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© Mina Gerngross

Ein Gespräch mit Julian Nida-Rümelin über den Wert des Streits und die weltweiten Herausforderungen der Demokratie »Der große Konflikt, in dem wir stecken«

NG|FH: Herr Nida-Rümelin, ist Streit in der Regierung eigentlich ein Schaden für die Demokratie?

Julian Nida-Rümelin: Demokratie besteht ja darin, dass verschiedene Meinungen geäußert und gegeneinandergestellt werden, dass Argumente im öffentlichen Raum vorgebracht werden. Dass in Berlin eine Regierung aus drei Parteien von Meinungsverschiedenheiten geprägt ist, zumal aufgrund der Mehrheitsverhältnisse nicht mehr eine Partei massiv dominiert, ist erst mal überhaupt kein Problem. Schwierig wird es, wenn die Legitimation der Regierung infrage steht, weil Teile der Regierung in Fundamentalopposition gehen. Soweit sind wir noch nicht – aber manchmal hat man schon den Eindruck, dass die FDP zwar der Regierung angehört, aber sich gleichzeitig in Opposition befindet.

Weil sie bei Wahlen immer wieder spürt, dass zumindest ein Teil ihres Spektrums die Koalition so nicht will?

Das ist sicher so. Aber die Frage ist doch, ob es für die FDP selbst glücklich ist, wenn sie sich als Opposition in der Regierung präsentiert und nicht als Gestalterin, die in bestimmten Fragen deutlich ihre Handschrift erkennen lässt.

Es gibt zum Thema Streit in der Politik ja zwei Theorien. Die Konservativen scheuen den offenen Konflikt und sagen, wer streitet wird nicht gewählt. Von links her gab es immer auch die These, dass das öffentliche Aushandeln von Kompromissen unvermeidbar zum Regierungshandeln gehört. Ist an beidem etwas dran?

Ich halte die Harmonievorstellung für hochgefährlich, eigentlich sogar für demokratiefeindlich. Speziell Präsidialsysteme sind da immer gefährdet. Da läuft alles Staatshandeln bei einer Person zusammen. Dort, so das Idealbild, ist Ruhe oberhalb der alltäglichen politischen Polemik. Aber es ist eigentlich doch ein Relikt aus vordemokratischen Zeiten.

Der Reflex in der Öffentlichkeit ist meist: Streit nervt….

Aber mit ihm werden Personen, Parteien und Interessengruppen sichtbar.

Es gab mal einen Kanzler, der setzte sich vor die Bundespressekonferenz und zeigte seine ruhige Hand vor. Auch das hat ihm nicht gutgetan – denn dann hieß es, er sei nicht aktiv genug…

…Gerhard Schröder. Ich denke, man kann nicht pauschal sagen, ob Streit oder kein Streit, ob ruhige Hand oder unruhige Hand besser sind. Es geht um den Sachgehalt. Wenn man merkt, eine Regierung ringt um den richtigen Weg, glaube ich nicht, dass das abschreckend ist. Wenn der Eindruck entsteht, es geht lediglich um öffentlich inszenierte Profilierungen, dann wirkt die Politik selbst unseriös. In Zeiten wie diesen mit all den schwierigen Herausforderungen wird das Unseriöse nicht angenommen.

Es gibt da dann aber immer auch den Zwiespalt zwischen der Tagespolitik und dem großen Narrativ, den großen Zielen. Wird die Fortschrittserzählung der Ampelkoalition gerade verschüttet durch reale Zielkonflikte über Wärmepumpen und Energiepreise? Kann die Verunsicherung, die so entsteht, der Demokratie schaden?

Das Neue, das wir so noch nie hatten: Jetzt stellen drei Parteien die Regierung, die sich in Vielem doch sehr deutlich unterscheiden. Und es gesellen sich hier ja auch nicht – wie früher – kleinere Koalitionspartner einer größeren Kraft bei. Das ist vorbei und entsprechend komplexer wird Politik. Schauen Sie nach Italien: Dort hat das konsequente Verhältniswahlrecht zwar zu einer guten Repräsentativität im Parlament geführt, aber die Regierungsfähigkeit des Landes hat darunter massiv gelitten. Ich hoffe nicht, dass wir auf diesem Weg sind.

Sollten wir am Wahlrecht etwas ändern, um die Demokratie zu stabilisieren?

Eine weitere Zersplitterung des Parteiensystems wäre riskant – vor allem dann, wenn die neuen Kräfte sich durch die Ablehnung der alten definieren. Wenn sich etwa eine Klimabewegung zur Partei formiert, wird sie es in Abgrenzung zu den Grünen tun – so wie die Linkspartei in Abgrenzung zur SPD stark wurde. Aber erst mal sind dann zwei Kräfte nicht koalitionsfähig miteinander, obwohl sie sich inhaltlich nahe stehen.

»Wir in Deutschland wählen ein Parlament, ohne vorher zu wissen, welche Regierung herauskommen wird.«

Ich habe eine gewisse Sympathie für das französische Mehrheitswahlsystem, weil dort vor dem zweiten Wahlgang die Bestplatzierten gezwungen sind, Kräfte zu bündeln, eine Koalition vor der Wahl einzugehen. Die Wählerschaft weiß dann also, wer sich mit wem nach der Wahl im Erfolgsfalle verbindet. Wir in Deutschland wählen ein Parlament, das die politischen Kräfte gut abbildet – aber ohne vorher zu wissen, welche Regierung herauskommen wird. Ich bin ein Freund von Richtungswahlen.

Wird es jemals Mehrheiten für so etwas geben?

Interessant ist jedenfalls, dass Viele gerade verwundert feststellen: Im Bundestag kann das Wahlrecht mit einfacher Mehrheit auch in fundamentalen Fragen geändert werden. Da besteht ein großer Entscheidungsspielraum, auch für Schritte in die von mir skizzierte Richtung.

Sowohl von konservativer Seite als auch von den Klimaaktivisten gibt es Anstöße in Richtung Zufallsprinzip – durch ausgeloste Bürger- oder Gesellschaftsräte. Ist auch das ein Weg?

Es gibt das Beispiel des antiken Athen. Die radikale Demokratievorstellung damals war, dass Wahlen zur Aristokratie passen. Wahlen bedeuten ja Auswahl, danach sind einige mächtig und viele andere ohnmächtig. Im Idealfall ist es eine Bestenauswahl. In einer echten Demokratie, so diese sehr alte Vorstellung, lassen die Menschen sich nicht mehr repräsentieren, sondern sie wirken unmittelbar mit. Über ein System der freiwilligen Beteiligung oder durch Zufallsauswahl.

In der deutschen Demokratiediskussion galt das bisher als naiv bis dysfunktional. Das Zufallsprinzip als Systemwechsel?

Einen Systemwechsel würde ich nicht befürworten, obwohl auf digitalem Weg vieles in diese Richtung möglich wäre. Aber die Problematik ist doch, dass sich die politische Sphäre von vielen Vorgängen in der Gesellschaft abkoppelt. Die Zusammensetzung der Parlamente war zumindest hinsichtlich des beruflichen Hintergrunds früher diverser und repräsentativer. Da kann es schon sinnvoll sein, die rechtsstaatlich verfasste Demokratie gewaltenteilig zu ergänzen um ein Beratungselement, durchaus durch Zufallsauswahl per Los. Aber nicht als Entscheidungsinstitution.

Ist Beteiligung nicht auch immer eine Frage von Kompetenz – oder ist das schon elitär?

Eine Zufallsauswahl legitimiert noch nicht zur Vertretung. Es geht in der Demokratie ja immer auch um die Legitimation der Vertreterinnen und Vertreter. Aber in vielen Fragen der Politik, zumal in den Kommunen, sind die Bürgerinnen und Bürger hochkompetent aus ihrer Lebenswelt heraus. Wenn es etwa um Straßen geht oder um Spielplätze, wissen sie, was wichtig ist und was nicht. Wenn Verwaltungen sich demgegenüber abschotten, weil eine Öffnung mühsam ist, wird es problematisch.

Werden die Bürgerinnen und Bürger jemals zu Abwägungen bereit sein? Werden sie auf ein Schwimmbad verzichten, um eine Schule zu bekommen?

Ich sage erst mal nur: Es gibt in der Gesellschaft ein hohes Maß an politischer Kompetenz, die in den lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen wurzelt. Anders sieht es aus in Fragen der Außenpolitik oder der Finanzpolitik. Da brauche ich eine Expertise, die auch manche Spitzenkräfte der Politik selbst nicht mitbringen, die aber in den Institutionen verankert ist. Schon Max Weber hat auf den Rationalisierungszwang durch eine Bürokratie hingewiesen, die nach Regierungswechseln nicht ausgetauscht wird und die Stimmungsabhängigkeit der Politik abfedert.

Sie sprechen zum Beispiel von der aktuellen Außenpolitik?

Es gäbe viele Illustrationen dafür. In Bayern gibt es ein bewährtes Konzept der CSU: Wer Chef eines Parteibezirks ist, wird Landesminister. Mit Kompetenz hat das nicht unbedingt etwas zu tun. Aber die Verwaltung wird gut ausgestattet und sorgt für ein gewisses Maß an Rationalität.

Wird also in der Ampelkoalition, den politischen Narrativen zuliebe, manchmal zu viel Porzellan zertrümmert?

Nehmen wir das Thema Ukrainekrieg. Wir haben einen Bundeskanzler, der ein hohes Maß an Rationalität einbringt – mit einer erstaunlichen Widerständigkeit gegenüber Stimmungen und Erwartungen. Das hat ihn früher in der SPD schon oft unbeliebt gemacht, mit schlechten Parteitagsergebnissen. Ich habe jetzt den Eindruck, dass wir großes Glück hatten, dass nicht Armin Laschet oder Annalena Baerbock ins Kanzleramt gekommen sind, das waren ja die beiden Alternativen. Bei Laschet wäre es Stimmungspolitik geworden. Bei Baerbock ist es in einem riskanten Maße Gesinnungspolitik. In der öffentlichen Debatte mit massivem Druck war der besonnene Weg des Kanzlers manchmal nur sehr schwer aufrecht zu erhalten.

Warum eigentlich?

Ich frage mich oft, warum es in den Medien diesen massiven Trend zum Meinungsjournalismus gibt. Das machen die seriösen Medien in den USA besser, wie ich als regelmäßiger Leser der New York Times täglich sehen kann. Nicht nur bezüglich des Ukrainekonflikts, auch in der Coronazeit hat es diesen gegeben, schon in der Flüchtlingsdebatte 2015/16. Sobald eine Krise da ist, wird es offenbar als beunruhigend empfunden, wenn es allzu weit divergierende Positionen gibt.

War das historisch mit der Verkürzung des Horizonts des Denkbaren in Krisenzeiten nicht immer so, Demokratie hin oder her?

Die Situationen sind historisch sehr unterschiedlich. Manchmal haben Parteien sich in Krisenzeiten auch zerlegt. Dann wieder gibt es ein Zusammenrücken, wenn die Nation sich herausgefordert fühlt. Was heute auffällt, sind die radikalen Positionswechsel. Die Grünen hatten noch zur Bundestagswahl »Keine Waffen in Kriegsgebiete« plakatiert. Wenige Monate später waren sie es, die am massivsten für immer mehr Waffen an die Ukraine argumentiert haben. Wenn man sich die Themen Migration, Corona und Ukraine anschaut, fällt auf, dass es in der Bevölkerung ein breites Spektrum unterschiedlicher Positionen gibt. Ein Patt, wenn es um weitere Waffenlieferungen geht. Während sich das in den seriösen Medien so nicht abbildet, auch nicht in den Talkshows.

Kann man es die Dominanz der Machtlogik in Krisenzeiten nennen, mit einem Moralüberschuss wie zur Selbstbefreiung gegenüber all den Zwängen, die sich seit der Annexion der Krim durch Russland ergeben hatten?

Das kann man auch ganz anders sehen: Wir hatten eine Eskalation in Kauf genommen, obwohl die nicht nötig gewesen wäre – schon durch die massive Unterstützung des Maidan-Aufstandes durch den Westen. Mit einem deutschen Außenminister, der dort aufgetreten ist mit einer Rede zugunsten der Aufständischen, die sich gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten wendeten. Seit dem Angebot der USA 2007/8, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, hat sich das internationale Klima verhärtet und die Konflikteskalation zeichnete sich ab.

Sie werfen den Moralisten vor, dass sie die Stunde Null auf die Wahl von Selenskyj legen.

Was ich vorwerfe ist, dass die Narrative zunehmend die Realitäten verdecken. Es handelt sich zweifellos um einen russischen Imperialismus bezogen auf das Umfeld Russlands, insbesondere dort, wo ethnisch-russische Bevölkerungen leben. Putin verbreitet das Narrativ, das rechtfertige seine Intervention und es handele sich um ein faschistisches Regime in Kiew. Beides verdeckt die Realität.

Wir im Westen neigen zu einem Narrativ, das so tut, als sei der Konflikt ohne unser Zutun vom Himmel gefallen, als gehe es lediglich um den Konflikt zwischen einer an europäischen Werten orientierten Ukraine und einem autoritären Russland. Man schaue nur mal in die internationalen Demokratierankings, auch die Ukraine ist keine Demokratie nach europäischen Standards. Das Narrativ darf nicht die globalstrategischen Faktoren verdecken. Es gab ein massives Interesse des Westens, die Ukraine aus dem Einflussgebiet Russlands herauszulösen.

Wo ist nun die demokratische Lösung?

Es gab ja das Minsker Abkommen, das von beiden Seiten nicht eingehalten wurde. Die demokratische Lösung besteht jetzt darin, dass im ersten Schritt die Ergebnisse des russischen Angriffskrieges rückgängig gemacht werden und in einem zweiten Schritt dann nach Befragung der Bevölkerung in den Separatistengebieten und auf der Krim der künftige Status geklärt wird. Eine Verhandlungslösung kann auch vieles erst einmal offenlassen.

»Als Sicherheitsgarantie der Ukraine kann ich mir sogar eine NATO-Mitgliedschaft vorstellen.«

Aber solange sich keine der beiden Seiten aufs Verhandeln einlässt, gibt es weiterhin diesen schrecklichen Verlust an Menschenleben, der auch militärisch zunehmend sinnlos ist. Als Sicherheitsgarantie der Ukraine kann ich mir sogar eine NATO-Mitgliedschaft vorstellen, die aber nur zu haben sein wird, wenn die Ukraine bereit ist die Krim, eventuell auch Seperatistengebiete im Osten aufzugeben und nur im Rahmen einer europäischen Sicherheitsarchitektur, die alle einschließt, auch Russland.

In den offenen Demokratien gibt es ja das Gefühl, dass die Chance zur Durchsetzung von neuen Ideen generell zu gering ist, dass zu vieles abgeblockt wird. Seit einigen Jahren versucht nun die Rechte in vielen Ländern Europas, das Demokratieargument gegen die Etablierten zu nutzen. Was läuft da schief?

Wenn es der Demokratie nicht gelingt, die großen Probleme wie Migration, Friedenssicherung oder Klima überzeugend anzugehen, entsteht der Eindruck ihrer Dysfunktionalität. Zu viele große Fragen schieben wir seit Jahrzehnten vor uns her. Beispiel europäische Migrationspolitik, Beispiel digitale Regulierung. Dann kommen die Populisten und machen sich das zunutze mit Verschwörungsmythen, der Beschwörung des Volkswillens und der Sehnsucht nach starken Führungsfiguren. Es ist eine Mischung, die historisch oft schon erfolgreich war. Aber ein populistischer Modus der Politik, den es ja auch in Demokratien geben kann, ist nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Es bedeutet Stimmungsabhängigkeit, Irrationalität, Gefährdung individueller Rechte.

Manche haben einen falschen Demokratiebegriff. Sein unbestreitbarer Kern ist kollektive Selbstbestimmung – allerdings unter den Bedingungen von Gleichheit und Freiheit aller. Gleiche Würde, gleicher Respekt, gleiche Anerkennung. Deswegen kann es eine Demokratie ohne individuelle Rechte und ohne Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Regierung, ohne Rechtsstaatlichkeit nicht geben.

Wächst im Gegenteil nicht weltweit die Reichweite von Mehrheitsentscheidungen?

Ja. Das ist dann schlecht, wenn es im populistischen Modus geschieht. Es ist der große Konflikt, in dem wir stecken. Von Meloni in Italien bis Chavez in Venezuela ist es immer derselbe Modus: Wir machen’s euch einfach. Der Westen hat es nicht geschafft, die Jahre nach dem Zusammenbruch der alten bipolaren Welt zum Aufbau einer neuen regelbasierten multilateralen Ordnung zu nutzen und die soziale Demokratie zu stärken. Fairness im Umgang mit dem globalen Süden ist bis heute nicht erreicht. Inzwischen ist die Demokratie weltweit auf dem Rückzug.

Wie groß ist da die Gefahr, dass die Demokratinnen und Demokraten politisch müde werden?

Ich bin mir nicht sicher, ob es diese Müdigkeit gibt. Es gab zwischendrin eine ziemlich unpolitische Generation. Da hat sich aber wieder etwas gedreht, mit der Klimabewegung zum Beispiel. Ich sehe eine Repolitisierung bei den Jüngeren und auch bei manchen Älteren. Aber damit gibt es auch neue demokratiegefährdende Haltungen wie bei den rechtsextremistischen Gruppierungen bis in die Parlamente hinein. Und wenn ich an manche Klimaaktivisten denke, die sich auf einen Austausch der Argumente nicht mehr einlassen wollen, sehe ich auch da neue Gefahren. Diskursverweigerung, reine Polemik, Freund-Feind-Denken beschädigen den demokratischen Diskurs.

Misslingt der große demokratische Diskurs, wenn radikale Gruppen den Ton bestimmen?

Apokalyptische Visionen sind für die Demokratie immer gefährlich. Wenn Leute den großen Untergang beschwören, sei es durch den Klimawandel oder Künstliche Intelligenzen, meinen Sie es vielleicht gut und wollen für Veränderungen werben, aber das führt eher zu Schockstarre – oder zu antidemokratischen Kurzschlusshandlungen. Ohne das immer wieder neue Ringen um das bessere Argument gibt es keine Demokratie.

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