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Der moderne Gamer – Fakt und Fiktion

Wie sieht eigentlich ein Gamer aus? Ob man will oder nicht – diese Frage ruft im ersten Moment zahlreiche Klischees hervor: Gamer sind männlich, blass und betont »nerdig«, sie tragen T-Shirts mit Aufdrucken ihrer Lieblingsspiele und sind schlecht frisiert. Dieses Bild wurde vor Jahrzehnten etabliert und ist nach wie vor in vielen Köpfen existent, obwohl digitale Spiele doch zahlreichen Branchenvertreter_innen und Politiker_innen zufolge längst »in der Mitte der Gesellschaft angekommen« sind.

Und tatsächlich ist die Zielgruppe digitaler Spiele in Wirklichkeit weit vielfältiger. Spieler_innen sind im Schnitt 35,5 Jahre alt, entstammen allen Geschlechtern, unterschiedlichen Bildungskontexten und Regionen der Welt. Ähnlich wie auch Buch- oder Filmfans keine homogene Gruppe bilden, ist »Gamer« der Sammelbegriff für Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Vorlieben. Aus diesem Grund wird das Wort auch immer häufiger als nicht mehr repräsentativ und zeitgemäß gesehen.

In die Öffentlichkeit getragen wurde dieser Diskurs unter anderem durch Leigh Alexanders Artikel »›Gamers‹ don’t have to be your audience. ›Gamers‹ are over.« Diesen verfasste sie als Reaktion auf einen massiven Anstieg von Anfeindungen verärgerter Gamer gegen vornehmlich weibliche Spielejournalisten und -entwickler, durch die sie ihre Vormachtstellung in der Szene gefährdet sahen. Der Text ist eine frustrierte Abrechnung mit der Industrie und den vermeintlich prototypischen Spielern, die Alexander wie folgt beschreibt: »Sie stehen begeistert stundenlang in Warteschlangen herum, auf Veranstaltungen auf der ganzen Welt, um das zu sehen, was die Marketingstrategen ihnen zeigen wollen. (…) Sie wissen nicht, wie man sich anzieht oder verhält. Fernsehkameras schwenken über die apathisch Wartenden und fangen oft die Gesichtsausdrücke von Menschen ein, die selbst nicht wirklich wissen, warum sie dort eigentlich herumstehen.«

Der Artikel bedient also genau jene Vorurteile, von denen man längst glaubte, sie hinter sich gelassen zu haben. Im Kern enthält er aber einige wichtige Thesen zur Gamer-Kultur und – damit verbunden – einer Identität, die immer schwerer zu definieren ist. Gaming, so Alexander, war bisher vor allem von Konsum geprägt: Man wartete sehnsüchtig auf die neuesten technischen Errungenschaften, bessere Grafiken sowie komplexere Spielerfahrungen und erkaufte sich mit den Produkten nicht nur spannende Zeitvertreibe, sondern auch die Zugehörigkeit zu einer stark isolierten und homogenen Gruppe, die von der Industrie in höchstem Maße hofiert wurde. Wer sich in der Schule, in der Familie oder am Arbeitsplatz ausgegrenzt sah, konnte sich zumindest in der Spieleszene heimisch fühlen und mit Gleichgesinnten austauschen.

Die Spielemagazine als Sprachrohr dieser Kultur verstärkten den Hype um höhere Bildfrequenzen und hochauflösendere Texturen und sorgten so dafür, dass das Interesse an neuen Produkten langfristig erhalten blieb. Mehr noch aber trugen sie dazu bei, das klar definierte Bild des Gamers zu erhalten, das in den 80er Jahren etabliert und insbesondere im darauffolgenden Jahrzehnt verfestigt wurde. Dabei war es nicht immer so eindeutig: Zwar sprachen digitale Spiele aufgrund ihres Ursprungs in den Computerwissenschaften vor allem weiße Männer an, doch gab es in den 70er und frühen 80er Jahren keine feste Zielgruppe für Unterhaltungselektronik.

Die US-amerikanische Game-Designerin Carol Shaw, die als erste Frau beim US-Unternehmen für Unterhaltungselektronik Atari arbeitete, sagte hierzu in einem Interview: »Wir haben nie darüber nachgedacht, wer unsere Zielgruppe war. Wir fragten nicht nach dem Geschlecht oder dem Alter. Wir machten einfach nur Spiele, von denen wir glaubten, dass sie Spaß machen könnten.« Freilich wurde die Zielgruppe durch äußere Faktoren eingegrenzt, denn zu Hause spielen konnte nur, wer über das nötige Kleingeld verfügte, und technische Spielereien galten tendenziell als Männerdomäne. Dennoch wurde das neugierige Ausprobieren der frühen Heimkonsolen als kollektive Aktivität empfunden und auch entsprechend beworben. Werbeanzeigen aus dieser Zeit zeigten daher häufig die klassische Kernfamilie – bestehend aus Mutter, Vater, Sohn und Tochter – beim gemeinsamen Spiel. Mädchen und Frauen wurden also in ähnlichem Maße als Konsumentinnen angesprochen wie Jungen und Männer.

Das änderte sich erst 1983, als der übersättigte Videospielmarkt in sich zusammenbrach. Da die Industrie in ihren Anfängen über keine nennenswerten Qualitätskontrollen verfügte und im Prinzip jeder Mensch mit dem grundlegenden technischen Know-how Spiele entwickeln konnte, kursierten immer mehr mangelhafte Produkte, die das Vertrauen der Verbraucher_innen schwinden ließen. Zahlreiche Firmen mussten Insolvenz anmelden und Videospiele büßten einen erheblichen Teil ihrer Popularität ein, sodass die zuvor aufstrebende, junge Branche am Ende schien.

Dass dieser Tiefpunkt jedoch keinen Endpunkt darstellte, ist primär der japanischen Firma Nintendo zu verdanken, die heute für Spiele wie die »Super Mario«- und die »Zelda«-Reihe bekannt ist. Nintendos Geschäftsführung entschied, strenge Qualitätskontrollen einzuführen um so das Vertrauen der Käuferschaft zurückzugewinnen. Entscheidender und für das Bild des »Gamers« prägender war allerdings ein anderer Beschluss: Sämtliche Konsolen und Spiele des Konzerns wurden fortan als Spielzeug und explizit für Jungen beworben, da diese ersten Marktzahlen zufolge die Mehrheit unter den Spielefans bildeten. Andere Firmen folgten nach und nach diesem Beispiel.

Was aus Marketingsicht Sinn ergab, weil auf diese Weise Ressourcen zielgerichteter eingesetzt werden konnten, hatte langfristige Folgen, die bis heute spürbar sind. In den Werbeannoncen und Fernsehspots waren Männer fortan die einzig relevanten Akteure, während Frauen als erotisches Schmuckwerk, nervige Freundinnen oder strenge Mütter dargestellt wurden – also entweder als harmlose Dekoration oder als Störfaktoren. Die Ausgrenzung weiblicher Spielefans nahm bisweilen auch explizitere Züge an, etwa in Spots wie jenem zu »The Legend of Zelda: Ocarina of Time«, der 1998 im US-amerikanischen Fernsehen die Frage aufwarf: »Wirst du am Ende das Mädchen abbekommen – oder wie eines spielen?« Viele Nerds fühlten sich hierdurch auf zweierlei Arten angesprochen. Einerseits konnten auch sie, die oft in gesellschaftlichen Kontexten Ausgegrenzten, endlich ein Gefühl von Erhabenheit gegenüber einer anderen Personengruppe empfinden; und andererseits gab es ein ganzes Medium, das mit seinen spannenden, vielfältigen Erzeugnissen ihnen allein gehörte. Die Videospielszene als exklusiver Männerclub spendete Sicherheit durch Zugehörigkeit, Selbstbewusstsein durch Abgrenzung und zudem sehr viel Spielspaß.

Erst in den letzten Jahren wurde der Industrie mit zunehmender Deutlichkeit vor Augen geführt, welche Probleme aus diesen Marketingmaßnahmen resultierten. Heute droht eine lautstarke Minderheit von Spielern regelmäßig mit Boykottaufrufen oder gar tätlicher Gewalt, wenn Spiele nicht ihren Erwartungen entsprechen; sie bedrängen und bedrohen Journalist_innen, die sich für mehr Vielfalt in der Branche aussprechen; und sie bezeichnen spielende Frauen als »Fake Geek Girls«, die nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten. All dies sind Konsequenzen der kontinuierlichen Idealisierung einer kleinen Gruppe von Menschen, die bislang als Kunden wie Könige gefeiert wurden und gelernt haben, »ihr« Medium gegen alle Einflüsse von außen zu verteidigen, seien es nun voreilig geführte Killerspieldebatten oder kritische Betrachtungen des Mediums als Kulturgut. Diese Mentalität ist eng mit dem Gamer-Begriff verwoben, der in einem Klima der Abschottung entstanden ist und dem dieser Ursprung womöglich für immer anhaften wird.

Damit sei nicht gesagt, dass diese Selbstbezeichnung grundsätzlich problematisch ist oder abgeschafft werden sollte. Wer sich damit identifizieren kann, sollte sie auch weiterhin wählen können, ebenso wie passionierte Filmfans sich als Cineast_innen bezeichnen. Es ist aber an der Zeit, alternative Begriffe zu etablieren, um eine differenziertere Betrachtung der Spielerschaft zu ermöglichen. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Medienkonsument_innen sollte keine Qualifikation sein, die man sich erst mit viel Mühe erarbeiten muss. Wer sich gelegentlich in der Bahn die Zeit mit »Candy Crush Saga« vertreibt, darf sich aufgrund dieser Tätigkeit ebenso als Spieler_in bezeichnen wie ein Mensch, der täglich die Konsole oder den PC einschaltet und begeistert auf Achievement-Jagd geht.

Fakt ist, dass das Medium Spiel als Konsum- wie Kulturgut vielfältige Erfahrungen und Erzählwelten anbietet. Wie Leigh Alexander ausführt: »Wir wollen (…) Tragikomödien, Charakterskizzen, Musicals, Traumwelten, Familiengeschichten, Ethnografien, abstrakte Kunst. Wir bekommen all das, weil wir nun Kulturschaffende sind. Wir weigern uns, jemandem das Gefühl zu geben, von der Teilhabe daran ausgeschlossen zu sein.«

Wandel kann beängstigend sein und wenn man plötzlich keine Exklusivrechte mehr genießt, mag sich das anfühlen, als würde einem etwas weggenommen. Dabei ist in der gegenwärtigen Entwicklung digitaler Spiele das Gegenteil der Fall: Es wird unglaublich viel hinzugefügt. Es gibt nicht nur mehr Geschichten, Perspektiven und Rollenvorbilder, sondern vor allem immer mehr Menschen, mit denen man sich über seine Leidenschaft austauschen kann. In sich geschlossene Gruppen wird es in Fachforen, auf Spielebörsen und unter wettbewerbsorientiert spielenden Teams auch weiterhin geben. Das liebgewonnene Zugehörigkeitsgefühl muss also nicht verloren gehen, nur weil Spiele der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Das wachsende Interesse an digitalen Spielen ist eine großartige Chance, Verbindungen zwischen Menschen zu schaffen, die darüber hinaus nicht viel gemein haben, zwischen Generationen, Nationen und Geschlechtern. Wie die Konsument_innen aussehen und ob sie sich als Gamer_innen, Spieler_innen oder einfach nur als Hobbyisten bezeichnen, sollte dann nicht mehr ausschlaggebend sein. Denn Spiele sind für alle da.

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