Am 9. Juni 2024, dem Tag der Europawahl in Deutschland, werden die 96 deutschen Mitglieder des Europäischen Parlamentes bestimmt. Dann werden die zentralen Weichen in der europäischen Politik für die nächsten Jahre gestellt. In diesem Jahr bereiten nicht nur die europäischen Parteien in ihren Wahlprogrammen die programmatische Grundlage ihrer Arbeit vor, auch die Institutionen entwickeln ihre strategischen Pläne für die Zukunft.
Die Zukunft des Binnenmarktes und die Wettbewerbsfähigkeit in Europa werden zentrale Themen der nächsten fünf Jahre sein.
Der Europäische Rat, das Gremium der 27 Staats- und Regierungschefs, das laut EU-Vertrag für die grundsätzlichen Fragen der künftigen EU-Politik verantwortlich ist, bereitet gerade seine strategische Agenda für die Zeit bis 2029 vor. Dafür wurden gleich zwei ehemalige italienische Staats- und Regierungschefs, Enrico Letta und Mario Draghi, damit beauftragt, Berichte zur Zukunft des Binnenmarktes sowie zur Wettbewerbsfähigkeit in Europa auszuarbeiten. Es deutet damit einiges darauf hin, dass dies zentrale Themen der nächsten fünf Jahre in der EU sein werden.
Der Abbau bestehender Markthürden kann neue Wachstumsimpulse setzen. Dies war schließlich auch die Grundidee des europäischen Binnenmarktes. Klar ist, dass dessen Ausgestaltung eine sozialdemokratische Perspektive benötigt, denn das liberal-konservative Verständnis eines wettbewerbsfähigen Binnenmarktes besteht in erster Linie aus Kostensenkung und Entfesselung der Marktkräfte, was dann freilich auf niedrigere Lohnkosten und den Abbau von Regulierungen im Bereich des sozialen Schutzes hinausliefe.
Da eine solche Idee aber die europäischen Gesellschaften zerreißen und die Zustimmung zur EU weiter verringern würde, muss die Vertiefung des europäischen Binnenmarktes durch eine Vertiefung des europäischen Sozialstaates begleitet werden. Es darf nicht zu einer Verschärfung der europäischen Ungleichgewichte kommen, weder zwischen den Staaten noch innerhalb der Gesellschaften.
Das europäische Modell des Sozialstaates ist eine wichtige Säule des »European way of life«. Anfang der Nullerjahre hat der Sozialkritiker Jeremy Rifkin in seinem Buch gleichen Titels den »Europäischen Traum« als Gegenentwurf zum amerikanischen Traum skizziert. Nicht der Mythos einer möglichen Karriere vom »Tellerwäscher zum Millionär« steht hierbei im Mittelpunkt, sondern ein hoher Lebensstandard durch starke Institutionen, gute Arbeitsbedingungen, ein dichtes soziales Netz und Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Arbeit und Familie machen diesen europäischen Traum aus, dem wir auch den starken sozialen Zusammenhalt in den beteiligten Ländern zu verdanken haben. Es ist deswegen Kernaufgabe der Sozialdemokratie in der EU, den Sozialstaat zu schützen, auszubauen, und europäisch zu flankieren.
Die Idee des sozialen Europa wird konkret.
Spätestens seit der Verabschiedung der Europäischen Säule sozialer Rechte im Jahr 2017 konkretisiert sich die Idee des sozialen Europas in der Politik. Von den Staats- und Regierungschefs der EU beschlossen umfasst sie 20 Grundsätze aus dem Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Danach hat etwa jeder Mensch das Recht auf eine qualitativ hochwertige und inklusive Bildung, auf Ausbildung und lebenslanges Lernen. Jeder Mensch darf zudem den Anspruch erheben, bei der Arbeitssuche schnelle und auf ihn oder sie zugeschnittene Unterstützung zu erhalten. Auch wenn die Säule zunächst nur eine Willenserklärung war, hat sie allein durch die Formulierung dieser 20 Prinzipien neue Impulse in der europäischen Sozialpolitik gesetzt. 2021 hat der Europäische Rat einen Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte nachgelegt. Dieser umfasst konkrete sozialpolitische Ziele bis 2030; etwa, dass 60 Prozent aller Erwachsenen einmal jährlich eine Weiterbildung wahrnehmen, oder dass 15 Millionen weniger Menschen von Armut betroffen sein sollen als heute.
Auftrag für die Mitgliedstaaten
Auch legislativ ist in den vergangenen Jahren einiges passiert. 2022 ist die Mindestlohnrahmenrichtlinie beschlossen worden. Diese sorgt dafür, dass die Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten nach klaren Kriterien definiert und mindestens alle zwei Jahre angepasst werden müssen. Und die Rahmenrichtlinie enthält noch einen zweiten Auftrag für die Mitgliedstaaten: Länder, in denen weniger als 80 Prozent der Beschäftigten an einen Tarifvertrag gebunden sind, müssen einen Aktionsplan vorlegen, wie dieser Wert gesteigert werden kann.
In Deutschland liegt dieser Wert aktuell bei 41 Prozent. Das bedeutet, dass die Bundesregierung in Zukunft darlegen muss, wie sie dafür sorgen wird, dass mehr Löhne durch Tarifverträge bestimmt werden. Das kann zum Beispiel dadurch erfolgen, dass staatliche Einrichtungen in Zukunft nur noch Aufträge an solche Unternehmen vergeben, die sich an Tarifverträge binden. Diese Richtlinie ist also nichts weniger als ein Förderprogramm für Gewerkschaften.
So kann in der EU eine sozialpolitische »Aufwärtskonvergenz« gelingen, also gemeinsame Standards auf einem höheren Niveau verankern. Denn dort, wo Tarifverträge herrschen, sind prekär Beschäftigte die Ausnahme und das Lohnniveau höher. Weil alle EU-Mitgliedstaaten für eine hohe Tarifbindung sorgen müssen, kann kein Land mehr durch den Abbau von Arbeitnehmerrechten einen Standortvorteil erzielen.
Grundprinzipien des europäischen Sozialstaates
Man darf sich die Zukunft des europäischen Sozialstaats also nicht so vorstellen, dass man sich als Arbeitsuchender bei einer EU-Behörde anmelden muss, oder dass die Kinder künftig in einer Euro-Kita untergebracht werden. Der europäische Sozialstaat wird aus zwei Grundprinzipien bestehen. Erstens durch die Verankerung ambitionierter Zielmarken, die eine Abwärtsspirale verhindern und alle Mitgliedstaaten gleichermaßen motivieren, sozialrechtliche Fortschritte umzusetzen.
Zweitens wird die EU eine Rückversicherungsleistung gegenüber den Mitgliedstaaten anbieten. Das wurde bereits ausprobiert. Infolge der Covid-19-Pandemie mussten Unternehmen in vielen Mitgliedstaaten auf Kurzarbeiterlösungen zurückgreifen. Insbesondere in Deutschland hat die Kurzarbeit dazu beigetragen, dass man ohne große Arbeitsplatzverluste durch diese Krise gekommen ist. Weil aber nicht alle EU-Länder zum Zeitpunkt der Coronapandemie so finanzstark waren wie Deutschland, hat die EU mit SURE (Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency) eine Art europäische Arbeitslosenrückversicherung ins Leben gerufen, damit alle Mitgliedstaaten Kurzarbeiterlösungen finanzieren konnten.
»Refinanzierung sozialstaatlicher Leistungen fortführen, weiterentwickeln und auf weitere Bereiche der sozialen Sicherung ausweiten.«
Das war im gesamteuropäischen Interesse, weil so kein Mitgliedstaat gegenüber dem Rest der EU zurückfallen musste. Und es hat vor allem viele Arbeitsplätze in Europa gesichert. Durch die Vergabe von attraktiven Krediten, die die EU dank ihrer positiven Bewertung als Kreditnehmer finanzieren konnte, konnten sich die EU-Länder deutlich günstiger finanzieren, als sie es am freien Markt hätten tun können. Dieser Modus der Refinanzierung sozialstaatlicher Leistungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten gilt es fortzuführen und weiterzuentwickeln, und ihn auf weitere Bereiche der sozialen Sicherung auszuweiten. Ein wichtiger Schritt wäre es, SURE zu einem dauerhaften Instrument auszubauen und nicht nur auf Kurzarbeitssysteme zu beschränken, sondern auf weitere wohlfahrtstaatliche Strukturen zu erweitern.
Europäische Haushaltspolitik
Der europäische Sozialstaat ist keine Utopie mehr. Damit wir sozialpolitisch in den nächsten fünf Jahren Fortschritte erzielen können, müssen wir aber auch über die europäische Haushaltspolitik sprechen. Als Jacques Delors Anfang der 90er Jahre den europäischen Binnenmarkt schuf, verstand er, dass er nur funktionieren wird, wenn gleichzeitig die Kohäsion in der EU verbessert wird. Daher wurden der Regionalfonds, der Sozialfonds und andere Instrumente ins Leben gerufen, um den ärmeren Staaten einen Aufholprozess zu ermöglichen.
»Der Nutzen der europäischen Integration lässt sich nicht buchhalterisch berechnen.«
Daran müssen wir uns heute wieder erinnern. Denn ja, öffentliche Haushalte verteilen um. Dabei herrscht in der öffentlichen Debatte spätestens seit Margaret Thatcher das grundlegende Missverständnis, dass man Länder in Nettozahler und -empfänger aufteilen kann. Das kann schon deswegen nicht tragen, weil sich der Nutzen der europäischen Integration nicht buchhalterisch berechnen lässt. Aktuell finanziert sich der EU-Haushalt aus Überweisungen der nationalen Haushalte, die proportional zum Bruttonationaleinkommen berechnet werden. Es ist wenig verwunderlich, dass Deutschland als eines der wirtschaftlich stärksten und als bevölkerungsreichstes Mitgliedsland mehr zahlen muss als etwa Malta.
Es ist vollkommen richtig, dass starke Schultern einen größeren solidarischen Beitrag zu einer gemeinschaftlichen Politik leisten. Das ist ein Grundprinzip von Politik, das natürlich auch europäisch gilt, aber in der EU nur weniger deutlich ist, weil wir die Union aktuell über Beiträge aus den Mitgliedstaaten finanzieren. Daher möchten wir eine Reform der Finanzierung des EU-Haushalts anstreben. Über die Einführung neuer Eigenmittel für EU-Politik, etwa eine europäische Finanztransaktionssteuer oder die Einnahmen aus dem CO2-Grenzausgleichsmechanismus, können wir noch deutlicher machen, wer die EU tatsächlich finanziert.
Eine Vertiefung des europäischen Binnenmarktes ist ein wichtiges Projekt, das in einer Zeit wirtschaftlicher Schwierigkeiten, die gleichzeitig von der Transformation in eine klimaneutrale Zukunft geprägt ist, positive Impulse setzen kann. Es muss aber klar sein, dass dies nicht ohne eine Vertiefung des europäischen Sozialstaates und dem Ausbau finanzieller Mittel der EU funktionieren kann. Für die europäische Sozialdemokratie gibt es also in den nächsten fünf Jahren viel zu tun.
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