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Warum der Aufbruch stockt und die dezentrale Energiewende dennoch gelingen kann Der Geist ist aus der Flasche

Erneuerbare Energien sind nachhaltig, sauberer und gerecht und ihre Grenzkosten gehen gegen null. 100 % Strom, Wärme und Mobilität aus Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und Geothermie sind auch schnell machbar. Die notwendigen Umwandlungs- und Speichertechnologien stehen nämlich zur Verfügung und sind längst auch ökonomisch konkurrenzfähig. Wann kippen wir also endlich in Richtung einer regenerativen Vollversorgung?

Die Frage nach der Energiewende ist eine zutiefst politische Frage und der Widerstand gegen sie wird mit jedem Fortschritt bei den Erneuerbaren perfider. Man könnte mit wachsender Fassungslosigkeit über eine völlig irrational erscheinende Energiepolitik lamentieren. Klüger ist es, sich klar zu machen, dass wir das – vermutlich letzte – Aufbäumen des atomar-fossilen Oligopols erleben, das nichts unversucht lässt, um durch gezielte Fake News die solare Zeitenwende aufzuhalten.

Konzerne, die mit weltumspannenden Infrastrukturen und zentralistischen Versorgungslösungen mächtig geworden sind, wollen ihr Geschäftsmodell nicht einfach auf dezentrale, kleinteilige und beteiligungsintensive Versorgungslösungen umstellen. Außerdem wollen sie das alte, nicht nachhaltige Geschäft so lange es geht mitnehmen. Daher werden dezentrale Lösungen für nicht machbar erklärt und mit Pipelines, Hochspannungstrassen und Rodungsaktionen neue Fakten und Verbraucherabhängigkeiten geschaffen.

Die Desinformationspolitik hat gut funktioniert. Debattiert wird über vollkommen unzureichende Instrumente und individuelle Schuld. Das Wer wird wichtiger als das Wie; Flugscham und Rindfleischscham verdrängen die Systemfrage, wie wir schnell zu einer Dekarbonisierung kommen. Selbst in Kreisen der ehrlichen Energiewendebefürworter wachsen die Zweifel, ob die Menschen die Energiewende noch rechtzeitig schaffen, weil politisch nicht möglich scheint, was doch machbar wäre. Die chinesische Autokratie mit ihren Fünfjahresplänen ist da schneller, doch wie schafft es Deutschland mit einer zunehmend pluralistischen Demokratie?

Viele hofften vergeblich, dass endlich das groß angekündigte Klimapaket der Bundesregierung eine Vielzahl von Maßnahmen für die Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien bringt; Kanzlerin Angela Merkel forderte, es dürfe »kein Pillepalle mehr« geben, Vizekanzler Olaf Scholz versprach gar den »großen Wurf«. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist in Deutschland ja auch nach einer Reihe von EEG-Reformen, insbesondere bei den Ausschreibungen, fast vollständig zum Erliegen gekommen. Nur Windkraft Offshore wächst – weil sie als erneuerbare Nische für die zentralisierten Konzernstrukturen politisch gefördert wird. Die dezentralen erneuerbaren Energien aber sollen begrenzt und ins bestehende, nicht nachhaltige System eingepasst werden – mit langen Übertragungsnetzen und kaum Ausbau vor Ort beim Verbraucher.

Wir Deutsche diskutieren aktuell die Einführung einer CO2-Steuer, die 20 Jahre zu spät kommt. Weder zehn noch 60 Euro pro Tonne CO2 werden uns retten, denn sie müsste inzwischen bei verursachergerechten 600 Euro liegen, damit sich die Volkswirtschaft bewegt. So funktionieren Ablenkungsmanöver. Der EU-Emissionshandel hilft seit 14 Jahren der Kohleindustrie anstatt die Kohle zu verdrängen. Potemkinsche Dörfer sind auch Abwrackprämien oder Stilllegungsreserven, der Kohlekompromiss, das Klimakabinett oder eben das teure und eher kontraproduktive Klimapäckchen. Regierungshandeln hat im letzten Jahrzehnt dem Klima nicht geholfen. In den letzten Jahren gingen in den Zukunftsbranchen Photovoltaik und Windkraft ein Vielfaches an Jobs verloren als in der Kohleindustrie in Abwicklung überhaupt noch bestehen.

Deutschland subventioniert wettbewerbsverzerrend umweltschädliches Verhalten mit 60 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) werden weltweit fossile Energien mit rund fünf Billionen Euro subventioniert, das entspricht 6,5 % des Weltbruttosozialprodukts und ist mehr, als global für Gesundheit ausgegeben wird. Wenn allein diese Mittel auf den massiven Ausbau von Erneuerbare-Energien-Anlagen und Speichertechnologien umgelenkt würden, wäre die Energiewende leicht zu schaffen. Dann würden die Mieter in unseren Städten mit Photovoltaik auf ihren Dächern und an den Fassaden selbst Wärme und genug Strom produzieren, dass es auch noch für die Mobilität reicht. Recycelfähige Batterien und andere Speicher regulieren im regionalen Verteilnetz den volatilen Verbrauch und übernehmen die auch im Erneuerbare-Energiesystem notwendige geringe Grundlast. Solarstrom ist Sozialstrom; bereits jetzt ist eine Eigenversorgung mit Photovoltaik auf dem Dach und einer Batterie im Keller billiger als der Transport von Strom, Öl, Gas oder was auch immer. Und die Technikkosten sinken weiter. Hätten sich die Ölpreise vergleichbar denen der Photovoltaik entwickelt, dürfte heute eine Tankfüllung nicht mehr als ein paar Cent kosten.

Der deutsche Großindustrie-Politik-Komplex macht derweil kaltblütig weiter. Die Ausbaudynamik der erneuerbaren Energien wird willkürlich beschnitten, damit eben nicht der archimedische Punkt eines dezentralen Energiesystems überschritten wird, ab dem die erneuerbaren Energien von ganz allein ins Zentrum unserer Energieversorgung rücken. Diese Rolle soll auch weiterhin den zentralen fossil-atomaren Kraftwerken und – aber in Maßen – der zentralen Großerzeugung von erneuerbaren Energien vorbehalten sein. Weil die Stromproduktion aus Erneuerbaren spottbillig wird, verlagert sich das Geschäft auf die Produktion fern des Verbrauchs und den dann notwendigen und lukrativen Ausbau von Übertragungsnetzen.

Es wäre politisch ganz einfach, nur noch Gesetze oder Fördermaßnahmen zuzulassen, die erstens den Ausbau der erneuerbaren Energien unmittelbar fördern; die zweitens dezentral sind, die Erzeugung also nah am Verbrauch stattfindet; und die drittens schnell gehen, denn der Klimawandel lässt uns nicht mehr viel Zeit. An diesen drei Kriterien gemessen ist es auch einfach, Ablenkungsmanöver zu entlarven: Dient die Maßnahme dem direkten Aufbau erneuerbarer Anlagen, ist sie dezentral und geht es schnell?

Es gibt den Weg von einer zentralisierten Energieversorgung in den Händen einiger weniger Großkonzerne hin zu einer Vielzahl von Akteuren, die als »Prosumer« regenerativen Strom bereitstellen und verbrauchen. Der Massenmarkt senkt beständig die Investitionskosten und macht Strom aus Wind und Sonne konkurrenzlos günstig. An Investitionskapital und Technologie fehlt es nicht. Im Gegenteil, durch den Einsatz von neuen Technologien werden Marktchancen eröffnet, neue Arbeitsplätze und die Vorteile von First Movern (Unternehmen, die zuerst mit einem Produkt am Markt erscheinen) gesichert. Nicht nur auf Seiten der Produktion und Versorgung – für Industrie und Haushalte bis hin zu einer Verkehrs- und einer Landwirtschaftswende – sondern auch auf der Verbrauchsseite kann durch effizientere Technologien mit der Digitalisierung, dem autonomen Fahren oder dem 3D-Druck die Energiewende beschleunigt werden. Alles ist da: neben dem Wissen und der historischen Notwendigkeit auch die Zustimmung der Bevölkerung.

Vier entscheidende Faktoren verbinden sich jetzt: die Digitalisierung, zusammen mit der exponentiellen Kostensenkung bei der erneuerbaren Stromerzeugung – insbesondere der Photovoltaik und den Windkraftanlagen an Land –, die Entwicklung der Speicher – insbesondere der Batterien – und schließlich die erneuerbare Mobilität – hierzu gehört Flächengerechtigkeit zwischen Fußgängern, Radfahrern und einem elektrifizierten Verkehrssystem.

Diese Schlüsseltechnologien und eine gute Politik können einen Paradigmenwechsel hin zu einer erneuerbaren Vollversorgung ermöglichen. Im Handumdrehen.

Kleine, dezentrale, solare Energieverbundsysteme funktionieren als autarkes Inselsystem modular. Sonne und Wind senden ihre Energie immer und unabhängig von Konzerninteressen. Wenn sie in autarkiefähigen Anlagen genutzt werden, funktionieren sie auch unabhängig von Netzwerkbetreibern. Nur Millionen von Anlagen, die auch unabhängig vom Hauptnetz funktionieren, überstehen unbeschadet Naturkatastrophen oder einen Cyber-Anschlag auf ein nationales Übertragungsnetz oder auf Großkraftwerke.

Über zwei Drittel des Strompreises machen Steuern und Umlagen aus, die das zentrale Energieversorgungssystem weiter finanzieren. Von diesen Abgaben sollte Strom aus dezentralen erneuerbaren Energien ab sofort befreit und sie auf Öl, Kohle, Atom und Gas umgelegt werden. Das ist kostenneutral, korrigiert aber den zulasten der Energiewende verzerrten Markt. Brennstoffkosten werden so quer durch die Energieversorgung verteuert, was eine effiziente Rohstoffnutzung erzwingt. Die Erneuerbaren, die bis auf die Biomasse kaum Rohstoffe verbrauchen, hätten ihr natürliches Plus. Als Retter des Klimas und unserer Gesundheit folgen die erneuerbaren Energien der gleichen Logik der öffentlichen Güter, die den kollektiven Zugang zu Trinkwasser, Atemluft, Bildung oder Kultur ohne oder gegen eine nur geringe Gebühr gewährleistet.

Die Zeit drängt. Zentrale und dezentrale Systeme vertragen aufgrund ihrer physikalischen und ökonomischen Charakteristika kein Nebeneinander. Je schneller der Umstieg vonstattengeht, desto einfacher und kostengünstiger ist er. Städte und ganze Regionen können wirtschaftlich abstürzen, wenn man sich weiterhin auf die alte Industrie verlässt und die Märkte der Zukunft vergeigt. Deutsche Dieselautos wird bald keiner mehr kaufen, während die Chinesen bei der Elektromobilität oder Google beim autonomen Fahren Lichtjahre voraus sind.

Wer eine schnelle Energiewende will, muss den Ausbau der Erneuerbaren entfesseln, die Sektoren Strom, Wärme, Verkehr und Industrie von den aufgebauten Hindernissen befreien, der Digitalisierung erlauben, die technologische Vernetzung der Akteure zu übernehmen und schließlich Schadstoffe mit ihren tatsächlichen Kosten belasten und die Einnahmen an alle Bürger und Unternehmen zurückgeben.

Wir befinden uns in einer rasanten Transformation in eine neue Weltwirtschaftsordnung und in eine neue Wertschöpfungskultur, die auch ohne Deutschland stattfinden wird. Gewinner des künftigen Strukturwandels sind nachhaltige Produzenten und die Verbraucher, der Arbeitsmarkt, die Umwelt und der Frieden.

 

Im Oktober erschien Axel Bergs neues Buch:

Axel Berg: Energiewende einfach durchsetzen. Roadmap für die nächsten 10 Jahre. Oekom, München 2019, 288 S., 24 €.

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