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Zivilgesellschaft und Elite Der europäische Demos

Am 9. April 2017 nahmen in 92 europäischen Städten rund 50.000 Menschen an Sonntagskundgebungen von »Pulse of Europe« teil, einer 2016 in Frankfurt am Main gegründeten Bürgerinitiative. Die Zusammensetzung der Teilnehmenden hätte kaum bunter sein können. Zudem ist »Pulse of Europe« nicht die einzige zivilgesellschaftliche Initiative dieser Art. Das Ziel, den europäischen Gedanken wieder sichtbar und hörbar zu machen, wird ganz offenkundig nach langer Stagnation von mehr und mehr Bürgern Europas wieder als wichtig, der Weg zurück in den Nationalismus hingegen als gefährlicher Irrweg erkannt. Eigentlich müssen wir unseren britischen Nachbarn dafür dankbar sein! Sie haben uns aufgeweckt, wie es keine Finanzkrise, keine Griechenlandkrise und nicht einmal eine Flüchtlingskrise vermocht hat. Und wenn wir am Ende zu einem dynamischen Europa ohne Großbritannien finden, ist das immer noch besser als ein dahindümpelndes Europa, in dem dauernd jemand auf die Bremse tritt und alle wieder zum Halten zwingt. Natürlich hat das auch mit bewusster Opposition gegen nationalistischen Populismus, mit der digitalisierten Welt, mit der Kommunikationsrevolution und anderen Entwicklungen zu tun. Wir bestehen in der neuen Zeit jedenfalls nur als Europäer. Europa zu bauen ist mühsam, aber spannend. Denn die Vereinigten Staaten von Europa nach dem Muster der amerikanischen Staaten im 18. oder des Fürstenbundes »Deutsches Reich« im 19. Jahrhundert kann und wird es im 21. Jahrhundert nicht geben. Das »singuläre Novum«, das einzigartig Neue, wie der Verfassungsjurist Dieter Grimm Europa genannt hat, auch auf neue Weise zu bauen, erscheint als Chance, politische Prozesse insgesamt neu zu organisieren.

An vielen Stellen werden daher Vorstellungen entwickelt, wie es in und mit Europa weitergehen könnte. Der Brexit war nicht der einzige Auslöser. Donald Trump, Wladimir Putin und einige andere Machthaber schweißen die Europäer stärker zusammen, als es Verfassungsentwürfe und Verträge je vermocht hätten. Allerdings: An durchdachten Konzepten und intelligenten Diskursen besteht eklatanter Mangel; auch Empathie für Europa gibt es doch noch zu wenig. Mit Referentenvorlagen für Nachtsitzungen im Europäischen Rat, die wieder nur einen neuen Kuhhandel mit minimalem Effekt hervorbringen, ist es deshalb nicht getan. Und auch wenn die Europäische Kommission zurzeit auf Wohlverhalten gebürstet ist und ihre Regulierungsmanie unterdrückt, so reicht dies doch nicht aus, um den richtigen Weg zu finden und nachhaltig vorzuzeichnen. Intergouvernementale Verträge, gleich von welcher Ebene sie geschlossen werden, und schon gar der Vertrag von Lissabon, werden das europäische Projekt nicht vollenden können. Regierungen erweisen sich immer wieder als zu disruptiver Innovation unfähig, verharren in Pfadabhängigkeit und sind darüber hinaus, wie uns zahlreiche Beispiele lehren, erstaunlicherweise nicht einmal besonders resilient, also widerstandsfähig gegen Krisen und Anfechtungen.

»Wir müssen einstehen, wenn der Staat überfordert ist«

Wenn wir Europa wollen, brauchen wir daher eine starke, die Politik mitgestaltende europäische Zivilgesellschaft. Zum Glück gibt es diese! Sie hat anders als die nationalen Regierungen in den letzten Jahrzehnten die Fähigkeit entwickelt, sich unvoreingenommen, partnerschaftlich und von nationalen Egoismen relativ unbeeinflusst zu verständigen. Freundschaften und Vertrauen sind über Jahrzehnte gewachsen. Wo zivilgesellschaftliche Akteure in Europa zusammenkommen, spielt Nationalität kaum noch eine Rolle. Sieht man einmal vom unbeirrt nationalistisch geprägten Leistungssport ab, ist das anachronistische Zelebrieren von Hymnen und Fahnen schon seit Langem aus den Zusammenkünften der europäischen Zivilgesellschaft verschwunden. Überwiegend werden Teilnehmer mit ihrer Organisation, aber nicht ihrer Nationalität vermerkt. Gemeinsame Positionen zu entwickeln oder jedenfalls ohne Rücksicht auf diese Nationalität darüber zu diskutieren, ist in den zahllosen europäischen Verbänden der Zivilgesellschaft längst Routine. Die organisierte Zivilgesellschaft ist in Europa angekommen bzw. bildet sich immer häufiger spontan. Zu den etablierten Organisationen treten täglich neue Initiativen hinzu. Man spricht eine gemeinsame Sprache. Mehr und mehr wird zum Leitmotiv, was der Philanthrop James Simon schon vor über 100 Jahren in Berlin formulierte: »Wir müssen einstehen, wenn der Staat überfordert ist.«

Darüber und über Konzepte für Europa brauchen wir einen informierten Diskurs. Die Menschen müssen wissen, dass es weder nur das Taktieren der nationalen Regierungen, noch nur die Parolen populistischer nationalistischer Rattenfänger, noch nur die globalisierte Wirtschaft gibt. Dieser Diskurs entscheidet über die Zukunft des großen europäischen Projekts. Jede seriöse Idee ist es wert, bedacht zu werden. Zivilgesellschaftliche Zentren, an denen konstruktiv über Europa nachgedacht wird, gibt es zuhauf! Sie reichen vom »European Council on Foreign Relations« über das »Project for Democratic Union«, das »European Leadership Network« und das »Brussels European and Global Economic Laboratory« bis zu »Democracy in Europe Movement 2025«, gegründet von dem als griechischer Finanzminister nicht gerade beliebten Yanis Varoufakis. In Deutschland gibt es wie woanders auch die altehrwürdige »Europäische Bewegung« und die »Europa-Union«, aber auch das Stiftungsnetzwerk der »Engagierten Europäer«. Zu diesem gehört beispielsweise auch die Maecenata Stiftung mit ihrem Thinktank-, Projekt- und Publikationsprogramm »Europa Bottom-Up«. Allein der »Think Tank Directory Europe«, der Informationen zu wichtigen Thinktanks auf europäischer Ebene vermittelt, umfasst 71 solcher Einrichtungen und ist gewiss nicht vollständig.

Manche Netzwerke erscheinen sehr staatsnah (etwa das »European Leadership Network« ein Zusammenschluss von ehemaligen Spitzendiplomaten und Politikern); einige sind finanziell von Regierungen, Parteien, Interessenverbänden oder Unternehmen abhängig und vertreten deren Interessen. Andere dagegen sind unabhängig. Diesen, die von engagierten Bürgern und alten wie neuen zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen getragen sind, gebührt mehr Aufmerksamkeit. Die Bürger heute sind anders als die vor 200 Jahren, die, obwohl sie die Revolution in Frankreich erlebt hatten, die bis heute dominierende staatliche Ordnung des Wiener Kongresses akzeptierten, wenngleich nicht mit großer Begeisterung und ohne daran mitgewirkt zu haben. Sie sind auch nicht mehr die, die gewiss mit großer Überzeugung dem Grundgesetz zugestimmt hätten, wenn man sie gefragt hätte. Sie wollen nicht den »neuen Menschen« kommunistischer Prägung, aber auch keine »totalitäre Demokratie« (Max Weber), sondern eine partizipative und »deliberative Demokratie« (Jürgen Habermas), in der sie sich engagieren und die res publica mitgestalten können – mehr als nur dadurch, dass sie gelegentlich zwischen Parteiprogrammen wählen. Politik ist heute mehr denn je eine viel zu ernste Sache, als dass man sie den Politikern allein überlassen könnte! Wir brauchen die neuen Formen, Verfahren und Zusammenschlüsse.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus

Das europäische Projekt befindet sich vor allem in einer Diskursphase. Das Missverständnis, dass darin nur die Beiträge maßgeblich sein können, die auf demokratischen Abstimmungsprozessen beruhen, ist weit verbreitet. Ist, so wird allzuoft gefragt, jemand, der nicht gewählt ist, hinreichend legitimiert, sich zu politischen Fragen zu äußern? Die Antwort ist eindeutig: Natürlich ist er oder sie das! Der demokratische Prozess und das darauf aufbauende Verfahren beziehen sich hinsichtlich ihrer ausschließlichen Legitimation nur auf die Entscheidungen, durch die eine Gesamtheit zu etwas verpflichtet werden kann. Sie auf jede Form der politischen Debatte auszudehnen, würde den Kern der Demokratie, die Partizipation aller an den öffentlichen Angelegenheiten, der res publica, unterhöhlen. Die europäische Zivilgesellschaft bezieht ihre Legitimation aus ihrem Engagement und aus der Stärke ihrer Sachargumente. Der europäische Demos, das Volk, das sich längst konstituiert hat, ist deshalb aufgerufen, selbstermächtigt und selbstorganisiert die europäische res publica mitzugestalten, um so mehr, als die traditionelle Politik überall in Europa von einem nie dagewesenen – und weitgehend selbst verschuldeten – Vertrauensverlust heimgesucht wird.

Um das Europa der Bürger zu schaffen, bedarf es einer neuen europäischen Elite. Sie wird hoffentlich eine offene, für jeden zugängliche Elite werden, auf die eine offene Gesellschaft gewiss nicht verzichten kann, das singuläre Novum Europa schon gar nicht. In den nationalstaatlichen Parteien wachsen europäische Führungskräfte nicht in dem Umfang und der Qualität heran, wie sie gebraucht werden. Ebensowenig entstehen sie in den Korridoren der europäischen Institutionen. Während ihnen die Bodenhaftung abhanden kommt, wird das aus einem angeblichen Wissensvorsprung gespeiste Selbstbewusstsein immer stärker. Sie bleiben letztlich Funktionäre des Systems und werden keine verändernden Visionäre. Der Unmut darüber verschafft populistischen Rattenfängern Zulauf. Die europäische Elite geht daher wesentlich aus der Zivilgesellschaft hervor.

Letztlich wird der Erfolg des europäischen Projekts entscheidend davon abhängen, dass die Bürger über ihre zivilgesellschaftlichen Strukturen eine Unumkehrbarkeit herstellen, so wie sie dies 1989 getan haben. Sie haben immer wieder den staatlichen Apparat vor sich hergetrieben und sich durchgesetzt. Dies muss auch hier und jetzt geschehen. Denn das gegenwärtige politische System kann nicht zaghaft weiterentwickelt, sondern muss durch eine neue Ordnung ersetzt werden. Gelingt es nicht, das Projekt Europa in großer Akzeptanz weiterzuentwickeln, bleiben alle Bemühungen vergeblich. Wie 1989, als die Zivilgesellschaft die Mauer und die kommunistischen Regime zu Fall brachte, ruht auf der europäischen Zivilgesellschaft die Hoffnung aller Europäer, das europäische Projekt so zustande zu bringen, dass Bürger es als ihr Projekt sehen. Was zurzeit bei »Pulse of Europe« und in zahllosen anderen Initiativen geschieht, lässt hoffen, dass dies so eintreten wird.

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