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Ostermarsch 2017 © picture alliance / Caroline Seidel/dpa | Caroline Seidel

Gegen eine neue Blockspaltung in Europa Der Essay: Der Boden der Tatsachen und die Kraft der Ideen

Wer Kinder und Enkel hat, fragt sich in diesen Tagen vielleicht, ob seine Generation womöglich für lange Zeit die letzte gewesen sein könnte, die in Europa in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben konnte. Denn in Europa ist Krieg. Nicht zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Allerdings sind die Kriege auf dem Balkan in den 90er Jahren erstaunlich schnell in Vergessenheit geraten und an Putins Vernichtungskrieg in Tschetschenien und seine gewaltsame Landnahme in Georgien erinnern sich wohl auch nur noch wenige von uns.

Jetzt aber hat der russische Präsident mit einer gewaltigen Militärmacht die direkt an die EU grenzende Ukraine überfallen, um fortzusetzen, was er 2014 mit der Besetzung der Krim begann, und wer die größenwahnsinnigen Reden gehört hat, die der Diktator im Kreml in den letzten Monaten gehalten hat, muss wohl damit rechnen, dass mit der Niederwerfung und Einverleibung der Ukraine sein Machthunger noch keineswegs gestillt wäre.

Meine Eltern waren Esperantisten und Pazifisten. Im Prinzip. Aber natürlich waren auch sie froh darüber, dass englische, französische, amerikanische und russische Soldaten in einem langen und verlustreichen Krieg die Nazis schließlich besiegt hatten. Als meine Familie nach dem Krieg aus den Niederlanden nach Deutschland zog, erlebte ich eine ähnliche Ambivalenz auch hier. Ich hörte deutsche Politiker sagen: »Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen.« Aber wenige Jahre später war von diesem quasi offiziellen Pazifismus so gut wie nichts mehr übrig. Es gab wieder deutsche Soldaten, die deutsche Rüstungsindustrie florierte, und der, dem das pazifistisch klingende Zitat zugeschrieben wurde, das ich noch im Ohr hatte, betrieb als Verteidigungsminister – gottseidank vergeblich – sogar die atomare Bewaffnung der neuen Bundeswehr.

»Si vis pacem, para bellum«, so lautet das einschlägige Klassikerzitat, das seit eh und je zur Rechtfertigung von Aufrüstung dient. Auf Deutsch: Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor, vielleicht auch etwas weniger martialisch: Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Wer sich wie ich keinen Illusionen über die damalige Sowjetunion hingab, konnte sich trotz pazifistischer Neigungen der Logik dieses Arguments kaum entziehen.

Rüstungswettlauf vergrößert die Gefahr weil beide Seiten des Konflikts nach dieser Logik handelten, war ein abenteuerlich teurer und höchst gefährlicher Rüstungswettlauf die fast unvermeidliche Folge. Das Geld, das für teure Rüstungsgüter ausgegeben wurde, fehlte für Bildung und soziale Leistungen. Wichtiger noch, das Wettrüsten und die ständige Perfektionierung des atomaren Arsenals führte zwangsläufig zu einer hochgefährlichen Verringerung der Reaktionszeiten und damit zur Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen. Wir wissen heute, dass die Welt damals mehrmals am Rande eines Atomkriegs stand, den niemand wollte, weil es dabei nichts zu gewinnen gab, der aber dennoch hätte passieren können.

Das ließ nicht nur die Friedensbewegung anschwellen, sondern führte schließlich auch zu einer anderen Politik des »Westens« gegenüber der Sowjetunion und ihren Vasallenstaaten und zu ersten ernsthaften Abrüstungsverhandlungen. In Europa waren es vor allem Politiker wie Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky, die in Abstimmung mit den zunächst zögernden Amerikanern eine neue Ost- und Entspannungspolitik vorantrieben.

Was folgte, ist eine lange Reihe sich überstürzender Entwicklungen: die Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU, sein missglückter Versuch, das sowjetische System von Grund auf zu reformieren, die Aufspaltung des Sowjetreichs in mehrere Einzelstaaten und schließlich das Wunder der deutschen Einheit, die Ratifizierung des START-Vertrags, einer Vereinbarung über die weitgehende Abrüstung strategischer Atomwaffen zwischen den USA und Russland, und die in mehreren Runden erfolgende Vergrößerung der EU auf 28 – heute 27 Mitgliedstaaten. Für meine Generation ist dies eine bis heute prägende Lebenserfahrung.

Kein Wunder, dass die derart vom Schicksal beschenkten Menschen in Europa und besonders in Deutschland dazu neigen, die kalte Rationalität des »Si vis pacem, para bellum« mit Argwohn zu betrachten. Aber nun, da das inzwischen wieder hochgerüstete Putin-Russland seinen Nachbarn, die Ukraine, überfallen hat, dort ganze Dörfer und Städte ausgelöscht, Millionen Menschen in die Flucht getrieben, Ungezählte getötet hat, ist allenthalben von einer Zäsur bzw. einer Zeitenwende die Rede.

Sie äußert sich darin, dass die EU-Staaten in ungewöhnlicher Einigkeit und wortwörtlich über Nacht schwerwiegende Sanktionen gegen Russland beschlossen haben, dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigt hat, den Wehretat auch über das von der NATO geforderte Maß hinaus aufzustocken, die Bundeswehr beschleunigt aus- und aufzurüsten und – in Abweichung von dem bisherigen Grundsatz »keine Waffenlieferung in Krisengebiete« – die ukrainische Armee mit Waffen zu beliefern. Sie äußert sich aber auch darin, dass all diese Maßnahmen offenbar von der großen Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen werden.

Heilsamer Schock

Was wir heute in Deutschland und in Europa erleben, ist in der Tat nicht nur eine drastische Veränderung der Politik, sondern auch ein signifikanter Wandel des öffentlichen Bewusstseins. Wer immer noch glaubte, das putinsche Russland könne mit einer Politik von Handel und Wandel in eine gemeinsame europäische Friedensordnung eingebunden werden, ist spätestens nach dem 24. Februar ernüchtert aufgewacht. Der Überfall auf die Ukraine hat einen heilsamen Schock ausgelöst. Die Dinge jetzt nüchtern zu betrachten, auch eigene Fehleinschätzungen zu korrigieren, sich keinen Illusionen mehr hinzugeben, wer könnte dagegen sein.

Dass auch wir im »freien Westen« dies und das hätten anders, besser machen können, ist sicher richtig. Aber hätten wir es den baltischen Staaten, hätten wir es den Polen, Tschechen, Slowaken und Rumänen etwa verwehren sollen, der NATO beizutreten, um im Kreml kein gefährliches Einkreisungstrauma entstehen zu lassen? Hätten wir den Menschen, die auf dem Maidan für eine freie und unabhängige Ukraine kämpften, raten sollen, den russischen Bären nur ja nicht zu reizen?

Gab es tatsächlich eine realistische Chance, eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die Russland am Ende zu einem verlässlichen Partner in einem freien Großeuropa gemacht hätte? Vielleicht war es ein Fehler, dass nicht alles getan wurde, was in dieser Richtung hätte unternommen werden können. Aber dass eine klügere Politik Putin und seine Kamarilla davon abgehalten hätte, seine eigene Bevölkerung und seine Nachbarn zu terrorisieren, ist alles andere als plausibel.

Im Gegenteil: Die Ernüchterung, die wir heute erfahren, wäre auch schon früher angebracht gewesen: Die zahlreichen vom Kreml organisierten Morde an Kritikern Putins und seiner Politik, die Gleichschaltung der Medien im eigenen Land, das Verbot von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Memorial, die Desinformationskampagnen und Cyberangriffe auf andere Staaten, die forcierte Aufrüstung und die Modernisierung seines Waffenarsenals – wer wissen wollte, mit wem wir es im Kreml zu tun haben, hätte es längst wissen können.

Aber heißt das nun, dass wir, die wir noch vor Kurzem vorwiegend auf Dialog und Interessensausgleich setzten, eingestehen müssen, sträflich naiv gewesen zu sein, und reumütig zu den alten Denkmustern des Ost-West-Gegensatzes und zu einer Militarisierung der Außenpolitik zurückkehren sollten, Stichwort Zeitenwende?

Heißt das, was wir zurzeit erleben, dass Dialog, Wandel durch Annäherung, Wandel durch Handel schon immer falsch waren und in Zukunft bestenfalls noch als Beschwichtigung übermäßig empfindlicher Gemüter infrage kommen? Soll gar im Nachhinein jeder, der Gespräche und Interessenausgleich im Umgang mit Russland für richtig hielt nun als nützlicher Idiot des Diktators oder gar als Verräter gebrandmarkt werden?

Und soll in Zukunft jede Kritik an der Politik von NATO-Verbündeten unterbunden werden, auch wenn diese ohne UN-Mandat Kriege führen oder achselzuckend Hunderte und Tausende ziviler Opfer ihrer Drohnenkriege als Kollateralschäden abtun? Soll uns in Zukunft tatsächlich alles »recht« sein, wenn es darum geht, einen Schurken, der irgendwo auf der Welt die Staatsmacht an sich gerissen hat, auszuschalten?

Die durch die jüngsten Ereignisse eingetretene Ernüchterung kann heilsam sein. Aber man kann die Ernüchterung auch zu weit treiben und dabei übersehen, dass die Stärke unserer auf universellen Werten beruhenden freien Gesellschaft auch und vor allem davon abhängt, dass der Glaube an die Ideen von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit lebendig bleibt. Er wäre ohne einen Überschuss des Utopischen nicht in die Welt gekommen, und er kann ohne diesen Überschuss nicht lebendig bleiben.

Der Glaube an die Kraft universeller Ideen

Wir Europäer, wir Deutschen zumal, waren nicht nur naiv und weltfremd, wenn wir auf Dialog, auf Wandel durch Handel und Verhandlungen setzten, statt immer nur weiter aufzurüsten. Die Menschen, die in der Nachfolge von Mahatma Gandhi und Martin Luther King gewaltfrei und mutig gegen Rassismus und Unterdrückung, für Freiheit und Abrüstung auf die Straße gingen, waren keine Traumtänzer und auch keine Weicheier. Wer seinerzeit in Deutschland den Wehrdienst verweigerte und sich stattdessen in sozialen Einrichtungen engagierte, war kein Drückeberger.

Wenn heute hier und da das Wort »Pazifist« schon wieder als Schimpfwort verwendet wird, sollten wir daran erinnern, was so etwas wie Demokratie einst überhaupt erst möglich gemacht hat: der sich ausbreitende Glaube an die Kraft universeller Ideen. Und gerade wir in Europa sollten nicht vergessen, dass es auch und vor allem die Politik des Wandels durch Annäherung war, die das Wunder der gewaltlosen deutschen Vereinigung und der Befreiung so vieler europäischer Völker zur Folge hatte.

»Krieg ist nie die Lösung« haben viele von uns skandiert, als die USA und eine »Koalition der Willigen« ohne UN-Mandat und mit der erfundenen Rechtfertigung von den Massenvernichtungswaffen in den Arsenalen des Diktators in den Irak-Krieg zogen. Mit Feigheit oder mit heimlicher Sympathie für Saddam Hussein hatte das nichts zu tun, und der Ausgang des Abenteuers gab uns zumindest in einem Recht: Es wurde nichts besser, es wurde alles nur noch schlimmer.

Es war richtig und klug, dass sich Deutschland und Frankreich nicht an diesem Krieg beteiligten. Die Folgen des Abenteuers, das sehen wir heute, haben eine ganze Region destabilisiert. Aber als Slobodan Milošević den Befehl gab, Sarajevo zu bombardieren und seine Handlanger den Völkermord an den Bosniern organisierten, stand Deutschland nicht abseits, fanden sich nach heftigen inneren Auseinandersetzungen sogar die Grünen bereit, die militärische Intervention gutzuheißen.

Zu Europa gehört auch Russland

Wer heute noch achtlos die Phrase »Soldaten sind Mörder« nachplappert, die Kurt Tucholsky in einer Glosse in der Weltbühne schrieb, hat die unauflösbare Ambivalenz des Pazifismus nicht begriffen. Soldaten sind keineswegs immer Mörder, aber sie können zu Mördern und zu Komplizen von Mördern werden, wenn sie blind einem unmenschlichen Befehl gehorchen.

Ebenso wenig sind Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer durchweg Fantasten oder gar egoistische Drückeberger. Wir sollten uns die Welt nicht einfacher malen, als sie ist. Die Welt besteht nicht nur aus Gut und Böse, aus Freunden und Feinden, ohne Zwischentöne, innere Widersprüche und Übergänge. Darum sollten wir uns auch jetzt nicht, da sich Recht und Unrecht in dem, was Putins Krieg in der Ukraine anrichtet, so klar scheiden, nicht Hals über Kopf in eine Militarisierung des Denkens und Handelns hineintreiben lassen.

Wir haben nach der Katastrophe zweier Weltkriege, nach Naziterror und Völkermord, einen Weg beschritten, auf dem wir auch in Zukunft voranschreiten sollten. Die Wegmarken sind die Erklärung der Menschenrechte, die Gründung der Vereinten Nationen, die ersten Schritte zu einer Institutionalisierung einer wirksamen Weltrechtsordnung.

Europa, die Europäische Union zumal, ist die Region, auf die sich die Hoffnungen auf Freiheit und gesicherten Frieden von Menschen in der ganzen Welt richten. Aber zu Europa gehört nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland.

Darum sollten wir nicht nur die Weiterentwicklung der EU zu einer wirklich handlungsfähigen politischen Einheit vorantreiben, sondern auch die Perspektive einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur unter Einschluss eines demokratisierten Russland ohne Putin trotz aller gegenwärtig nahezu unüberwindbar erscheinenden Hindernisse weiter verfolgen. Unser Ziel kann und darf nicht eine erneute Blockspaltung in Europa sein. Unsere Perspektive muss eine europäische und weltweite Ordnung bleiben, in der alle Menschen in Freiheit leben können.

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