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Ausgewählte Publikationen zum Jubiläumsjahr Der Rote Oktober

In Secondhand-Zeit, ihrer großen Chronik über den Zusammenbruch der Sowjetunion, zitiert die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch einen Zeitzeugen mit der Frage, was man wohl »in hundert oder fünfzig Jahren« über das Leben, das sich Sozialismus nannte, sagen werde; ob es gar ausgegraben werde wie das antike Troja? In der Tat: Obwohl das sowjetische Experiment vor nicht einmal drei Jahrzehnten endete, scheint seine Hinterlassenschaft heute ähnlich entrückt wie das sagenumwobene Troja. Dabei mussten wohl die Menschen vor 100 Jahren eine solche Auflösung für sehr unwahrscheinlich halten – schienen sie doch einem weltstürzenden Moment, dem Anbruch einer völlig neuen Zeit, beizuwohnen.

Angefangen hatte alles in der neutralen Schweiz, genauer in der Spiegelgasse 14 in Zürich. Die Schweiz, mit ihrem liberalen Asylrecht war traditionell ein Zufluchtsort für Revolutionäre und bereits im späten 19. Jahrhundert Rückzugsort für Pjotr Kropotkin, Michael Bakunin oder den Hitzkopf Sergei Netschajew, sollte auch für den späteren Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte, zum Ausgangspunkt seiner Reise in den folgenreichen Umsturz werden. Aufgeschrieben hat diese Geschichte nun die preisgekrönte britische Historikerin Catherine Merridale in ihrem neuesten Buch Lenins Zug. Die Reise in die Revolution. Dabei erzählt Merridale viel mehr als allein die waghalsige, diplomatisch höchst delikate und von Lenin selbst nur widerwillig im April 1917 unternommene Zugreise. Sie beschreibt die Verwerfungen des Ersten Weltkriegs, die Interessenkonflikte und Ränkespiele der beteiligten Großmächte, die letzten Atemzüge des 300-jährigen Reiches der Romanows.

Während die zaristische Armee einem Weltkrieg nicht gewachsen war und bereits bis zum Jahr 1916 fünf Millionen Gefallene, Vermisste und Verwundete zu beklagen hatte, strömten die von Entbehrungen gezeichneten Menschen in den urbanen Zentren des Zarenreiches auf die Straße. Allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 1917 gab es in der Hauptstadt Petrograd mit über 1.000 politischen Streiks rund viermal so viele Arbeitsniederlegungen wie im gesamten vorherigen Jahr zusammengenommen. Als die Soldaten Ende Februar den Befehl verweigerten, den Streik gewaltsam zu beenden, kam es zur Revolution. Es begann die Zeit der sogenannten Doppelherrschaft aus »Provisorischer Regierung« auf der einen und dem »Petrograder Sowjet« auf der anderen Seite. Zar Nikolaus II., als Oberbefehlshaber der Armee nicht vor Ort, sah sich durch die Entwicklungen in der Hauptstadt vor vollendete Tatsachen gestellt. Ihm blieb schließlich nach der Rückkehr nichts anderes übrig, als auf den Thron zu verzichten.

Das wiederum setzte Lenin im Exil unter Druck: »Das ist eine Überraschung. Es ist einfach unglaublich! Wir müssen unbedingt nach Hause, aber wie!« Nachdem er verschiedene Optionen abgewogen hatte, blieb am Ende allein die Möglichkeit, mit dem Zug von Zürich aus, durch Deutschland zur Ostseeküste nach Rügen, über Schweden und Tornio im Norden Finnlands, den finnischen Bahnhof im revolutionären Petrograd zu erreichen. Mit rund 30 Revolutionären, unter ihnen seine Frau Nadeschda Krupskaja, Karl Radek und Grigori Sinowjew, bestieg Lenin am 9. April 1917 ein keinesfalls plombiertes, dafür aber mit Kreide als »extraterritoriales Gebiet« ausgewiesenes Zugabteil. Am 16. April erreichte der Zug am späten Abend den finnischen Bahnhof. Noch in der Nacht schwor Lenin die Bolschewiki auf ein Programm ein, das am darauffolgenden Tag als »Aprilthesen« verkündet wurde und u. a. den Sturz der »Provisorischen Regierung«, die Beendigung des Krieges und die Errichtung einer Sowjetrepublik vorsah. Man belächelte Lenin, attestierte ihm gar manische Züge, da die Machtübernahme durch die Bolschewiki in weiter Ferne schien. Als Russland jedoch im militärischen und politischen Chaos versank, gab Lenin das kurzzeitig gewählte finnische Exil auf und übernahm im Oktober, nun vor allem auf die Roten Garden gestützt, zum vermeintlichen Wohle des Volkes die Macht. Die kurz davor verspotteten Forderungen wurden politische Wirklichkeit.

Historische Fernwirkungen

Nicht allein über die bittere Realität dieser Politik lässt sich in dem Buch Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium von Martin Aust sehr viel erfahren. Knapp und präzise, aber keinesfalls zu Ungunsten der Genauigkeit, werden dem Leser die politischen Erschütterungen vor Augen geführt, die Russland seit der Jahrhundertwende heimsuchten: Revolution 1905–1907, Erster Weltkrieg, Februar- und Oktoberrevolution 1917, schließlich der Bürgerkrieg 1918–1921. Vor allem die Einordnung der grassierenden Gewalt dieser Jahre und die damit verbundenen menschlichen Tragödien machen bei Aust gut ein Viertel des Textes aus. Auch wenn er die Verwerfungen des zerfallenden Imperiums eher technisch als »umgekehrt proportional zur Ausprägung des staatlichen Gewaltmonopols« charakterisiert, verdeutlichen seine Beschreibungen nur zu gut, was totaler Ordnungsverlust bedeutet. In Zahlen: »Der Bürgerkrieg kostete zehn Millionen Menschen das Leben, von denen die wenigsten in Kampfhandlungen starben. (…) Epidemien wie die Spanische Grippe, Typhus und Cholera sowie Hunger forderten die meisten Opfer.« Nach einigen Schlaglichtern auf die kurzzeitige Konsolidierung in der Phase der »Neuen Ökonomischen Politik« und die globale Ausstrahlung der bolschewistischen Revolution, entlässt der Bonner Osteuropahistoriker seine Leser mit dem Hinweis, dass man in Revolutionen nicht unbedingt lange lebt.

Ebenfalls den globalgeschichtlichen Maßstab der Oktoberrevolution nehmen auch die Herausgeber des außergewöhnlich angelegten Sammelbandes Hundert Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution in den Blick. Insgesamt elf Autoren, darunter namhafte wie Dietrich Beyrau, Alexander Vatlin und Irina Scherbakowa, blicken in Zehn-Jahres-Schritten immer wieder aufs Neue auf die Revolution von 1917. Dabei liest sich der Rückblick aus dem Jahr 1937, zum 20-jährigen Jubiläum und zugleich Beginn des Großen Terrors, natürlich anders als eine Erinnerung an die bolschewistische Revolution 50 Jahre nach dem Schlüsselereignis, also vor dem Hintergrund der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Die erinnerungspolitischen Bekenntnisse aus dem modernen Russland des Jahres 2017 mögen zwar manchem bizarr erscheinen, sie lassen sich aber auch als ethnologische Miniatur über die Sehnsucht nach Stolz und Stabilität lesen. Somit erzählt der Band »nicht die Geschichte der Revolution«, sondern öffnet den Blick dafür, »welche Wirkungsmacht Lenins Umsturz im vergangenen Jahrhundert und bis in unsere Gegenwart entfaltet hat«.

Universalgeschichte des Kommunismus

In dem Werk des Publizisten Gerd Koenen Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus geht es um nicht weniger als eine – wenn auch in »freihändiger Weise« unternommene – »Art Universalgeschichte des Kommunismus von den Uranfängen der Menschheit bis in die Zeit des Post-Kommunismus und bis heute…« Für diese Geschichte greift der Autor auf Anekdoten mythologischer Überlieferung ebenso zurück wie auf literarische und natürlich philosophische Zeugnisse, da all dies »zum eigentümlichen mind-set der Sozialisten und Kommunisten des 19./20. Jahrhunderts lebendiges Bildungsmaterial« lieferte. Somit ähnelt diese Erzählung eher einem Kaleidoskop, gleicht mehr einem Gruppenbild als einer stringent abgehandelten Ahnentafel. Die Perspektivenvielfalt ist faszinierend, die von Koenen hergestellten Verbindungen fallen teils überraschend aus, die Materialauswahl und ihre Bewältigung zeugen von einem eigenwilligen, auch biografisch motivierten Zugriff. Gerade darin jedoch ist der besondere Gewinn dieses keinesfalls leichten Buches zu sehen. Und so wäre es vermutlich ausgerechnet Die Farbe Rot, mit deren Hilfe der eingangs angeführte Zeitzeuge der Umbruchjahre 1989–1991 seine Ausgrabungen der Sowjetunion zu beginnen hätte. Jedenfalls setzten auch Koenens intensivste Grabungen kurz nach der Implosion des sowjetischen Experiments ein. Damals schrieb er: »Heute öffnen sich im Mutterland der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution endlich die Archive. Und gleichzeitig öffnen sich die Gräber. Das ist ein geschichtlicher Moment von furchtbarer Intensität. Inmitten der mehr oder minder dichtbesiedelten Kerngebiete Russlands – und keineswegs nur im hohen Norden oder im fernen Sibirien – ist der Archipel der Lager und ›Sondergebiete‹ wie ein urzeitliches Monstrum aufgetaucht.«

Der unbändige Tatendrang und die scheinbar endlose Fahrt ins Zentrum der erhofften Weltrevolution machen den besonderen Reiz der Geschichte aus, die Merridale lebendig werden lässt. Dabei irritieren zuweilen ein plauderhafter Tonfall und weitschweifige Dramatisierungen. Martin Aust hat demgegenüber ein viel nüchterneres Buch geschrieben, das eine vorzügliche Orientierung bietet und unbedingt zu empfehlen ist. Hat man sich bei ihm einen soliden Überblick verschafft, ermöglicht der Sammelband von Jan Claas Behrends, Nikolaus Katzer und Thomas Lindenberger eine aufschlussreiche Ergänzung. Ein Urteil über das schillernde Buch von Gerd Koenen fällt schwer. Vermutlich sehen nicht wenige gerade in der assoziativen, im positiven Sinne eklektizistischen Herangehensweise die herausragende Stellung dieses Werkes, wohingegen andere etwa die Weltgeschichte des Kommunismus von David Priestland vorziehen werden.

Catherine Merridale: Lenins Zug. Die Reise in die Revolution. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2017, 384 S., 25 €. Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium. C.H.Beck, München 2017, 279 S., 14,95 €. Jan Claas Behrends/Nikolaus Katzer/Thomas Lindenberger (Hg.): 100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution. Ch. Links, Berlin 2017, 350 S. 25 €. Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. C.H.Beck, München 2017, 1.133 S., 38 €.

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