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Sowjetische Filme der frühen Stalinzeit Der »neue Mensch« im revolutionären Russland

Nachdem die Bolschewiki mit der Gründung der Sowjetunion im Dezember 1922 den Bürgerkrieg beendet hatten, der auf die Revolution von 1917 gefolgt war, stand der neuen Ordnung scheinbar nichts mehr im Wege. Und diese neue Ordnung, da waren sich die Revolutionäre einig, brauchte einen »neuen Menschen«. Einen befreiten, gestählten, selbstlosen und gelehrten Menschen. Allerdings: Der »neue Mensch« war nirgendwo zu finden. Schließlich hatte der Großteil der russischen Bevölkerung Zarenreich, Hunger und Weltkrieg erlebt, war erniedrigt und geknechtet worden, war ungebildet und unkultiviert. Landauf, landab waren zwar Räte (Sowjets) entstanden – aber Kirche und Kneipe standen meist höher im Kurs als das gesellschaftspolitische Engagement.

Was also tun, um den »alten Menschen« zu überwinden? Leo Trotzki, der große Gegenspieler Josef Stalins, schlug bereits 1923 vor, eine bewusstseinsbildende Wunderwaffe zu nutzen: das Kino, das, so Trotzki, »mit einer nie dagewesenen überwältigenden Schnelligkeit ins menschliche Leben eingedrungen« sei. Das neue Medium war seines Erachtens attraktiv und ablenkend, es stand folglich in Konkurrenz zur Kneipe. Und es taugte zur Erziehung, machte nicht nur deswegen die Kirche obsolet. Der Film war sogar, wie Trotzki in einem Aufsatz verkündete, der den Titel Kneipe, Kirche und Kino trug, das beste »Instrument der Propaganda auf technischem, kulturellem, wirtschaftlichem, antialkoholischem, hygienischem, politischem Gebiet«.

Eine Auswahl dessen, was fortan in der jungen Sowjetunion an Spiel-, Dokumentar- und Trickfilmen entstand, haben die Filmhistoriker Alexander Schwarz und Rainer Rother nun in der filmedition suhrkamp unter dem Titel Der Neue Mensch – Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland gesammelt. In den Filmen aus den Jahren 1924 bis 1932, so heißt es im Klappentext, werde das (Wunsch-)Bild des jungen Sowjetstaats gezeichnet. Filme wie Bett und Sofa, Der Weg ins Leben oder Der Mann, der das Gedächtnis verlor präsentierten neue Frauen-, Familien und Heldenbilder, noch bevor der Stalinismus die Utopie zunichtemachte.

Vorstalinistisch ist die Sammlung trotzdem nicht, schließlich war Stalin seit 1922 Generalsekretär des Zentralkomitees der regierenden KPdSU. 1924 war zudem der Revolutionsführer Lenin gestorben. Spätestens mit dem Parteiausschluss des Kinofans Trotzki im November 1927 war die Macht des »Stählernen« mehr oder weniger uneingeschränkt. Doch zeugen die Filme von einem Phänomen, dass sich wohl in jeder »Gesellschaft sowjetischen Typs« (Sigrid Meuschel) findet: Obwohl die Herrschenden einen »Mythos der Monosemie« (Peter V. Zima) predigten, die Verfügungsgewalt über die Medien bei Partei und Staat lag und jede Kunstform der Zensur ausgesetzt war, blieb die Kunst ein Ort von Hegemoniekämpfen und Herrschaftsdiskursen, von Anpassungs- und Widerstandsverhalten gleichermaßen. Literatur, bildende Kunst und Film waren zwar der Herrschaft in gewisser Weise verpflichtet; gleichzeitig versuchten sie aber ein Feld zu behaupten, in dem auch künstlerische Regeln galten, das also zumindest teilautonom war. Dieser Anspruch war aus politischer Sicht nicht unproblematisch, ging es doch um nichts Geringeres als um die Definitionsmacht über die gesellschaftliche Wirklichkeit.

Übergangsmenschen

Letzteres gilt für die acht gesammelten Filme ganz besonders: Sie entstammen einem Genre, das die Herausgeber als »zeitgenössischen Film« vorstellen – deswegen fehlen in der Sammlung Sergei Eisensteins gleichzeitig entstandene Revolutionsfilme Panzerkreuzer Potemkin und Oktober. Die zeitgenössischen Filme sollten den Fokus auf den nachrevolutionären Alltag legen und auf die Menschen, die ihn prägen. Allerdings flimmerten auch hier nur selten idealtypische »neue Menschen« über die Leinwand: Die Protagonisten, so stellt der Filmhistoriker Alexander Schwarz dar, sind eher Übergangsmenschen, die Erweckungs-, Wandlungs- oder Bekehrungserlebnisse hinter sich haben. Beispielhaft dafür steht Iwan, der Protagonist aus Friedrich Ermlers 1929 uraufgeführtem Film Der Mann, der das Gedächtnis verlor. Iwan, traumatisiert in Welt- und Bürgerkrieg, wird nach zehnjähriger Amnesie seiner Vergangenheit gewahr. Er kehrt in seine Heimatstadt Leningrad zurück. Die Gegenwart des neuen, sowjetischen Russlands, verbildlicht in einer Stadtlandschaft voller Hochhäuser und neuer Verkehrsmittel, mutet den Erinnernden wie eine Reise in die Zukunft an. Iwans Odyssee durch die furchteinflößende Stadt endet schließlich in seiner ehemaligen Arbeitsstelle, einer inzwischen staatlichen Fabrik, in der er von seinem ehemaligen Chef in die neue Zeit eingeführt wird. Die Bekehrung, die damit einsetzt, macht auch vor dem Privaten nicht Halt: Für seine Frau und deren neuen Mann, einen Apparatschik, hat er aufgrund ihres bürgerlichen Lebensstils nur Verachtung übrig. Sie sind für ihn »klägliche Überbleibsel des Kaiserreichs«.

In diesen »kläglichen Überbleibseln« lässt sich ein weiteres Muster des zeitgenössischen Films entdecken: das der Antihelden, die deutlich weniger differenziert dargestellt werden als die »neuen Menschen«. Denn sie sind »alte Menschen«, stereotyp gezeichnete Alkoholiker, Bürokraten oder Kulaken, und sie sind allesamt Egoisten. Dieser Dualismus zwischen den »alten« und den »neuen« Menschen ist zweifellos prägend, steht er doch auch für den Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Ersterer galt als Geburtsstätte für Verkommenheit und Wolfsmoral, als Welt der reichen Müßiggänger, gewissenlosen Ausbeuter, Gangster, Kriegstreiber und Rassenhetzer. Doch mitunter, so ist zu bemerken, sind die »alten Menschen« auch mitten im neuen System zu finden, zum Beispiel im Fall von Brasjuk, dem Antihelden des 1931 uraufgeführten Films Das Leben in der Hand von Dawid Marjan. Brasjuks Alkoholismus führt zunächst zum Ausschluss bei der Produktion in der Landmaschinenfabrik, in der er eigentlich als guter Arbeiter bekannt ist, in der Folge zu Ärger mit den Kollegen und der Familie. Sein Niedergang ist schließlich total: Er stiehlt Gemeinschaftsgeld, verweigert eine Entziehungskur, wird aus seiner Familie und aus der Kommune verstoßen und schließt sich zuletzt einer klandestinen Gruppe von sabotierenden Kulaken an. Daraus, so hoffte man in der Sowjetunion, könne jeder die richtigen Schlüsse ziehen – sonst wollte man didaktisch noch weiter nachhelfen. So empfahl der Filmverleih als »Losung« für die Vorführungen von Das Leben in der Hand in Arbeiterklubs und auf dem Land einen Spruch von Anatoli Lunatscharski, bis 1929 Volkskommissar für Bildungswesen: »Eine vergiftete Lebensführung vergiftet auch die Arbeit.«

Der »neue Mensch« als Schablone

Dass der sowjetische Film nicht nur mit den Monumentalwerken Eisensteins den Anspruch hatte, auch international zu wirken, beweist wiederum Der Weg ins Leben von Nikolai Ekk, in dem die sowjetische Sozialisierung der rund vier Millionen verwaisten Heranwachsenden, die Anfang der 20er Jahre durch das Land marodierten, thematisiert wird. Der erste sowjetische Tonfilm mit durchgängiger Tonspur, im Juni 1931 uraufgeführt, wurde mit erheblichem Werbeaufwand in 26 Länder vermittelt und 1932 auf den ersten Internationalen Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet.

Hintergrundinformationen wie diese machen das 60-seitige Booklet beinahe unerlässlich für eine historisch kontextualisierende Filmrezeption. Auch die hier versammelten Ausschnitte aus zeitgenössischen Texten von Leo Trotzki, Bruno Frei, Kurt Kersten, Alexandra Kollontai und anderen bieten vielfätige Eindrücke in die Utopie vom »neuen Menschen«. Gerade die zeitgenössischen Texte korrespondieren thematisch auffallend gut mit der formalen Vielfalt der acht Filme, in denen von den ästhetischen Schranken des Stalinismus (noch) nicht allzu viel zu spüren ist. Denn tatsächlich wurde der »neue Mensch« in den sozialistischen Gesellschaften mehr und mehr ideologisch funktionalisiert und manipulatorisch verkürzt. Das wiederum hatte zur Folge, dass er, längst zum Ideologem erstarrt, für viele Künstler spätestens ab den 70er Jahren höchstens noch als ironische Schablone taugte.

Einen Ausblick auf diese Entwicklung können die zeitgenössischen Filme natürlich ebenso wenig geben wie der einleitende Aufsatz. Doch führen sie bereits in das Spannungsfeld aus präskriptiven Vorgaben und künstlerischer Eigenwilligkeit ein, dass für jegliche Kunst in der Sowjetunion maßgebend war – und das auch in der sowjetischen Besatzungszone bzw. in der DDR galt. Auch dort sehnte man zunächst den »neuen Menschen« herbei. Denn Menschen, so schrieb Anna Seghers, langjährige Vorsitzende des Schriftstellerverbands der DDR, 1950 in ihrem Aufsatz Über die Entstehung des neuen Menschen, wandeln sich erst durch veränderte Besitzverhältnisse: Sie lernen aus freien Stücken, gewinnen eine neue Einstellung zur Arbeit und lassen nationalsozialistisches Gedankengut hinter sich. Diese Hoffnung, so lässt sich heute feststellen, war ebenso radikal wie ihr Scheitern.

Alexander Schwarz/Rainer Rother: Der Neue Mensch – Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland. DVD-Box mit Booklet, filmedition suhrkamp, Berlin 2017, 29,90 €.

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