsinn und der staatlich organisierten Daseinsvorsorge abhängt wie von der Produktivität der Unternehmen, wenn wir jetzt nicht dafür sorgen, dass die Leistungen von Krankenschwestern, Pflegern, Erzieherinnen und der großen Zahl von Soloselbstständigen im kulturellen Sektor endlich auch finanziell anständig bewertet werden, wenn wir weiter von »den Märkten« erwarten, was wir selbst mit zivilgesellschaftlichem Engagement, mit dem Instrumentarium der Demokratie schaffen müssen, und als Deutsche fortfahren, in arrogantem Tugendstolz unsere europäischen Nachbarn zu bevormunden, könnte es sein, dass die Demokratie in Europa die nächste große Krise nicht mehr überlebt.

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