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Das bisherige Konzept der Gesundheitsversorgung mit mehr Medizin, mehr Krankenbetreuung, mehr Arzneimittel, mehr High-Tech in Krankenhäusern und Arztpraxen oder mehr KI und Gesundheits-Apps zur Selbstoptimierung produziert zwar wirtschaftliches Wachstum, verbessert aber nicht den gesundheitlichen Zustand von Mensch und Gesellschaft. An die 500 Milliarden Euro insgesamt oder 6.000 pro Person kostet uns inzwischen das deutsche Krankenversorgungssystem im Jahr, mehr Mittel als der Bundeshaushalt umfasst. Wo bleibt der Nutzen dieser gewaltigen Investition und was könnte der Gesundheit wirklich dienen? Meine therapeutische Strategie lautet: Die Gesundheit und das Gesundheitswesen neu denken und ganz anders gestalten.
Verstehen und Handeln
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zwingen die Gesundheitspolitik ebenso zu einer Zeitenwende wie die nüchternen Kosten-Wirkungsanalysen der bestehenden Versorgungsangebote. Das Gesundheitswesen ist kein Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern Voraussetzung für die gesellschaftliche Entwicklung. Gesunde Menschen sind erfolgreicher und sozial produktiver. Wir sollten daher Gesundheit als Maßstab für wirtschaftliche und soziale Prosperität nutzen und das Geld wieder als Mittel verstehen. Gesundheitsdienste, die ihre Bedeutung und ihren Wert in Geld messen, fördern nur das Geschäft mit dem menschlichen Leid. Preiswerte Gesundheit produzieren sie nicht.
Die Berufsordnung verpflichtet Ärzt:innen, der Gesundheit des einzelnen Menschen und der gesamten Bevölkerung zu dienen. Ihre unterwürfige Folgsamkeit gegenüber den Verführungen des Mammons verwirrt. Der Ökonom John Maynard Keynes sagte dazu treffend: »Die Liebe zum Geld als Besitz, im Unterschied zum Geld als Mittel, die Freuden des Lebens zu genießen, wird als das erkannt werden, was es ist: eine ziemlich ekelhafte Krankheit, eine dieser halbkriminellen, semipathologischen Neigungen, die man mit Schaudern den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt.«
»Die heutigen Volkskrankheiten stellen individuelle Antworten auf soziale Verwerfungen dar.«
Die häufigsten Krankheitsdiagnosen im Gesundheitswesen sind gegenwärtig Ängste, Depressionen, Bluthochdruck, Rückenschmerzen oder vielfältige Reaktionen einer Unverträglichkeit mit den jeweiligen Lebensverhältnissen. Die heutigen Volkskrankheiten stellen also individuelle Antworten auf soziale Verwerfungen dar, sind Symptome einer gesellschaftlichen Krankheit und nicht Zeichen von individuellem Organversagen. Die Beschwerden kranker Menschen haben immer auch soziokulturelle und psychosoziale Wurzeln. Krankheit muss entsprechend verstanden, behandelt und verhütet werden. Es geht um eine Medizin, die soziale Gesundheit anstrebt und die Gesellschaft entsprechend therapiert.
Das postulierte vor 40 Jahren die soziale Gesundheitsbewegung in Deutschland und die daraus entwickelte Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Gesundheitsförderung. Eine gesunde Gesellschaft des »Well-Being« baut ein Gesundheitswesen, das radikal demokratisch und sozial integrativ arbeitet. Die Ottawa-Charta aus dem Jahr 1986 plädiert für eine radikale Demokratisierung des Gesundheitswesens. Bürgerschaftliche Selbstorganisation in kommunal überschaubaren Lebenswelten muss für »saubere Städte«, gesündere Lebensräume und ein gesundes Gleichgewicht zwischen den Menschen und dem Gemeinwesen sorgen.
Der Mensch ist keine Maschine
Der materielle Reduktionismus der heutigen Medizin auf Körperfunktionen und mikrobiologische Determinanten ist lukrativ, aber nicht gesund. Menschen sind soziokulturelle Wesen und das Gesundheitssystem muss das gesellschaftliche Gedeihen ebenso in den Blick nehmen wie die Gesundheitskompetenz des einzelnen Menschen. Verhältnisprävention und Gesundheitskompetenz für den einzelnen Menschen und seine Lebenswelt sind die Strategien der Zukunft. Ein modernes Gesundheitswesen befähigt die Menschen, mit Krankheitsgefahren kundig und wirksam umzugehen, sich selbst zu organisieren und sich nicht von dogmatischen Experten gängeln zu lassen. Gesundheit wird so zur kommunalen Aufgabe der stetigen Organisation eines sozialen Miteinanders, das für die Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger sorgt.
Die Selbstbestimmung des Einzelnen mit dessen Bedeutung für das Gesellschaftsgefüge in Einklang bringen.
Rudolf Virchow verstand den menschlichen Organismus als Idealstaat, in dem die einzelnen Zellbürger als autonome Individuen zusammenwirken. Als Anhänger eines gemäßigten Liberalismus bemühte er sich, die Selbstbestimmung des Einzelnen mit dessen Bedeutung für das Gesellschaftsgefüge in Einklang zu bringen. Die Kommune ist so betrachtet ein emergentes Lebensgewebe, das selbsterhaltend Gesundheit fördert und Krankheitsgefahren minimiert. Kommunale Gesundheitspolitik und Daseinsfürsorge erkennt in den individuellen Krankheiten die anstehenden Aufgaben für verbesserte Bildungsangebote, gesündere Wohnverhältnisse, für bürgerschaftliche Teilhabe und Beteiligung. Das Gesundheitswesen wird als soziales Immunsystem zur Abwehr der Krankheitsgefahren des sozialen Lebens verstanden. Die Community strebt so kontinuierlich nach einer gesundheitsförderlichen Kultur des Miteinanders.
Die eindeutigen Erkenntnisse der heutigen Wissenschaften belegen: Körper, Geist und Seele oder Individuum und Gemeinde bilden einen vernetzten Organismus. Psyche und Gehirn, Nerven-, Hormon- und Immunsystem wirken zusammen. Soziales Umfeld und die Lebenswelten des einzelnen Menschen, alles ist mit allem verbunden und beeinflusst wechselseitig individuelles wie soziales Befinden. Diese komplexen Zusammenhänge durchleuchtet heute die Psychoneuroimmunologie (PNI). Die Stressforschung, Resilienzuntersuchungen, psychosoziale Erfahrungen oder die psychosomatische Medizin bestätigen dies ebenso: Menschen sind keine Maschinen, sondern Lebewesen und soziale Systeme, sind keine Räderwerke, sondern lebendige Netzwerke.
Der Organismus des Sozialen
Der Psychiater Thomas Fuchs fasst die Erkenntnisse der Gehirnforschung zusammen: »Das Gehirn ist vor allem ein Vermittlungsorgan für die Beziehungen des Organismus zur Umwelt und für unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Diese Interaktionen verändern das Gehirn fortlaufend und machen es zu einem biographisch, sozial und kulturell geprägten Organ«. Vertrauen in die eigene Kompetenz, Vertrauen in die Treue oder Redlichkeit der anderen Menschen und Vertrauen darauf, dass es wieder gut wird, harmonisieren das Gehirn. Begründetes wie krankhaftes Misstrauen produzieren Angst, Verunsicherung und führen zu chronischem psychosozialem Stress, der auch die Infektanfälligkeit nachweisbar erhöht.
Der Körper funktioniert eben nicht wie ein kompliziertes Uhrwerk mit genetisch fixierten Rädchen und Pendeln. »Mich interessiert der Mensch als Ganzes. In all seinen Eigenheiten. Und ich weiß, dass genau hier der Schlüssel zu einer besseren, individuelleren und erfolgreicheren Medizin liegt«, sagt der Psychoneuroimmunologe Christian Schubert: Er plädiert für ein neues Denken in Medizin und Forschung, das den ganzen Menschen im Blick hat – und einen radikalen Wandel der Strukturen und Kulturen unseres Gesundheitswesens wagt. Die Gesundheitsversorgung von morgen ist dann keine von oben gestaltete Versorgungsmaschinerie, sondern ein von unten gebildetes, sich selbst organisierendes System.
Kommunikationstechnologie baut mit dem Internet inzwischen soziale Gehirnstrukturen und Nervengeflechte, die wie ein individuelles Gehirn für gute und böse Taten einsetzbar sind. Die Handlungsfähigkeit von sozialen Gemeinschaften, lokal wie global, nimmt durch die neuen Technologien zu und auch das Messen und Bewerten in der Medizin wird demokratisiert. Jeder kann bald sein eigenes EKG schreiben, oder seine Laborbefunde messen und medizinische Erkenntnisse aus dem Netz erhalten. Der Arzt als Wissensträger wird nicht mehr gebraucht. Gebraucht werden Ärztinnen und Ärzte, die den Menschen helfen, das Wissen weise zu bewerten und gewissenhaft anzuwenden.
»Das Zeitalter der Fürsorgeherrschaft von Politikern und Medizinern über die Objekte ihrer Macht ist vorbei.«
Was in der Geschichte der Buchdruck für die Verallgemeinerung von Wissen und Erfahrungen leistete, leisten jetzt die Instrumente der Kommunikationstechnologie für die Handlungskompetenzen der bürgerschaftlichen Gemeinden. Globaler Austausch im Denken kann mit lokal selbstorganisiertem Handeln verknüpft werden. Dieser kulturelle Entwicklungssprung macht hierarchische Machtstrukturen überflüssig. Er sorgt für transparente Verhältnisse, allgemeinen Durchblick und Organisationsweisen, die sich an lebendigen Organismen orientieren. Das Zeitalter der Fürsorgeherrschaft von Politikern und Medizinern über die Objekte ihrer Macht ist vorbei. Die Ottawa-Charta der WHO postuliert demokratische Teilhabe und bürgerschaftliches Engagement als Grundlage einer gesunden Gesellschaft. »Nachhaltige Entwicklung zu fördern, bedeutet gleichzeitig Gesundheit zu fördern – und umgekehrt«, sagt dazu die Gesundheitswissenschaftlerin und Regierungsberaterin Ilona Kickbusch.
Besonders wichtig ist deshalb, die Gesundheitswirtschaft als Gemeinwohlökonomie zu denken, mit Mut und Tatkraft zu realisieren und eine gemeinnützige Marktwirtschaft anzustreben, die vom Wert der Gesundheit und nicht vom Geld gesteuert wird. Die Transformation der Gesundheitswirtschaft zu einer Gemeinwohlökonomie befreit die Heilkundigen und die Pflegekräfte. Medizin und Pflege für das Gemeinwohl kann die Menschen begeistern: Eine der Gemeinwohlökonomie zugeordnete Gesundheitswirtschaft überwindet die Verzweckung des Geldes und sorgt für gesellschaftliches Wachstum und gemeinschaftlichen Fortschritt.
Ein solches Gesundheitswesen würde als gesellschaftliches Yin oder altruistische Kraft wirksam. Es heilt die Wunden, die das Yang oder der Egoismus einer kapitalistischen Wirtschaft schlägt. Gesundheitspolitik für eine menschliche Gesellschaft kann die Krankheiten der populistischen Verführer und Erreger überwinden. Subsidiäre Solidarität mit dem Maßstab der Gesundheit wäre ein neues sozialdemokratisches Rezept.
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