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Mina Gerngross

Ein Gespräch mit dem Juso-Vorsitzenden Philipp Türmer über den Mangel an Visionen und den Sinn der SPD »Der Generationenkonflikt wird überbetont«

NG/FH: Ist eigentlich Altenpolitik ein Thema auch für einen Juso-Vorsitzenden?

Philipp Türmer: Wir Jungen müssen uns mit allen Politikbereichen auseinandersetzen – und wir tun das, so jedenfalls mein Eindruck, stärker als alle anderen Generationen. Wenn ich an Altenpolitik denke, fallen mir als erstes zwei Stichworte ein: Rente und Einsamkeit.

Rente als Generationenthema, weil sie langfristig unsicher zu werden scheint?

Wir sind eine der wenigen Jugendorganisationen, die sich weder für eine Anhebung des gesetzlichen Rentenalters einsetzt noch für eine Umstellung des Rentensystems von der Beitragsfinanzierung zur Kapitaldeckung. Wir wollen auf Dauer ein starkes gesetzliches System.

Das ist die politische Positionierung – aber ein Thema im Alltag ist Rente bei den Jungen doch eher weniger?

Doch, weil das ja Teil einer größeren Frage ist. Im Zentrum der Juso-Politik steht immer der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Hier geht es letztlich um den Wert der Arbeit, auch und gerade bei Betrachtung der Lebensleistung von Menschen. Uns geht es generationsübergreifend immer um Interessenpolitik für diejenigen, die nicht in erster Linie über Kapital, sondern nur über ihre Arbeitskraft verfügen.

Gibt es, wenn wir an die Rente denken, nicht doch die Endlichkeit der Ressourcen – und damit einen Interessengegensatz, für welche Generation wie viel Geld ausgegeben wird?

Der Generationenkonflikt wird im Politischen überbetont. Es gibt nur sehr wenige Themenfelder, auf denen es wirkliche Gegensätze zwischen Alt und Jung gibt. Und dann lässt sich dies meist auf den banalen Umstand zurückführen, dass die Jungen nun mal noch mehr Lebenszeit vor sich haben als die Alten.

Die banale Altersweisheit, dass man Geld nur einmal ausgeben kann, spielt keine Rolle?

Dieser Satz führt in die Irre. Dem gesetzlichen Rentensystem fehlt das Geld deshalb, weil seit einem halben Jahrhundert eine strukturelle Verschiebung stattgefunden hat von Arbeitseinkommen hin zu Kapitaleinkommen. In den 80er Jahren lag die Lohnquote, der Anteil der Arbeitnehmereinkünfte am Volkseinkommen, noch bei 80 Prozent. Heute tendiert sie in Richtung 60 Prozent. In einem solchen Umfeld wird es irgendwann eng für die beitragsfinanzierte Rente. Konsequente Politik muss sich für diejenigen einsetzen, die arbeiten – und nicht für diejenigen, die erben. Das ist dann eine Politik, die dafür sorgt, dass alte Menschen von ihren Renten leben können und gleichzeitig junge Menschen mehr verdienen.

Wenn es keine Alten-Interessenpolitik gibt, gibt es auch keine Jungen-Interessenpolitik?

Es gibt sie dort, wo sich das gemeinsame Interesse aus der längeren Lebenserwartung ergibt. Die ist ja die einzige Gemeinsamkeit, die alle jungen Menschen haben. Da geht es beispielsweise um Klimaschutz: Natürlich ist eine konse­quente Klimapolitik für junge Menschen wichtiger, weil sie von den Folgen des Klimawandels noch viel länger betroffen sein werden als alte Menschen.

Die Junge Union, der Jugendverband der Unionsparteien, sucht sein Profil auch in der Rentenpolitik immer stark als Generationenlobby – übersetzt: Die Alten sollen länger arbeiten, damit die Jungen später noch gute Renten bekommen?

Der Effekt ist genau umgekehrt: Wer heute das System der gesetzlichen Rente immer weiter aufweicht, sorgt dafür, dass die heute Jungen noch viel weniger bekommen werden. Da sollen Rentenbeiträge in ein kapitalgedecktes System umgelenkt werden. Die Ideologie dahinter: Stärkung der Kapitalseite und Schwächung der Arbeitsseite. Das macht total Sinn, wenn man ansonsten sowieso nur für diejenigen Politik macht, die über die großen Vermögen verfügen. Wir stehen da auf der anderen Seite.

Dann das Stichwort Einsamkeit: Gibt es die bei den Alten mehr als bei den Jungen?

»Vereinsamung hat viel mit wachsender Individualisierung und schwächer werdenden sozialen Netzen zu tun.«

Tatsächlich ist auch das ein Thema, das die Generationen verbindet. Die zunehmende Vereinsamung gibt es bei den ganz Jungen und bei den ganz Alten. Das hat viel mit der wachsenden Individualisierung und den schwächer werdenden sozialen Netzen zu tun. Auch wenn die Wirkung gleich ist, gibt es unterschiedliche Ursachen. Für die Älteren wirkt sich aus, dass der familiäre Zusammenhang generell schwächer geworden, aber nichts so wirklich an seine Stelle getreten ist. Bei den Jüngeren sehen wir einen Trend zur sozialen Vereinzelung, der schon mit der Coronapandemie deutlich sichtbar wurde und sich über extensive Social-Media-Nutzung weiter verstärkt. Direkte physische Kontakte werden weniger, aber sie wären wichtig.

Wenn Alte und Junge inzwischen in völlig verschiedenen Kommunikationswelten leben: Wo ist da der Ansatzpunkt gesellschaftlicher Organisationen, auch der Parteien?

Es ist ihnen noch nicht wirklich gelungen, ihrer klassisch analogen Funktion eine digitale Funktion hinzuzufügen. So schlimm das ist: Die politische Rechte schafft es besser, sich im Online-Bereich zu organisieren und darüber in bestimmten Bereichen kulturelle Hegemonie herzustellen. Auch deshalb, weil sie sich im schlechtest möglichen Sinne traut, in alternativen Gesellschaftskonzepten zu denken.

Wenn das stimmt, stellt sich die Frage, ob die Demokratie noch in der Lage ist, das hohe Ausmaß an Bindungslosigkeit in der Gesellschaft aufzufangen. Müssen wir dann unser Demokratieangebot erweitern, über die Mitarbeit in Parteien hinaus?

Als linker Sozialdemokrat stehe ich für das Konzept der Bewegungspartei. Wenn eine Partei das Problem erkennt, dass sie nicht mehr genug Bindungskraft hat, muss sie die Ursache bei sich selbst suchen. Dann schafft sie es nicht gut genug, ein Angebot für politische Bewegung zu sein.

Braucht es nicht auch neue Beteiligungsformate, Bürgerräte sind da nur ein Beispiel, die nicht Parteiorientierung zur Voraussetzung machen?

Vielleicht bezogen auf einzelne politische Fragen, speziell auf kommunaler Ebene. Vor allem aber braucht es bessere Ideen. Die Strahlkraft von Parteien hat immer ihren Ausgangspunkt in deren strategischer Orientierung. Mit welcher Vision tritt man im politischen Wettbewerb an? Mein Anspruch an meine Partei ist, dass sie Klasseninteressen organisiert.

Aber sind die Menschen denn heute nicht weit weniger eingebunden in Parteidiskurse und wollen das auch nicht mehr?

Aus der Vergangenheit habe ich den Eindruck, dass stärkere Beteiligungsformate zumindest in den Kommunen dazu führen, dass diejenigen sich stärker beteiligen, die auch bisher schon tief verwurzelt sind im politischen System. Da haben dann diejenigen, die sowieso schon über das höchste kulturelle und soziale Kapital verfügen, eine weitere Bühne.

Widerrede: Junge Leute sitzen längst nicht so gerne in Parteigremien rum wie vielleicht der Juso-Vorsitzende…

Die junge Generation ist absolut politisiert. Ich halte es für falsch, zu behaupten, das Konzept Partei sei aus der Zeit gefallen. Die meisten Bürgerentscheide sind zuletzt übrigens daran gescheitert, dass zu wenige Leute abgestimmt haben und damit die notwendigen Quoren nicht erreicht wurden.

Aber in den Parteien sitzen denn doch eher die älteren Leute – und die Jungen wählen mal FDP und mal Linkspartei?

Da sollten wir zwei Fragen voneinander trennen. Die eine ist, wie gut es den Parteien gelingt, junge Menschen einzubinden. Mal besser, mal schlechter. Die andere Frage ist die nach dem Zustand unserer Demokratie. Ich trenne das, weil ich sehr bewusst nicht in der Kategorie von Generationenkonflikten denke.

Was ist dann die Idee, die über den eigenen Sprengel hinaus reicht?

Langfristig werden sich nur Politikangebote behaupten, die eine gewisse Visionskraft und eine innere Konsistenz aufweisen. Der Grundauftrag der Sozialdemokratie hat genau deshalb eigentlich eine große Zukunft. Die aktuelle Polarisierung hat etwas damit zu tun, dass Kapital an Macht in der Gesellschaft gewinnt – das ist ein Megatrend, der speziell in der jüngeren Generation noch zu großen Verwerfungen führen wird zwischen denen, die viel erben, und den anderen, die vor allem ihre Arbeitskraft haben.

Aber das sprunghafte Wahlverhalten der Jungen passt nicht wirklich zu dieser These…

Es zeigt vor allem, wie sehr sie auf der Suche sind. Dass sie geradezu verzweifelt nach Antworten suchen, die ihre Bedürfnisse nach einer wirklichen gesellschaftlichen Veränderung aufgreifen…

…eine Bedürfnisfrage oder eine Interessensfrage? Eine Emotionsfrage?

Alles zusammen. Der Ausgangspunkt ist immer die Vision. Wenn sie überzeugend ist, emotionalisiert sie auch. Ich befürchte, dass es das ist, was meiner Partei am meisten fehlt, weil sie aktuell keinen wirklich gesellschafts- und systemverändernden Anspruch mehr verkörpert.

Nicht auch deshalb, weil die weniger werdenden Aktiven, die gemeinsam den Staat tragen, immer wieder aufgerieben werden im Alltag der Gremien und Parlamente und schon gar keine Zeit mehr haben für größere Ideen – außer die Jungen, die noch keine großen Ämter haben?

Da mag was dran sein – aber das Kernproblem der SPD ist jetzt existenzieller. Wenn die Sozialdemokratie in den nächsten Jahren keine Antwort darauf findet, wie die eigenen Werte in konkrete Politik angesichts der heutigen Herausforderungen übersetzt werden und wie eine mittelfristige politische Vision aussehen kann, wird sie um ihre Rolle fürchten müssen.

Die visionäre Antwort der Jusos ist?

Die meisten Menschen streben im Grunde ihres Seins nach Gemeinschaft und Solidarität. Nicht immer nur in Richtung Wettbewerb, bei vielen ist es eher eine Suche nach Ausgleich. Und nach Ernst-genommen-Werden, was ja auch eine Reaktion ist auf die abnehmende Diskursfähigkeit der Gesellschaft. All das sind tiefe menschliche Bedürfnisse.

»Die Sehnsucht nach Gemeinschaft steht in krassem Gegensatz zum alltäglichen Erleben.«

Unsere im Wesentlichen kapitalistisch verfasste Gesellschaft steht dem vom Prinzip her immer wieder entgegen. Daraus entstehen in allen Lebensbereichen enorme Spannungsfelder, die viele Menschen kaum oder gar nicht aushalten. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft vor allem steht in krassem Gegensatz zum alltäglichen Erleben. Diesen Widerspruch aufzulösen ist eine große Chance für die Sozialdemokratie.

Ist dies eine Botschaft besonders an die Jungen?

Ja, weil sie davon länger betroffen sein werden als Ältere…

…während die Älteren in ihren Strukturen verhaftet sind und deshalb konservativer werden, weil sie das Gefühl haben, dass die Strukturen zerfallen?

Von der Ökonomisierung der Gesellschaft ist man als jüngerer Menschen besonders betroffen, weil es hier um die ungleichen Bedingungen für das gesamte weitere Leben geht. Und Junge nicht sehen, wie es ihnen gelingen soll, für sich selbst ein stabiles Netz aufzubauen, wie es viele Ältere ja doch immer noch haben.

Wie müsste ein Visionsprozess neu angestoßen werden?

Es geht darum, den Sinn der SPD zu definieren. Ihr einen Rahmen zu geben, der nicht mehr klar genug deutlich wird. Natürlich ist da entscheidend, nicht nur im eigenen Saft zu schmoren, sondern neben dem Austausch in der Partei auch den mit Wählerinnen und Wählern zu suchen, die wir zuletzt verloren haben. Mit der Botschaft: Wir hören Euch zu. Nicht zuletzt neue Diskussions- und auch Konfliktfähigkeit im konstruktiven Sinn braucht es da. Im echten Leben sind ganz viele Menschen auf der Suche, alt wie jung.

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