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Die Geschichte Nordamerikas ist mit Blut geschrieben Der indigene Kontinent

Ein »neues und schärferes Bild von Nordamerika« verspricht der finnische Historiker Pekka Hämäläinen mit seinem Buch Der Indigene Kontinent. Man müsse nur die Perspektive »leicht verändern«, schreibt er einleitend. Das ist eine starke Untertreibung. Denn der Perspektivwechsel, den er in seinem kolossalen Werk vorschlägt, ist nicht leicht, sondern radikal.

Der Autor demontiert das verbreitete Klischee, wonach die europäischen Großmächte sich nach der vermeintlichen »Entdeckung« von Kolumbus über den fremden Kontinent hermachten, um ihn sich systematisch unter die Nägel zu reißen. Nach einem mehrere Jahrhunderte dauernden kolonialen Machtkampf gingen schließlich die Briten siegreich hervor und gründeten die Vereinigten Staaten von Amerika. Das sei ein sehr grobes, nein sogar falsches Bild, meint Hämäläinen. Er vertritt den Standpunkt, dass wir nicht von ei­nem »kolonialen Amerika«, sondern eher von einem indigenen Amerika spre­chen sollten, das nur langsam und ungleichmäßig kolonialisiert wurde. »Macht« definiert der finnische Historiker als die Fähigkeit von menschlichen Gemeinschaften, einen Raum und sei­ne Ressourcen zu kontrollieren. Demnach waren die Ureinwohner Nordamerikas lange Zeit mächtiger als die gewalttätigen Invasoren.

Macht wird definiert als die Fähigkeit von menschlichen Gemeinschaften, einen Raum und seine Ressourcen zu kontrollieren.

Als Kolumbus glaubte, Indien entdeckt zu haben, war nahezu jeder Winkel Nordamerikas von Menschen bewohnt oder wurde zumindest von ihnen genutzt. Schätzungsweise fünf Millionen Menschen lebten dort. Sie hatten sich für eher partizipatorische und egalitäre Daseinsformen ent­schieden und dabei ein kommunales Ethos entwickelt. Ihre Gemeinschaften waren wohlhabend, sie wurden größer, breiteten sich über ihre Kernsiedlungsgebiete hinweg aus und bewohnten und bewirt­schafteten die leeren Räume dazwischen. Verwandtschaft war das entschei­dende Bindemittel, das Völker und Nationen zusammenhielt, schreibt Hämäläinen. Das heißt allerdings nicht, dass die Native Nations in immerwährender Eintracht zusammenlebten. Auch die indianischen Völker und Nationen führten Kriege gegeneinander und versklavten sich sogar.

So erfolgreich sich die Spanier in Mexiko festsetzen konnten: Ihr Vorstoß nach Nordamerika scheiterte kläglich: »Der indigene Widerstand und die gewaltigen Entfernungen machten Nordamerika zu einer Sackgasse für das spanische Weltreich«.

Die Macht der indigenen Völker

Wer bisher nur von Apachen und Sioux gelesen hat, wird zunächst überrascht sein von der schier unüberblickbaren Anzahl von indigenen Völkern, Nationen und »Stämmen«: Die Wabanaki-Konföderation zum Beispiel, bestehend aus vier Algonkin-Völkern – Mi’kmaq, Mali­seet, Passamaquoddy und Penobscot – verbot den spanischen Kundschaftertrupps unter dem italienischen Seefahrer Ver­razano, an Land zu gehen. Die Irokesen hingegen gestatteten 1624 den Niederlanden den Bau eines Forts am Zusammenfluss von Hudson und Mohawk, weil die Fremden nicht nach Herrschaft strebten, sondern nur Handel treiben wollten. Im Tausch gegen Pelze und Felle verkauften sie Gewehre, Schießpulver und Werkzeuge. Die Indianer nann­ten die Niederländer Kristoni, »Ich bin ein Metall-Hersteller«.

Auch die Franzosen versuchten lange, ihre britischen Konkurrenten durch Kooperation mit den indigenen Nationen in Schach zu halten. Französische ­Männer strebten Beziehungen und Ehen mit indigenen Frauen an. Französische Priester, Händler und Forts konnten sich in der Region der Großen Seen festsetzen, vom Sankt-Lorenz-Strom bis zum Rio Grande. Doch mit dem Erfolg veränderte sich ihre Haltung, und sie begannen Gefangene als Sklaven zu kaufen, zumeist Kinder der im Binnenland lebenden Völker der Odawa, Ojibwe, Potawatomi, Miami, Meskwaki und Wyandot.

Dennoch blieben bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts vier Fünftel Nordamerikas unter indigener Kontrolle – ein eindrucks­voller Beweis ihrer Widerstandskraft und Macht, urteilt Hämäläinen.

Lästige Untertanen

Der Siebenjährige Kriege, der ursprünglich ein europäischer Krieg war, wurde auch auf amerikanischem Boden ausgetragen. Tausende von India­nern kämpften an der Seite der Briten, um Neufrankreich zu besie­gen. Sie besiegelten damit ihr Schicksal: Denn bald mussten sie erkennen, dass die Rivalität der Kolonialmächte ihnen zuvor geholfen hatte, Kompromisse und Zugeständnisse mit beiden Seiten auszuhandeln. Der Pariser Frieden vom 10. Februar 1763 überschrieb die Region der Großen Seen Großbritannien. Die siegreichen Briten, die ihre europäischen Rivalen losge­worden waren, betrachteten die Indianer nunmehr als lästige, nutzlose Untertanen.

Die Einwanderer dezimierten die Indianer durch Diebstahl, Betrug, Hinterhalt, Heimtücke, Totschlag und Mord. Und noch viel mehr durch die ansteckenden Krankheiten, die sie mitgebracht hatten: Pocken, Masern, Cholera. Die Irokesen verloren dadurch fast die Hälfte ihrer Bevölkerung. Auf diese katastrophalen Verluste reagierten sie mit Krieg: Indem sie andere Indigene zu Gefangenen machten, konnten sie die eigenen Reihen wiederauffüllen und die spirituelle Vitalität ihrer Gemeinschaft wiederherstellen. Für einige Zeit wurden sie stärker als zuvor.

1890 leben von ursprünglich fünf Millionen nur noch eine Viertelmillion der indigenenUreinwohner.

Mit der Gründung der USA verkaufte der Kon­gress Millionen von Hektar Indianerland an ein Syndikat. Das Kartell parzellierte das Land und verkaufte es an Spekulanten weiter. Das Kalkül lautete: Wenn das Land erst die Siedler besäßen, würden sie die Native Americans schon selbst ausrotten. George Washington befahl der US-Armee, die kämp­fenden Indianer zu vernichten und so viele Frauen und Kinder wie möglich gefangen zu nehmen. Er setzte auf Terror und totalen Krieg, indem er Zivilisten angriff und Felder, Obstgärten und Handelsposten zerstörte. In den 1890er-Jahren lebten von ursprünglich fünf Millionen nur noch eine Viertelmillion der indigenen Ureinwohner.

Schwer erträgliche Lektüre

Als geübter Viel- und Schnellleser habe ich erstaunlich lange für die Lektüre dieses Buches benötigt: Weil sie schwer auszuhalten und nur in kleinen Portionen zu verdauen ist. Sie macht traurig, wütend und löst Gefühle von Resignation aus, weil ein Betrug dem nächsten folgt. Eine Gemeinheit der anderen. Totschlag und Mord wechseln sich ab mit Mord und Totschlag. Das Buch zeigt beklemmend: die Geschichte der Menschheit wird mit Blut geschrieben. Wie niederschmetternd! Und doch ist es erhellend, nachzuvollziehen und dann allmählich genauer und tiefer zu verstehen, wie widersprüchlich und komplex die 500-jährige Geschichte des Kolonialismus in Nord- und Mittelamerika ablief.

Im Vergleich dazu ist die Lektüre von American Matrix geradezu entspannend. Der Osteuropa- und Russlandspezialist Karl Schlögel zeichnet sein Porträt von Nordamerika mit eher leichter Feder, wenngleich auch akribisch und detailversessen. Sein Kaleidoskop beginnt mit der Reise von Alexis de Tocqueville durch den fremden Kontinent. In seinem legendären Buch über die Demokratie in Amerika wunderte sich der französische Publizist und Historiker unter anderem darüber, dass »Indianer in der Tiefe der Wildnis die Europäer mit ›Bonjour‹« begrüßten. Schon Toqueville hatte ein Auge für die zerstörerische Gewalt der Siedler. Sie machten Wälder und Landschaften erst urbar und ließen sie wenig später verwüstet zurück auf ihrem weiteren Weg nach Westen.

Amerikabild und Russlanderfahrungen

Schlögel will sein Amerikabild nicht aus der zeitlichen Abfolge von Epochen, sondern aus der Horizontale des Raums gewinnen. Diesen Raum, oder besser: diese Räume beschreibt der emeritierte Historiker in einem Potpourri von Einzelporträts: Er untersucht die Architektur von Wolkenkratzern, Bahnhöfen und Baseballstadien. Er erkundet Verkehrswege wie Eisenbahnnetze, Greyhound-Verbindungen und Flughäfen.

Schlögel preist die Freundlichkeit der Amerikaner und ihre Geduld, Schlange zu stehen.

Würdigt die Stahlstädte, Tankstellen, Shoppingcenter, Malls und Museen. Er preist die Freundlichkeit der Einwohner und ihre Geduld, Schlange zu stehen: »Vom disziplinierten Lining-up, ob an der Kasse des Supermarkts oder beim Einstieg ins Flugzeug, kann nur fasziniert sein, wer ein Leben lang das unübersichtliche Gedränge und Geschiebe in den Warteschlangen der Sowjetzeit erlebt hat. Dass Höflichkeit und Abstandswahrung gesellschaftliches Leben erst erträglich macht, versteht besser, wer am eigenen Leib die Rohheit des Umgangs im Alltag einer von ständiger Knappheit und Gewalt imprägnierten Gesellschaft erfahren hat.«

Solche Beobachtungen verblüffen und wirken im Kontrast zu seinen Russland­erfahrungen erhellend. Bei anderen lässt sich kritisieren, ob sie wirklich etwas zum tieferen Verständnis dieses Landes beitragen: etwa seine Eloge auf den Hoover Staudamm, dem er den Status einer »Ikone« verleiht, während er den Genozid an den indigenen Einwohnern auf weniger als 30 Seiten abhandelt.

Schlögel zeigt sich von der »Größe und Großzügigkeit Amerikas« fasziniert, möglicherweise auch dank mehrerer Gastaufenthalte als Wissenschaftler. Er räumt aber selbstkritisch ein, vielleicht einer Projektion aufzusitzen, denn natürlich habe er an dem Land vieles auszusetzen.

Eine kritische Auseinandersetzung gelingt ihm insbesondere bei dem Thema Rassismus. Zum Beispiel wenn er an den dritten Präsidenten der USA, Thomas Jefferson, erinnert, Plantagenbesitzer und Herr über Hunderte von Sklaven, der mit seiner schwarzen Sklavin mehrere Kinder gezeugt hatte. Trotzdem hetzte er in einem Pamphlet heuchlerisch: »Die Vermischung mit der anderen Farbe erzeugt Entwürdigung und Schande und kein Liebhaber dieses Landes, kein Liebhaber der Vortrefflichkeit der menschlichen Natur kann dazu gutgläubig seine Einwilligung geben.«

Amerika und sein Rassismus

Dass die Hautfarbe, die »Colour line«, ein grundlegendes Zukunftsthema sein würde, erkannte auch früh William Edward Burghardt Du Bois. Du Bois wurde als erster Schwarzer 1895 in Harvard mit der Arbeit »The Suppression of the African Slave-Trade to the United States« promoviert. Er beherrschte, so Schlögel, viele Register und Genres — soziologische Studien, ökonomische Analysen, schrieb Gedichte, Essays und Romane. Auf der Pariser Weltausstellung 1900 präsentierte er mit seinem Team eine »Exposition des Nègres d’Amerique«: Mit Karten, Schaubildern, Statistiken und Fotografien zeichnete er die Routen des transatlantischen Sklavenhandels, die demografische Entwicklung und Wanderbewegungen nach.

»Zwischen dem Völkermord in Vietnam und dem spöttischen Lächeln der Weißen über die schwarzen Amerikaner besteht ein direkter Zusammenhang.«

Auf den Schultern von Du Bois standen dann im 20. Jahrhundert die Bürgerrechtsbewegung und Martin Luther King. Schlögel zitiert dessen berühmte Rede beim Marsch auf Washington im Wortlaut. Er erinnert an Black-Panther und Black-Power, Malcolm X, Stokely Carmichael und Eldridge Cleaver: »Das amerikanische Rassenproblem lässt sich nicht länger isoliert besprechen oder lösen. Zwischen dem Völkermord in Vietnam und dem spöttischen Lächeln der Weißen über die schwarzen Amerikaner besteht ein direkter Zusammenhang.«

Aus der Vergangenheit die Zukunft verstehen

So unterschiedlich beide Bücher komponiert sind, belegen sie doch eindrucksvoll: Die Geschichte der USA steht auf den Füßen von Genozid und Rassismus. Falls das Wort des französischen Anthropologen Claude Levi-Strauss zutrifft, wonach niemand weiß, wohin er geht, wenn er nicht weiß, woher er kommt, könnte der Trumpismus dadurch zumindest teilweise zu erklären sein. Die USA sollten sich dieser Vergangenheit mehr vergegenwärtigen. Immerhin – ein Anfang ist gemacht: 2004 eröffnete das National Museum of the American Indian und zwölf Jahre später, 2016, nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen, das National Museum of African American History and Culture. Auch darüber schreibt Karl Schlögel.

Pekka Hämäläinen: Der indigene Kontinent. Eine andere Geschichte Amerikas. Antje Kunstmann, München 2023, 655 S., 48 €.

Karl Schlögel: American Matrix. Besichtigung einer Epoche. Hanser, Berlin 2023, 832 S., 45 €.

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