Die Wahl von Joe Biden und Kamala Harris ist eine hervorragende Nachricht für die Welt und insbesondere für die Europäer, sowohl im Hinblick auf mögliche politische Konvergenzen als auch auf gemeinsame Werte: Ein wissenschaftlich fundierter Ansatz zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie, für Umweltschutz, Verteidigung der Freiheiten und Menschenrechte sowie Multilateralismus kehren in den Mittelpunkt der US-Politik zurück, und die populistische Welle, insbesondere gegen die EU, wird einen wesentlichen Bezugspunkt verlieren, sozusagen ihren strategischen Rahmen. Vor allem dürfen wir die historisch-globale Reichweite dieser wieder nach vorn weisenden Botschaft der führenden Supermacht in Bezug auf Rechte und soziale und ethnische Gerechtigkeit sowie zugunsten einer Neubelebung des Multilateralismus nicht unterschätzen. Folgende Schritte sind für einen neuen Schulterschluss mit der Welt unerlässlich: Wiedereinstieg in den Prozess, der mit dem Klimavertrag von Paris (COP 21) 2015 begann und in diesem Jahr in Glasgow (COP 26) fortgesetzt wird; eine voraussichtliche Wiederaufnahme der Verhandlungen mit dem Iran sowie ein konstruktiverer Ansatz für die internationalen Organisationen, von den Vereinten Nationen bis hin zur WHO und zur WTO.
Wir sind uns jedoch bewusst, dass diese symbolischen Botschaften und diese konkreten Neuansätze von einem hohen Maß an Kontinuität auf Seiten der USA begleitet sein werden. Das hat drei Gründe:
a) Biden weiß, dass der Wert seiner 81 Millionen Wählerstimmen – immerhin die höchste Anzahl, die je ein Kandidat erreicht hat – durch die 74 Millionen Stimmen von Trump geschmälert wird: Trotz der Skandale, der Fehler, der Arroganz überzeugte dieser ein Dutzend Millionen Wähler mehr als 2016. Der populistische Nationalismus ist immer noch stark und die Welle ist nicht verebbt. Er wird Bidens Politik sowie die westlichen Demokratien für mehrere Jahre beeinflussen.
b) Die Komplizenschaft vieler republikanischer Tenöre mit Trumps Weigerung, die Wahlergebnisse anzuerkennen, trotz der Diskreditierung, die dies für die amerikanische Demokratie auf globaler Ebene bedeutet, bestätigt, dass Trump die Mehrheit der Republikanischen Partei auf seiner Seite hat. Durch die Veränderung am Obersten Gerichtshof im konservativen Sinne (Verhältnis sechs zu drei Stimmen) hat sie dort für die nächsten 30 Jahre die Unterstützung, auch wenn sie nach den verlorenen Nachwahlen zum Senat im Bundesstaat Georgia ihre kleine Mehrheit im Senat verloren hat. Jo Biden und Kamala Harris werden gezwungen sein, einen schwierigen internen überparteilichen Konsens erzielen zu müssen, und deshalb unweigerlich nur sehr begrenzte Spielräume und wenig Zeit haben, um einen Schulterschluss mit ihren externen Verbündeten und Partnern anzustreben. Es sind diese internen Faktoren, die die neue Außenpolitik am stärksten belasten werden.
c) Ein letzter und wesentlicher Faktor sollte die Europäer davon überzeugen, sich nicht zu täuschen und eine realistische Analyse des geopolitischen Rahmens vorzunehmen, der das Handeln von Biden/Harris begrenzt: der Niedergang der internationalen Rolle der Vereinigten Staaten, die weder bereit noch in der Lage sind, eine hegemoniale Verantwortung im konstruktiven Sinne des Konzepts zu übernehmen, wie sie sie während der »30 glorreichen Jahre« übernommen hatten. Dieser Niedergang ist ein strukturelles, langfristiges Phänomen, das unweigerlich während der Präsidentschaft Biden weiterwirkt. Nach Angaben führender Vertreter der Politikwissenschaft, einschließlich der amerikanischen (v. a. Robert O. Keohane), begann dieser Rückzug 1971 mit der Entscheidung von Richard Nixon, das internationale Währungssystem von Bretton Woods auf der Grundlage des US-Dollars zu beenden, setzte sich dann mit der Distanzierung von multilateralen Organisationen während der Präsidentschaft von George W. Bush fort und wurde durch die »America-First«-Politik Trumps erheblich verschärft. Weder Bill Clinton noch Barack Obama konnten diesen historischen Trend umkehren.
In einer multipolaren Welt geht die Divergenz mehrerer wirtschaftlicher, kommerzieller und strategischer Interessen zwischen den beiden transatlantischen Verbündeten USA und EU mit Wertunterschieden einher, die beispielsweise Jürgen Habermas bereits 2005 dazu veranlasste, eines seiner Werke mit dem Titel Der gespaltene Westen zu versehen. Das Bündnis wird sich daher durch kreative Veränderungen anpassen müssen, um das demokratische Amerika mit dem neuen Status der EU in Einklang zu bringen. Letztere hat ihre historische Fähigkeit bewiesen, nicht nur den Auswirkungen des Brexit sondern auch der Gefahr eines Zerfalls während der Trump-Zeit standzuhalten.
Strategische Autonomie der EU im neuen geopolitischen Rahmen
Die Begeisterung der EU-Behörden und der -Regierungschefs über die Wahl von Joe Biden ist berechtigt. Die Hoffnung auf eine künftige Zusammenarbeit ist verbunden mit der Erleichterung über das Ende von vier Jahren voller Unsicherheiten, Handelskriege, wiederholten echten Demütigungen bei NATO- und G7-Treffen sowie politischen Differenzen bei grundlegenden Fragen in den Bereichen Umwelt, Handel, Umgang mit der Pandemie, Sicherheit, multilaterale Organisationen usw.
Nach der Amtsübernahme des neuen Präsidenten sollte die EU nun einen strategischen außenpolitischen Europäischen Rat einberufen. Dies hätte besser schon im Voraus stattgefunden. Es ist jedoch noch nicht zu spät, und die Initiative könnte laut Vertrag entweder vom Hohen Vertreter der GASP, Josep Borrell, oder von den wichtigsten Außenministern ausgehen. Die EU hat ein Interesse daran, zwei Fehler zu vermeiden: auf eine US-Initiative zu warten und nur zu reagieren sowie die sich bietende neue Chance zu unterschätzen. Sie sollte ihre konkreten Vorschläge für einen »neuen transatlantischen Deal« vorlegen und in eine neue globale Strategie einbetten, um damit das Mogherini-Dokument von 2016 zu vertiefen und zu aktualisieren. Der Vorschlag der EU vom 2. Dezember (A New Transatlantic Agenda for Global Change) ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber er ist noch nicht politisch stark genug. Mit passivem Warten auf Vorschläge von Joe Biden und dessen neuem Außenminister Antony Blinken würde die EU faktisch zum Modell des »Junior-Partners« innerhalb der NATO zurückkehren, das die europäischen Staats- und Regierungschefs immer vertreten und praktiziert haben, mit der Ausnahme von Charles de Gaulle und Willy Brandt in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die EU ist eine große wirtschaftliche und potenziell auch politische Macht: Sie sollte, wie Josep Borrell betont, eine Sprache der Macht auch auf transatlantischer Ebene sprechen.
New Deal für die transatlantischen Beziehungen
Der angestrebte New Deal sollte drei Hauptkapitel enthalten:
a) Die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA im Bereich der Bekämpfung der Pandemie, der allgemeinen Impfung und ab sofort eines ehrgeizigen Konjunkturplans nach COVID wäre nicht nur von unmittelbarem Nutzen für die Bürger auf beiden Seiten des Atlantiks, sondern auch Vorbild und eine Hilfe für die ganze Welt. Das ist auch der Wunsch des UN-Generalsekretärs António Guterres, der zu Recht vor dem großen Risiko einer historisch bespiellosen globalen Krise warnt. Die EU kann angesichts der mutigen Beschlüsse des Rates vom 21. Juli entschlossener bei der Verteidigung ihrer Standpunkte auftreten. Mit ihrem wirtschaftlichen Wiederaufbauplan übernimmt die EU die Führungsrolle bei der globalen Erholung nach der Krise in einer Welt, in der die USA und China aus unterschiedlichen Gründen ihre Soft Power verbraucht haben.
b) Im Bereich der Sicherheit ist es offensichtlich, dass sich für die NATO, die von Donald Trump als »obsolet« und von Emmanuel Macron als »hirntot« eingestuft wurde, die Frage nach einer Neudefinition ihrer nach dem Kalten Krieg und dem Scheitern in Afghanistan verblassten Identität stellt. Das »Strategische Konzept der NATO« von 2010 ist offensichtlich veraltet. Trotz der kleinen Schritte zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik (PESCO, 2018) wird die EU für die nächsten zwei Jahrzehnte die zusätzliche Sicherheitsgarantie der NATO gemäß Artikel 5 des Vertrags benötigen: Sie muss daher die von den USA geforderte Erhöhung des Verteidigungsbudgets um 2 % anbieten, aber nur im Austausch für ein neues strategisches Konzept einer »Partnerschaft der Gleichen« (laut dem Anspruch von John F. Kennedy, der aber bisher Wunschdenken blieb). In diesem neuen Rahmen können Pläne mit konkreten Konsequenzen gemeinsam diskutiert und aktualisiert werden, z. B. in den Bereichen »Sicherheitskooperation«, »Krisenmanagement«, »Intervention außerhalb des Gebiets«.
Der von US-Seite vorgeschlagene Summit of Democracies wäre unter der Bedingung akzeptabel, dass die »strategische Autonomie« der EU nicht eingeschränkt wird. Eine offene Diskussion darüber, beispielweise mit neuen politischen Beratern von Joe Biden, wie der nationalen Sicherheitsberaterin Jackie Sullivan und Akademikern, wie John Ikenberry (vom dem 2020 A World Safe for Democracy erschien) und anderen, sollte bald geplant werden. Wie können Menschenrechte und Demokratie besser geschützt werden? Durch eine harte Konfrontation oder durch eine Renaissance der Strategie »Wandel durch Annäherung«? Es ist klar, dass die EU nicht an einem geschlossenen Bündnis von Demokratien gegen Land X oder Y interessiert ist, insbesondere wenn letztere die Tendenzen zu einem neuen Kalten Krieg verstärken würden: Wir würden nicht riskieren, uns beispielsweise in ein verstärktes Militärbündnis gegen China oder Russland einspannen zu lassen, weil dies ein Weg mit katastrophalen Folgen wäre, der zur Blockade der Vereinten Nationen, der multilateralen Organisationen und zu regionalen Krisen führen müsste.
c) Die Beendigung der Handelskriege wird der erste Schritt auf dem Gebiet der erneuerten wirtschaftlichen Zusammenarbeit sein.
In der jüngeren Vergangenheit gab es trotz der ausgefeilten Handels- und Investitionsverhandlungen aus tieferliegenden Gründen (beim TTIP von 2013 bis 2016) Handelskriege zwischen der EU und den USA. Sie verschärften sich nach und nach durch den protektionistischen Druck innerhalb Europas und seitens der Vereinigten Staaten, der nicht nur von rechts kam, sondern auch von einem Teil der radikalen Linken in den Vereinigten Staaten, die in der Demokratischen Partei gut vertreten sind und kanalisiert werden.
Die Politik der USA und der EU gegenüber China ist offensichtlich nicht dieselbe, wie die scharfe amerikanische Kritik (J. Sullivan) an dem nach sieben Jahren Verhandlungen am 30. Dezember 2020 zwischen der EU und China geschlossenen Investitionsabkommen CAI (Comprehensive Agreement on Investment) sehr klar gezeigt hat. Wie könnte der transatlantische Dialog mit der Verteidigung unserer Interessen und unserer »strategischen Autonomie« verknüpft werden? Es könnte 2021 zu einer entscheidenden Machtprobe werden, wenn sich in einem schwierigen EU-Kontext einige Grüne auf Kosten des Vertrags zu profilieren versuchten.
Ratsam wäre die Wiederaufnahme und gleichzeitige Revision der TTIP-Verhandlungen, bei der die bisherige begrenzte Einigung (in den Bereichen Automobilindustrie und Digitales) durch eine US-EU-Initiative in der WTO zu ergänzen wäre, die die gemeinsamen Interessen gegenüber der Volksrepublik China zur Geltung bringt, die gleichzeitig Partnerin und Konkurrentin ist. Dazu gehören: Schutz des geistigen Eigentums, Technologietransfer und die Begrenzung staatlicher Subventionen. Als Voraussetzung für die EU muss natürlich der grundlegende Mechanismus der WTO-Panels durch die Rückkehr der USA zu einer konstruktiven Mitwirkung wiederhergestellt werden.
Diese Überlegungen beeinträchtigen keineswegs unsere Genugtuung über die schönste Nachricht des schrecklichen Jahres 2020, die Niederlage von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen. Wenn Europa die genannten Handlungsbedingungen jedoch ignoriert und versäumt, rasch Vorschläge für einen transatlantischen New Deal vorzulegen, riskiert es eine künftige Krise in den transatlantischen Beziehungen entweder aufgrund naiver und übertriebener Erwartungen oder mangels einer erneuten historischen Gelegenheit.
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