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Zum 200. Geburtstag von Theodor Storm Der Poet vom grauen Meer

Der alte Mann hatte Krebs. Richtig gesund scheint er nie gewesen zu sein. »Krampfhafte Nervenzustände«, Herzschmerzen, allgemeines Unwohlsein – solche Beschwerden haben ihn sein Leben lang begleitet. Die Diagnose des Arztes Emil Storm über seinen Bruder aus dem Jahre 1887 war eindeutig: »… unter dem linken Rippenbogen eine gänseeigroße harte Geschwulst, die wohl kaum etwas anderes sein kann als Krebs«. Das letzte Weihnachtsfest Theodor Storms wurde noch in alter Weise begangen. Und seine Familie hoffte, er werde nach dem Tod seines Sohnes Hans im Dezember 1886 noch eine gute Zeit haben. Der Dichter selbst spielte mit dem Gedanken, wieder nach Husum zurückzukehren, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich. Mit Mühe vollendete er Anfang Februar 1888 die Erzählung Der Schimmelreiter und schrieb noch den Anfang einer neuen Novelle, Die Armsünderglocke. Am Nachmittag des 4. Juli 1888 starb er auf seinem Alterssitz in Hademarschen.

Von seinem Ende her betrachtet ist dieses Dichterleben alles andere als glücklich verlaufen. Man muss Storms schwierige Persönlichkeit mit all ihren Fehlern und charakterlichen Mängeln nicht unbedingt lieben. Doch wird er als Poet von großem Format geachtet, trotz der »ewigen Husumerei«, die Theodor Fontane an seinem norddeutschen Dichterkollegen monierte, trotz seiner »goldenen Rücksichtslosigkeit« und Unzuverlässigkeit als Ehemann und Vater. Storm schwärmte für Kindfrauen, als Erzieher seiner Kinder war er eine Katastrophe. Aber was ihm einmal wichtig geworden war, hielt er mit allen Kräften fest: Ehefrau und Kinder, Freunde und Heimat, nicht zuletzt die Kunst. Sein letztes Lebensjahrzehnt war überschattet von der Sorge um den ältesten, dem Alkohol verfallenen Sohn Hans. Die Frage, ob nicht auch er, der Vater, am Lebensunglück des Sohnes seinen Anteil hatte, ließ ihn nicht los. In der Erzählung Hans und Heinz Kirch lässt sich diese seelische Erschütterung wahrnehmen. Überhaupt ist Theodor Storms Werk bestimmt von Leiden und Sorgen: die jahrelange Verbannung aus seiner geliebten Heimat durch die Dänen, das wirtschaftliche Bangen um seine vielköpfige Familie, der frühe Tod seiner ersten Frau Constanze Esmarch – diese äußeren Lebensdaten besaßen Gewicht und fanden Ausdruck als durchgehend spürbare Stimmung von Verzweiflung und Resignation, die auch ein charakteristisches Merkmal seiner Dichtung war.

Der exzentrische Heimatdichter

Storm gehört zu den Klassikern des Realismus in deutscher Sprache. Mit Erzählungen wie Der kleine Häwelmann, Pole Poppenspäler, Aquis submersus und Carsten Curator, vor allem aber mit dem berühmten Schimmelreiter behauptet er sich bis heute in den Schullehrplänen. Ihn als betulichen Heimatdichter abzutun, wird seinem Werk nicht gerecht. Dieses ist lyrisch geprägt, auch in den Erzählungen, mit einem balladesken Einschlag. In die Altersnovellen dringt immer stärker ein Element des Tragischen ein, nirgends stärker als im Schimmelreiter, jener herben Novelle vom Kampf des Deichgrafen Hauke Haien gegen die Engstirnigkeit seiner Mitbürger, als es um den Bau eines Deiches geht. Für Storm war die Novelle nicht mehr die knappe Darstellung einer ungewöhnlichen Begebenheit, sondern er verstand sie als Schwester des Dramas und strengste Form der Prosadichtung: »Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; sie stellt auch die höchsten Anforderungen der Kunst.« Der Schimmelreiter stellt zweifellos den Höhepunkt in Storms Schaffen dar und wurde zum Epos seiner nordfriesischen Heimat, ungeachtet der philologischen Erkenntnis, dass Storm diesen Erzählstoff wahrscheinlich nicht aus dem Nordfriesischen geschöpft hat. Aber er wird getragen von jenem »Element des Abenteuerlichen, Exzentrischen, Unregelmäßigen, Norm- und Glückswidrigen«, das nach Thomas Mann zu jeder künstlerischen Konstitution gehört und untergründig auch für Storm bestimmend war. Mehrfach hat er in seinem Werk das heikle Inzestthema berührt, etwa in der Ballade Geschwisterblut, die im literarischen Klub »Tunnel über der Spree« (dem auch Theodor Fontane angehörte) einige Entrüstung hervorrief. Storm verteidigte sich mit den Sätzen: »Die Darstellung der Leidenschaft darf nicht dadurch geschwächt werden, daß der Dichter sie zuletzt noch in irgendeiner Weise einem sittlichen Motiv unterordnet …« Geschrieben in denselben Märzwochen 1853, in denen Richard Wagner seine Operndichtung Die Walküre mit ihrer Darstellung einer skandalösen Geschwisterliebe publizierte.

Provinz plus Natur – als Bürgerpoet hat Storm die Husumer Welt erlebt und gestaltet wie kein anderer. Der am 14. September 1817 in der grauen Stadt am Meer geborene Advokatensohn hat seine Umgebung und ihre Gesellschaft freilich anders erfahren, als es die Storm-Verehrer später wahrhaben wollten. »Mir fehlen die Freunde, ich habe hier keinen, der mir einigermaßen nahestünde …«, schrieb er nach seinen Erfahrungen als Jurastudent an der Kieler Universität. Als die Dänen Schleswig-Holstein besetzten und seine Zulassung als Advokat kassierten, zog der junge Richter und Poet mit seiner Familie nach Potsdam ins ungeliebte Preußen. Hier lebte er, wie er es in Husum getan hat. Fontane notierte: »In Storms Potsdamer Hause ging es her wie in dem öfters von ihm beschriebenen Hause seiner Husumer Großmutter. Das Lämpchen, der Teekessel, dessen Deckel klappert, die holländische Teekanne daneben …« Fontane fügte immerhin hinzu: »Die Provinzsimpelei steigert sich mitunter bis zum Großartigen.« Karl Ernst Laage, der langjährige Leiter der Theodor-Storm-Gesellschaft, hat den Autor zwar gegen den Provinzialismus-Vorwurf verteidigt und auf Storms Beziehung zu einem Autor wie Iwan Turgenjew hingewiesen, dennoch wird es kaum gelingen, aus dem Husumer Storm einen weltläufigen Kosmopoliten zu machen. Sein bestimmendes Gefühl war, wie sein Bewunderer Thomas Mann anmerkte, »ein Heimweh, das durch keine Realität zu stillen ist, denn sie richtet sich durchaus aufs Vergangene, Versunkene, Verlorene«. Nicht im Widerspruch dazu steht das Urteil: »Er ist ein Meister, er bleibt.«

Weiterführende Literatur: Karl Ernst Laage: Theodor Storm zum 200. Geburtstag: Aufsätze, Untersuchungen, Dokumente. Boyens, Heide 2017, 152 S., 16,95 €.

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