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Vor 50 Jahren erhält Willy Brandt den Friedensnobelpreis »Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein«

Die neue Deutschland- und Ostpolitik, die die sozial-liberale Koalition seit ihrem Amtsantritt im Oktober 1969 gegen alle Widerstände in Vertragswerke umsetzte, spaltete Politik und Nation in der Bundesrepublik. Für eine ständig größer werdende Mehrheit der Westdeutschen war sie nach den Verbrechen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg und zur Entspannung des Kalten Krieges der richtige Weg zur Aussöhnung mit den östlichen Nachbarländern. In West und Ost war mit ihr auch die Hoffnung verbunden, die Lebenssituation der Menschen in der DDR zehn Jahre nach dem Mauerbau zu verbessern. Auf der anderen Seite standen große Teile der CDU/CSU, ihre Anhänger, die Vertriebenenverbände und deren Mitglieder sowie viele andere, die in der Ostpolitik den Verrat deutscher Interessen, die Preisgabe ihrer Heimat und die Kapitulation vor den Kommunisten sahen. Am 27. April 1972 kulminierten im Deutschen Bundestag diese Gegensätze in einem Showdown: Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) stellte im Parlament den Antrag, Bundeskanzler Willy Brandt das Misstrauen auszusprechen. Grund war die anstehende Ratifizierung der Ostverträge, über die der Bundestag seit Ende Februar 1972 hitzig debattierte. Zu diesem Zeitpunkt waren die wichtigsten Vertragswerke der neuen Ostpolitik bereits unterschrieben – 1970 der Moskauer- und der Warschauer-Vertrag, 1971 das Transitabkommen und 1972 der Verkehrsvertrag mit der DDR. Es fehlte einzig der Grundlagenvertrag mit der DDR, der eine Formalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten beinhalten sollte.

Aufgrund der Tatsache, dass einige Mitglieder aus dem Regierungslager seit 1971/72 wegen der Ostpolitik zur Opposition übergewechselt waren und damit die dünne Mehrheit der Koalition zusehends schwand, sah die CDU/CSU ihre Chancen steigen, die Regierung zu Fall zu bringen und mit einem Bundeskanzler Rainer Barzel wieder an die Macht zu kommen. In den ersten drei Monaten des Jahres 1972 spitzte sich die Lage dramatisch zu: Noch ein Abgeordneter der FDP trat zur CDU über, sodass die Mehrheit der Regierungskoalition im Bundestag nicht mehr vorhanden war. Der große Wahlerfolg der CDU bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 23. April (sie hatte mit 52,9 % die absolute Mehrheit erreicht) ermutigte die Parteiführung um Rainer Barzel nun der Regierung und ihrer verhassten Ostpolitik endgültig den Todesstoß zu versetzen. Die Abstimmung ergab für Rainer Barzel 247 Stimmen, 249 wären aber für einen Erfolg erforderlich gewesen. Zwei Stimmen aus der Union fehlten. Dass diese von der DDR-Staatssicherheit gekauft worden waren, ist eine andere Geschichte. Das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Willy Brandt und seine neue Deutschland- und Ostpolitik erlaubte es ihm und seiner Regierung, die Ratifizierung der Ostverträge abzuschließen und durch den Grundlagenvertrag mit der DDR das Gesamtvertragswerk zu vollenden.

Angesichts der heftigen Widerstände gegen die Ostpolitik ist es kaum nachvollziehbar, dass Willy Brandt wenige Monate vor diesem massiven Angriff auf seine politische Integrität, seine politischen Visionen einer Aussöhnung mit dem Osten nach dem Prinzip »Wandel durch Annäherung« und deren Umsetzung in praktische Politik als viertem Deutschen der Friedensnobelpreis verliehen worden war. Während Brandt aber innenpolitisch schwere Zeiten durchzustehen hatte, erntete er außenpolitisch viel Beifall für seinen mutigen Kurswechsel. Er erkannte und nutzte die Chancen, die auf internationaler Ebene eine Annäherung zwischen den Blöcken für Deutschland mit sich brachte und wurde zum Aushängeschild dieses Prozesses. Am 20. Oktober 1971 – im Bundestag wurde kontrovers über den Haushalt debattiert – unterbrach Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) gegen 17.00 Uhr plötzlich die Sitzung. Das Bundestagsprotokoll vermerkt dazu:

Ehrung für einen »guten Deutschen«

»Meine Damen und Herren, ich unterbreche unsere Beratungen für einen Augenblick. Ich erhalte soeben die Nachricht, daß die Nobelpreiskommission des norwegischen Parlaments heute dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland den Friedensnobelpreis verliehen hat. (Anhaltender Beifall bei der SPD, der FDP, auf der Regierungsbank sowie teilweise bei der CDU/CSU. – Die Vorsitzenden der Fraktionen gratulieren dem Bundeskanzler. – Die Abgeordneten der Regierungsparteien und die Mitglieder des Bundeskabinettes erheben sich während der Beifallsbekundungen; einige Abgeordnete der CDU/CSU schließen sich an.) Herr Bundeskanzler, diese Auszeichnung ehrt Ihr aufrichtiges Bemühen um den Frieden in der Welt und um die Verständigung mit den Völkern. Der ganze Deutsche Bundestag gratuliert ohne Unterschied der politischen Standorte Ihnen zu dieser hohen Ehrung.« Hier irrte Bundestagspräsident von Hassel. Die meisten Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion blieben sitzen und zollten dem Bundeskanzler für diese hohe Auszeichnung keine Anerkennung – im Gegenteil: Man befürchtete – nicht ganz unbegründet – dass nun die Diskreditierung der Deutschland- und Ostpolitik und des Bundeskanzlers schwieriger als bisher werden könnte. Am 24. Oktober 1971 stellte Der Spiegel dazu fest: »Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt, in der Welt fast einhellig als Ehrung eines ›guten Deutschen‹ und eines gewandelten Deutschland gewertet, stellt zugleich Weichen für die westdeutsche Innenpolitik: Der Opposition wird es nun schwerer, die Ostverträge abzulehnen und den Bundeskanzler des Ausverkaufs deutscher Interessen zu bezichtigen.«

Um dieses »Problem« zu minimieren, begann dann auch unmittelbar nach der Bekanntgabe der Preisverleihung an Willy Brandt eine massive Schmutzkampagne gegen den Kanzler und die Auszeichnung. Hierbei knüpften die politischen Gegner Brandts nahtlos an ihre Diffamierungskampagnen der 60er Jahre an, durch die der damalige Kanzlerkandidat der SPD vor allem wegen seines Exils, seiner unehelichen Geburt und seines vermeintlich unmoralischen Lebenswandels politisch erledigt werden sollte. Auch im Jahr 1971 traf sich hierbei erneut eine Allianz aus Springer-Presse, anderen rechtskonservativen Blättern und CDU/CSU-Politikern. Gemeinsam schickten sie sich umgehend an, Falschmeldungen über die Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt in die Welt zu setzen und damit sowohl Zweifel an der Legitimität des Preises als auch an der ausgezeichneten Person und seiner Politik zu säen. Seitens einiger CDU-Abgeordneter und der rechtskonservativen Presse wurde laut über eine »Verschwörung der Sozialistischen Internationale« gemutmaßt, die dem »Genossen Brandt« den Friedensnobelpreis zugeschustert hätte. Die Tatsache, dass Willy Brandt während der NS-Zeit im norwegischen Exil war und hier viele Politiker, so auch die Vorsitzende des Nobelpreiskomitees Aase Lionæs, persönlich kannte, wurde ebenso für Verschwörungstheorien missbraucht. Um eine parteipolitisch-sozialistische Verschwörung zu konstruieren und in die Welt zu setzen, wurde bewusst unterschlagen, dass im Nobelpreiskomitee eine bürgerliche Mehrheit bestand.

Diffamierungskampagnen

Springers Blätter und andere rechtskonservative Zeitungen verbreiteten ähnliche Falschmeldungen und liefen zur Höchstform auf. Die BZ stellte fest, dass Brandt eigentlich ja »noch keine der Nobel-Bedingungen erfüllt« habe. Ins gleiche Horn blies die Berliner Morgenpost. Das Handelsblatt stellte die Frage »Was hat sich die Nobelpreiskommission des norwegischen Parlaments gedacht, als sie Bundeskanzler Willy Brandt den Friedensnobelpreis für dieses Jahr verlieh?« Die Antwort wurde gleich mitgeliefert, es sei »unklug«, »problematisch« und sähe »leicht wie Parteinahme aus«. Die Wirtschaftswoche ging noch einen Schritt weiter und behauptete mit Bezug auf westliche Geheimdienstquellen, dass zwei von fünf Stimmen für Brandt gekauft gewesen seien. Die Speerspitze der Kampagne bildete Springers Welt. Nicht nur, dass die Meldung über die Preisverleihung zunächst versteckt mit der Überschrift »Einen Freiheitspreis hat Nobel nicht gestiftet« im Blatt präsentiert wurde, sondern die Arbeit und die Auswahl wurde in weiteren Artikeln grundsätzlich infrage gestellt – man könnte von einer Desinformationskampagne sprechen. Auch die Welt bemühte das Bild einer sozialistischen Verschwörung, sprach dem Nobelpreiskomitee die Kompetenz ab, indem behauptet wurde, dass es sich schwertue »eine überzeugende Wahl zu treffen«. Darüber hinaus würden vor allem Linke mit der Auszeichnung bedacht »man ist es gewohnt, daß der Friedensnobelreis ähnlich wie der Nobelpreis für Literatur progressiv oder gar revolutionär denkenden und handelnden Geistern vorbehalten ist« war zu lesen. Daraus zog man den Schluss, dass Brandt ja wunderbar in dieses »Dunkel der Schatten über den Nobelpreisen« passen würde.

Anders als in der ersten Hälfte der 60er Jahre fielen diese Diffamierungskampagnen bei einer Mehrheit der Bevölkerung jedoch nicht mehr auf fruchtbaren Boden. Der Ostpolitik und dem politischen Erfolg Willy Brandts konnten sie letztlich nichts mehr anhaben. Dennoch zeigt die erneute Diffamie-rungskampagne die massive Zerrissenheit der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft im Hinblick auf die Ostpolitik der Regierung Brandt. Darüber hinaus trugen diese Falschmeldungen sicherlich mit dazu bei, die politische Polarisierung anzuheizen, indem die Verhinderung der Ostpolitik zur Schicksalsfrage der Nation hochstilisiert wurde. Vor diesem Hintergrund fühlten sich CDU/CSU und Oppositionsführer Rainer Barzel ein gutes halbes Jahr später in ihrem Vorhaben, die Regierung Brandt zu stürzen, bestärkt.

Die Macht des Dialogs

Dennoch: Allen Anfeindungen zum Trotz, nahm Willy Brandt am 10. Dezember 1971 in Oslo den Friedensnobelpreis entgegen – bis heute der einzige, der an einen bundesdeutschen Politiker verliehen wurde. In seiner Rede entwarf Brandt seine Vision von einem zukünftigen Deutschland und Europa in der Welt. Die Rede zeigte die Zukunft Europas in einer Europäischen Union auf, sie war ein Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft und betonte die Notwendigkeit der Koexistenz zwischen den damaligen Blöcken. Die zentrale Botschaft aber ist, dass »eine Politik für den Frieden (….) die wahre Realpolitik dieser Epoche« sei – Krieg sei »nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio«. »Krieg (…) [dürfe] kein Mittel der Politik sein. Es gehe darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur sie zu begrenzen« Brandt schloss seine Rede mit dem Appell: »Alle, die Macht haben, Krieg zu führen, möchten der Vernunft mächtig sein und Frieden halten.«

Heute scheint die Utopie einer friedlichen Welt ferner denn je. Was aber bleibt, ist die Idee einer politischen Zukunftsvision und der Glaube an die Macht des Dialogs und der Diplomatie – dieses zentrale Anliegen Willy Brandts ist nach wie vor aktuell. Und genau daran fehlt es heute im politischen Alltagsgeschäft, wo vielfach nur noch auf Sicht gefahren wird und langfristige politische Visionen fehlen. Der lange Atem der Politik, der heute angesichts der drängenden Probleme zukunftsentscheidend sein könnte, ist wichtiger denn je. Willy Brandts »Politik der kleinen Schritte« hat gezeigt, dass langfristige Veränderungen durch Verträge, durch Diplomatie und Annährungen möglich sind – ohne seine beharrliche Deutschland- und Ostpolitik wäre der Boden für das Ende der Blockkonfrontation wohl kaum bereitet gewesen. Im Dezember 1971 hätte wohl niemand geglaubt, dass 18 Jahre später die Mauer fallen würde und der Kalte Krieg Geschichte ist.

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