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Das Jahr 1918: Kriegsende, Revolution, Demokratie Der lange Schatten des Ersten Weltkriegs

Der verlorene Weltkrieg und der Versailler Vertrag waren Belastungen, an denen die Weimarer Republik zugrunde gegangen ist. Aber nicht nur allein daran. Denn womöglich hätte die Weimarer Republik politisch überlebt, wenn es nicht zur Finanz- und Wirtschaftskrise von 1929 gekommen wäre. Davor war es Außenminister Gustav Stresemann gelungen, einige der drückendsten Bestimmungen des Friedensver-

trags zu lockern; die Reparationsforderungen hatte man ebenfalls erleichtert, und eine weitere Minderung der französisch-belgischen Forderungen stand in Aussicht.

Weimar ist keineswegs allein an Versailles gescheitert. Aber die Niederlage im Weltkrieg, die Pariser Friedensordnung, dazu der revolutionäre Sturz der Monarchie in Deutschland, die anschließenden Auseinandersetzungen innerhalb der Linken über die Reichweite der Revolution und die Art der neuen Ordnung, schließlich die bis 1923 immer wieder aufflammenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Kampfverbänden: All dies hat sich wie ein dunkler Schatten auf die erste deutsche Demokratie gelegt. Aus diesem Schatten ist sie nie herausgetreten. Im Vergleich zur Weimarer Republik waren die Startbedingungen der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich günstiger – trotz der viel größeren Zerstörungen, der riesigen Zahl an Flüchtenden und der ungeheuerlichen Verbrechen, die das Nazi-Regime begangen hatte. Im Unterschied zu 1918 gab es 1945 an der Niederlage der Deutschen keinen Zweifel. Diese uneingestandene Niederlage war die erste Last, die der neuen Demokratie aufgebürdet wurde. Bis in den Frühsommer 1918 hinein herrschte in weiten Kreisen der Bevölkerung die Auffassung vor, Deutschland werde den Krieg, wenn nicht gewinnen, so doch mit einem politisch akzeptablen Frieden beenden. Zwar hatte die Frühjahrsoffensive nicht den von ihr erhofften durchschlagenden Erfolg gehabt, aber die eigenen Truppen standen nach wie vor tief in Frankreich, und im Osten hatten sie riesige Räume erobert, aus denen Brotgetreide und Fleisch herausgepresst wurden, um zu vermeiden, dass es noch einmal zu einem »Steckrübenwinter« wie 1916/17 kommen würde.

»Im Felde unbesiegt«

Umso überraschender war dann für Viele das deutsche Waffenstillstandsersuchen im Herbst 1918 und die bald darauf ausbrechenden Meutereien in Flotte und Heer. Dem folgte der Sturz der alten Ordnung, symbolisiert durch die Abdankung des Kaisers. Mit einem Schlag lag die politische Macht in Deutschland buchstäblich auf der Straße, und die Frage stand im Raum, wer sie aufheben würde. Die militärische Führung arbeitete an der Erzählung, das Heer hätte weiterkämpfen und einen ehrenhaften Frieden erzwingen können, wenn ihm die Heimat nicht »in den Rücken gefallen« wäre, woraus dann später die »Dolchstoßlegende« wurde. Selbst der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert begrüßte die nach Berlin zurückkehrenden Truppen mit dem Satz: »Kein Feind hat Euch überwunden«. Ebert dürfte das nicht nur aus politischem Kalkül heraus gesagt haben: Als Prinz Max von Baden – der letzte vom Kaiser ernannte Reichskanzler – den Sozialdemokraten (in einem verfassungsmäßig nicht vorgesehenen Akt) mit der Bemerkung zu seinem Nachfolger ernannte, er übergebe ihm »das Reich zu treuen Händen«, soll dieser geantwortet haben: Darauf könne er sich verlassen, schließlich habe er dem Reich zwei Söhne geopfert. Diese Einstellung teilten viele Sozialdemokraten: Die Gefallenen und Verwundeten aus ihren Reihen zeigten, dass Deutschland auch ihr Vaterland war. Zugleich begründeten diese Opfer ihren Anspruch auf Teilhabe an der politischen Macht. Aber die Genossen hatten darauf gesetzt, an dieser Macht beteiligt zu werden, und nicht damit gerechnet, dass sie ihnen schlagartig zufallen würde. Man kann nicht sagen, dass die Männer an der Spitze der SPD überfordert waren, aber ihr Handeln war doch eher durch taktisches als durch strategisches Denken geprägt.

Klären musste die Partei- und neue Regierungsspitze als erstes das Verhältnis zu den anderen Akteuren, die in dieser offenen Konstellation eine Rolle spielen würden. Das waren die Führung des Heeres auf der einen Seite und die revoltierenden Matrosen und Soldaten auf der anderen. Man hat der sozialdemokratischen Führung im Nachhinein vorgeworfen, sie habe sich in dieser Situation zu sehr der Militärführung als Vertreterin der alten Ordnung angenähert und zu wenig auf die Revolutionäre aus Marine, Heer und Arbeiterklasse gesetzt, sich also nach rechts geöffnet und nach links abgeschottet. Das sei überhaupt das politische Verhängnis der Deutschen gewesen: dass sie – im Unterschied zu ihren westlichen Nachbarn – zu einer wirklichen Revolution unfähig waren. 1848/49 habe man in der Frankfurter Paulskirche diskutiert, statt die Barrikadenkämpfe in Berlin und Wien entschlossen zu nutzen; und 1918/19 habe die SPD zunächst gezögert, die Revolution voranzutreiben und sie schließlich im Bündnis mit rechten Freikorps zerschlagen – in Berlin wie in München. Hätte die Sozialdemokratie anders gehandelt, so der Subtext, wären den Deutschen der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg erspart geblieben. Was ist an dieser These dran?

Die Angst vor dem Bürgerkrieg

Solche kontrafaktischen Geschichtsentwürfe lassen sich weder bestätigen noch widerlegen. Aber sie müssen auf ihre Plausibilität hin befragt werden. Wäre die Revolution in Deutschland anders verlaufen, wären die Folgen der Kriegsniederlage dieselben geblieben? Und ob Deutschland die Finanz- und Wirtschaftskrise am Ende der 20er Jahre dann erspart geblieben wäre, ist mehr als fraglich. Vergegenwärtigt man sich die Lage, in der sich Ebert und andere vor genau 100 Jahren befanden, so hatten sie in der Militärführung einen Verhandlungspartner, mit dem sie belastbare Absprachen treffen konnten, während die Revolutionäre vielstimmig und, wie nicht anders möglich, schlecht organisiert waren. Absprachen mit den Aufständischen dauerten lange, und ob sie als verbindlich anzusehen waren, ließ sich nicht voraussehen. Da aber schnelle Entscheidungen getroffen werden mussten, bot sich die Militärführung sehr viel eher als Verhandlungspartner an als die Revolutionäre. Die Zusammenarbeit mit ihnen im Rat der Volksbeauftragten stand ohnehin unter keinem guten Stern und scheiterte schnell. So kam es, dass Ebert die entscheidende Absprache mit General Wilhelm Groener traf.

Warum aber setzte die SPD-Führung im Herbst 1918 überhaupt auf Ordnung und nicht auf Revolution? Unübersehbar hatte das mit den revolutionären Veränderungen in Russland zu tun, wo auf den Sturz des Zaren im Februar 1917 die bolschewistische Revolution gefolgt war. Dabei handelte es sich in den Augen der darin durchaus marxistisch denkenden deutschen Sozialdemokraten eher um einen Staatsstreich als um eine Revolution, und es zeichnete sich inzwischen ab, dass Russland vor einem Bürgerkrieg stand. Letzteres wollte die SPD-Führung im eigenen Land unter allen Umständen vermeiden. Sie war überzeugt, ihre politischen Ziele auch bei einem geordneten Machtwechsel erreichen zu können, und bezweifelte, dass sich die Revolutionäre im Falle eines bewaffneten Kampfes lange an der Macht halten würden. Das hieß, dass man die nach dem schnellen Zerfall des alten Regimes mehr und mehr zerfallende Revolution beenden und geordnete Verhältnisse herstellen musste. Obendrein ging es darum, die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, denn nicht zuletzt wegen einer immer schlechter werdenden Situation war es in den letzten Kriegsmonaten zu Streiks der Arbeiterschaft gekommen. Auch bei den Meutereien der Soldaten hatte die Versorgungslage eine Rolle gespielt. Aus Sicht der SPD-Führung war der von ihr eingeschlagene Kurs »alternativlos«.

Das zentrale Problem, mit dem es die erste deutsche Demokratie zu tun hatte, war also das Zusammentreffen von überraschender Niederlage und unerwartet harten Friedensbedingungen der Siegermächte mit einer Revolution, deren Protagonisten gänzlich unterschiedliche Erwartungen hatten: Während sich die einen vom Sturz des Alten politische Gleichberechtigung und soziale Besserstellung versprachen, folgten andere dem sowjetischen Vorbild und setzten auf den radikalen Umsturz nicht nur der politischen, sondern auch der sozioökonomischen Verhältnisse. Diese Hypotheken lasteten schwer auf der Weimarer Republik. Aber sie hätte an ihnen, wie die kurze Zwischenblüte der Roaring Twenties von 1924 bis 1929 zeigt, nicht zwangsläufig scheitern müssen. Selbst die schwere Wirtschaftskrise am Anfang der 30er Jahre hätte gemeistert werden können, wenn die Regierungen eine andere Politik betrieben und die Wähler eine größere Weitsicht gehabt hätten. 1918 war ein Schicksalsjahr der Deutschen. Dass es ein Katastrophenjahr war, ist eine von Linken wie Rechten lancierte Wertung, die kaum zutrifft. Das wirkliche Katastrophenjahr war 1933, und »1933« war keineswegs eine direkte Folge von »1918«.

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