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© picture alliance / Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa | Jens Büttner

Die helle und die dunkle Seite der Digitalisierung in den Wahlprogrammen Der Frosch ist »al dente«

»In der historischen Betrachtung«, konzedierte der Soziologe Roberto Simanowski in Das Virus und das Digitale, »wird man 2020 als das Corona-Jahr bezeichnen, das Jahr der Gesundheitskrise (…). 2019 wird als das Jahr der Klimakrise in die Geschichtsbücher eingehen. 2021 als das Jahr der Demokratiekrise. Keine der Krisen wird 2022 gelöst sein.« Aus dieser Perspektive scheint es günstig, dass das Jahr 2021 zugleich ein Superwahljahr ist, in dem die Bürgerinnen und Bürger mehr als einmal Gelegenheit bekommen, das geeignete politische Personal für das postpandemische Zeitalter zu bestimmen. Dass die Pandemie zum Teil den Wahlkampf thematisch dominieren wird, scheint unvermeidlich. Auch wenn es vermutlich besser wäre, sie herauszuhalten.

Obwohl die Corona-Krise nicht explizit im Vordergrund der Wahlprogramme steht, finden Themen, die die Pandemie geprägt haben – vom Gesundheitssystem über die künftige Ausgestaltung des Krisenmanagements, den Aufbau (wirtschaftlicher) Resilienz bis hin zu Konjunkturhilfen –, Eingang in diese wie auch in die Kandidatenduelle.

Knapp drei Monate vor der Bundestagswahl 2021 gestaltet sich die Lage so, dass gerade zwei der im Bundestag vertretenen Parteien (SPD und AfD) ihre endgültigen Wahlprogramme vorgelegt und veröffentlicht haben (Stand Mitte Juni). Drei weitere – FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen – haben immerhin Entwürfe. Von der CDU, die für die Bundestagswahl 2021 ein gemeinsames Programm mit der CSU vorlegen möchte, wie auch von einer Reihe kleinerer, für die Bundestagswahl 2021 zugelassener Parteien, wie der Piratenpartei oder der ÖDP, fehlen diese noch. Immerhin haben zu diesem Zeitpunkt drei Bundestagsparteien, SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen, bereits ihre Kanzlerkandidat/innen präsentiert: Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbock (in der Reihenfolge der Bekanntgabe).

Ein Thema, dessen Bedeutung in der Pandemie stark gewachsen ist und das daher auch überraschend große Teile der Wahlprogramme bzw. Entwürfe beansprucht, ist die Digitalisierung. Dass sich diese zu einem ausschlaggebenden Wahlmotiv entwickeln wird, ist zwar auch in diesem Wahlkampf zu bezweifeln, doch die Parteien haben das Thema – nicht nur als Mittel der Organisation eigener Parteiarbeit und des Wahlkampfes – für sich entdeckt.

Als die SPD als eine der ersten Parteien im Dezember 2020 den Entwurf ihres Wahlprogramms präsentierte, versprach der Kanzlerkandidat Olaf Scholz, die sozialdemokratische Debatte würde auf dem neuesten technologischen Standard stattfinden. Und doch war klar, dass die Corona-Pandemie und der Lockdown die Hauptmotivationen für das ausschließlich virtuelle Event waren: »Wir treffen uns im digitalen Raum, weil wir es müssen«, sagte Scholz. Mit Sascha Lobo als Gastredner wurde über Digitalisierung an den Schulen, die Infrastruktur, aber auch über Künstliche Intelligenz und Regulierung diskutiert; digitaler Fortschritt solle nicht eine Sache sein, die aus Kalifornien kommt – Deutschland müsse sich vor der digitalen Orientierung nicht fürchten, so der Tenor.

Nachdem am 9. Mai 2021 das Wahlprogramm beschlossen wurde, erschien es nicht nur als obligatorische PDF-Datei, sondern auch als digitale Programmmatrix auf spd.de. Durch Anklicken ausgewählter Themenkacheln können die Nutzer/innen von der Matrix zu vertiefenden Informationen gelangen: Das Zukunftsprogramm der SPD wurde so »digital begehbar« gemacht, schrieb der Vorwärts. Eine willkommene Ergänzung angesichts der 66 Seiten, die das Zukunftsprogramm der SPD, das die Überschrift Aus Respekt für Deine Zukunft trägt, umfasst.

Auf dem Parteitag 2019 kündigte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken an, das nächste Wahlprogramm »wird die Digitalität nicht nur als Querschnittsthema über alle Lebens- und Politikbereiche atmen, es wird auch im Format ein digitales Programm sein«, so erinnerte der Vorwärts anlässlich der Veröffentlichung der digitalen Matrix. Neben dem Format kam auch das Versprechen der »Digitalität« nicht zu kurz: Es gibt kaum eine Seite in dem Zukunftsprogramm, auf der »digital« nicht mindestens einmal vorkommt. »Digitale Souveränität« schaffte es gar als »Zukunftsmission III.« in das Programm, gleich nach dem klimaneutralen Deutschland (I.), dem modernsten Mobilitätsystem Europas (II.) und noch vor dem Update für Gesundheit (IV.). Im Vordergrund der Zukunftsmission III. stehen Themen wie die Infrastruktur, wobei mit »Gigabit Gesellschaft« ein sicherer, schneller und bezahlbarer Internetzugang gemeint ist, der Haushalten, aber auch mittleren Unternehmen im ländlichen Raum zugutekommen soll.

Neben dem einfachen und digitalen Zugang zu Verwaltungsdienstleistungen sollen Bürgerinnen und Bürger »nach dem Modell einer digitalen Life-Chain Berechtigungen selbst vergeben und auch wieder löschen können und somit kontrollieren, wer wann auf ihre Daten zugreift«. Ob sie auch die Zugriffsberechtigung dem Staat ganz entziehen können sollen, steht nicht explizit in dem Programm.

»Digitale Schule« umfasst nicht nur Infrastruktur und Internetzugang, sondern auch digitalen Unterricht und digitales Lernen (sowie digitale Lerninhalte bzw. Medien).

Um der Übermacht der Plattformen entgegenzuwirken, plant die SPD eine »präzise Regulierung« auf europäischer Ebene, um Wettbewerb zu sichern und lokale alternative Angebote zu unterstützen: »Nutzerdaten müssen geschützt sein und die Nutzer/innen müssen darüber bestimmen können, was mit ihren Daten geschieht.« Die Interoperabilität zwischen verschiedenen Messenger-Diensten, sozialen Netzwerken und digitalen Diensten sowie Plattformen möchte die SPD gesetzlich vorschreiben, um den Bürgerinnen und Bürgern den Wechsel zu ermöglichen. Man sei auch gegen eine Klarnamenpflicht und setze sich »weiterhin für die Möglichkeit einer anonymen und pseudonymen Nutzung ein«, wobei eine »technisch sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung« für die Autor/innen des Wahlprogramms selbstverständlich ist.

Auch Cybersicherheit findet in der Zukunftsmission III. Erwähnung, und zwar als »Grundlage für eine erfolgreiche Digitalisierung«. Neben der Schaffung eines dauerhaften, regelmäßigen und unabhängigen Monitorings der Gesetze im Sicherheitsbereich will man Hersteller darauf verpflichten, »Softwareprodukte, digitale Dienste und technische Geräte so zu konzipieren, dass sie sicher sind (Security by Design)«. Digitale Hintertüren sollen »nicht offen gehalten werden«. Die SPD möchte außerdem die Verschlüsselungsforschung ausbauen sowie »das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik als zentrale, unabhängige und ausschließlich präventiv ausgerichtete Cybersicherheitsbehörde« stärken. Dies wirft allerdings Fragen auf, bedenkt man, dass bei dem kürzlich mit Stimmen der Koalitionsparteien SPD und CDU/CSU beschlossenen IT-Sicherheitsgesetz 2.0 (ITSiG 2.0) ausgerechnet die von Experten geforderte Unabhängigkeit des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) verworfen wurde.

Das Thema Cybersecurity treibt auch andere Partien: Die Linke macht klar, dass die »digitalen technischen Möglichkeiten (…) nicht zur Überwachung der Bürger*innen und zur Einschränkung der Demokratie genutzt werden« dürfen. Konkret geht das einher u. a. mit dem Verbot automatisierter Gesichtserkennung, Quellen-Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) und Onlinedurchsuchung (Staatstrojaner), Vorratsdatenspeicherung (VDS) oder Spyware. »Der Aufkauf von Informationen über und Beauftragung von Sicherheitslücken in IT-Systemen durch Geheimdienste« muss ebenfalls »verboten und unterbunden werden«. Um die Datensicherheit für alle zu stärken, sollte es eine Meldepflicht für Sicherheitslücken geben sowie die Haftung der Hersteller für IT-Sicherheit ausgeweitet werden, u. a. mittels einer für den Marktzugang der Produkte obligatorischen Sicherheitszertifizierung.

Auf die Aspekte Cybersicherheit und Datenschutz geht die FDP im Entwurf ihres Programms u. a. im Kontext der Menschenrechte im digitalen Zeitalter ein. Hervorgehoben werden u. a. das Recht auf Privatsphäre und der Schutz personenbezogener Daten, der Schutz vor Massenüberwachung, das Recht auf Anonymität im Internet und das Recht auf Verschlüsselung, wobei Deutschland im Zuge einer effektiven Cyber-Sicherheitsstrategie in Europa eine Führungsrolle zugesprochen wird. Als Bestandteile der Cyber-Sicherheitsstrategie sieht man u. a. ein wirksames Schwachstellenmanagement und ein Recht auf Verschlüsselung, ebenfalls Security-by-Design und die »Haftung der Hersteller für Schäden, die fahrlässig durch IT-Sicherheitslücken verursacht werden«. Freie Demokraten setzen sich in ihrem Programm für ein Recht auf Verschlüsselung ein und fordern eine grundsätzliche Verschlüsselung elektronischer Kommunikation. Einschränkungen der Verschlüsselung werden abgelehnt, wie etwa »die potentiell lückenlose digitale Überwachung der Menschen durch den Einsatz von ›Staatstrojanern‹, insbesondere zur nachrichtendienstlichen Aufklärung«. Auch für Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung muss der Maßstab gelten, dass ihr Einsatz unterbleibt, solange »nicht sichergestellt ist, dass der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung der Menschen geschützt ist«. Die Forderung nach einem Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum gilt mit der Einschränkung, dass zum Schutz der Privatsphäre auch gehöre, »dass zur Straf- und Zivilrechtsverfolgung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen die Anonymität aufgehoben werden kann«. Die FDP lehnt den Einsatz automatisierter Gesichtserkennung ab, lässt aber einen »verantwortungsvollen« Einsatz »intelligenter Videoüberwachung an Kriminalitätsschwerpunkten« zu.

IT-Sicherheit als Standortfaktor

Bündnis 90/Die Grünen reden von IT-Sicherheit, die im Wesentlichen an zwei Stellen des Programms Erwähnung findet: dort, wo es um die Digitalisierung geht und IT-Sicherheit als Standortfaktor betrachtet wird, sowie im Kontext der Sicherheit im Cyberraum, wo der Einfluss von Digitalisierung auf die moderne Kriegsführung thematisiert wird. Leitlinien für das Vorgehen der Bundeswehr im Cyberraum werden gebraucht, ebenfalls setzt man sich für »weltweit anerkannte Regeln im Cyberraum sowie eine Selbstverpflichtung (…), zivile Infrastruktur nicht militärisch anzugreifen«, ein. Die europäische Zusammenarbeit im Bereich Cyberabwehr solle ausgebaut werden, wozu Deutschland einen Beitrag leisten müsse.

IT-Sicherheit ist für Bündnis 90/Die Grünen mehr Garant für einen gelungenen digitalen Wandel und die Grundrechte; »gute« IT-Sicherheit sei inzwischen auch ein wichtiger Standortfaktor geworden. Deswegen möchte man für »beste IT-Sicherheit« Anreize schaffen durch unabhängige Auditierungen und Zertifizierungen und vor allem die Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMU) »sehr viel stärker durch ein dezentrales und unabhängiges IT-Beratungsnetzwerk unterstützen«. Den Handel und das staatliche Offenhalten von Sicherheitslücken möchte man als »IT-Sicherheit gefährdende Maßnahmen« beenden sowie eine Meldepflicht schaffen. Man möchte außerdem IT-Sicherheit mit »guter Verschlüsselung« stärken oder sichere und einfache Abstimmungsmöglichkeiten in der Vereins- und Parteiarbeit ermöglichen (u. a. durch Schaffung einer Förderstiftung für gesellschaftlich relevante, freie und offene Software).

Welche weiteren Aspekte und Themen im Kontext der Digitalisierung und Cybersicherheit die Unionsparteien in ihr Programm einfließen lassen, bleibt abzuwarten. So viel hat man aber vorab den Medien verraten: Im Wahlprogramm der CDU und CSU sollen sowohl der Klimaschutz als auch die Corona-Krise die Schwerpunkte bilden.

Robert Simanowski erinnerte an „(…) das übliche Gleichnis zur Beschreibung der schleichenden Digitalisierung«, wie man sie aus den Vorjahren kennt: »(…) der Frosch im Wasserglas, dessen Temperatur stetig, aber langsam steigt, weswegen der Frosch nicht springt, bis er es nicht mehr kann«. Was ist in diesem Jahr anders? »Das Coronavirus erhitzte das Wasser mit einem Schlag um zwanzig Grad. Das Schicksal legte dem sprungbereiten Frosch ein Gitter aufs Glas. Zwanzig Grad mehr auf einen Schlag und keine Chance des Entkommens.« Unter Digitalisierung als Mittel, um die Krise (und künftige Krisen) meistern und die Zukunft gestalten zu können, kann sich inzwischen fast jede bzw. jeder etwas vorstellen. Auch unter Cybersicherheit, die im Wahlprogramm der FDP als »Achillesferse« des Informationszeitalters bezeichnet wird. Oder unter der Überwachung, für die Bürgerinnen und Bürger angesichts der Kontaktverfolgung zwecks Eindämmung der Pandemie zunehmend Verständnis aufbrachten – spätestens, seit man für einen Besuch in einem Café ein Smartphone, einen negativen Test und/oder eine Corona-App braucht.

Auch wenn bezüglich der Themenauswahl und der Stichworte in den Wahlprogrammen bzw. ihren Entwürfen zwischen den Parteien große Übereinstimmung herrscht, sollte man sehr genau auf die Formulierungen achten. Denn es macht einen wesentlichen Unterschied für die zu ihrem eigenen Schutz zu überwachenden Bürger/innen, ob die Parteien die Überwachung künftig verbieten, lediglich ablehnen oder gesetzlich regulieren wollen.

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