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Wie die Eventkultur der zahlreichen Filmfestivals das Kino rettet Der rote Teppich endet nie

Filmfestivals – es gibt sie wie Sand am Meer. An mehr als 600 Orten feiert man das Kino, irgendwo rollen fleißige Hände immer einen roten Teppich aus. Wer nur auf die Landkarte der Filmfestivals schaut, mag sich um die Zukunft des Kinos kaum noch Sorgen machen.

Cannes, Königin der cineastischen Leistungsschauen, hielt im Mai Hof mit einem exzellenten Programm; bei ihrer älteren Schwester, der Mostra in Venedig, trifft man sich Ende August/Anfang September. Dazwischen liegen viele andere cinephile Reiseziele wie Annecy, München, Karlovy Vary, Marseille, Locarno.

Man könnte von einem Festival zum nächsten jetten und käme gut durchs Jahr ohne die eigene Wohnung zu betreten. Nach Venedig geht es erst richtig los: Mit all den vielen kleinen spezialisierten Herbstfestivals wie den Stummfilmtagen in Pordenone oder Bielefeld, der entspannten österreichischen Viennale, dem Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm oder dessen kleiner Schwester, der Duisburger Filmwoche. Während in San Sebastian, Mannheim/Heidelberg und Thessaloniki letzte internationale Premieren gefeiert werden, fassen lokale Filmfeste in Köln oder Hamburg bereits die Höhepunkte des Festivaljahres zusammen.

Und hat man den Jahreswechsel erst einmal hinter sich gebracht, kann man schon bald in Sundance sein, in Rotterdam und schließlich auf der Berlinale, wo der neue Jahrgang entkorkt wird: Das größte deutsche Filmfestival im Februar ist auch eines der gewaltigsten der Welt. Die Pressevorführungen beginnen um acht Uhr morgens und reichen bis in den späten Abend. Es gibt kaum jemanden, der sich dort nicht wenigstens eine Erkältung holt. Danach braucht man eigentlich erst einmal Urlaub. Am besten bei einem Filmfestival.

Der Erfinder der Filmfestspiele in Venedig, Graf Giuseppe Volpi, seines Zeichens Präsident der Biennale, beschloss im Jahre 1932 auch den Film zum Wettstreit der Künste einzuladen. Schließlich hatte sich das traditionell bilderfreudige Italien zu einem Land der Kinofans entwickelt. Zudem konnten die beiden Luxushotels am Lido etwas mehr Auslastung vertragen.

Noch heute erinnert ein »Sala Volpi« im Festivalgebäude an den faschistischen Politiker, der in den 20er Jahren unter dem Duce Finanzminister gewesen war. Die Stärkung des italienischen Kinos war eine erklärte Absicht, konnte aber nichts daran ändern, dass die Italiener noch in den 30er Jahren Hollywood den Vorzug gaben. Doch im Kriegsjahr 1940 war dann Schluss mit der Internationalität, das ehemalige Weltereignis wurde zu einem »Italienisch-deutschen Filmfestival« umgewidmet.

»Ideale Bühne gerade für die anspruchsvolleren amerikanischen Filme.«

1933 und in den Kriegsjahren 1943–45 fand kein Festival statt, weshalb 2023 die stolze Nummer 80 trägt. Direktor Alberto Barbera hat einen besonders guten Draht nach Hollywood, das seine Award-Season, die Premierenzeit poten­zieller Oscar-Anwärter, im Herbst beginnt. Gerade für die anspruchsvolleren amerikanischen Filme ist das italienische Traditionsfestival eine ideale Bühne. Im letzten Jahr gewann etwa mit dem Dokumentarfilm über die aktivistische Künstlerin Nan Goldin, All the Beauty and the Bloodshed eine amerikanische Indipendent-Produktion, Tár und Bones and All erhielten Einzelpreise.

Auch die Diktatur, der das Festival entstammt, hat sich am Lido etwas vom Pomp ihrer Finsternis bewahrt. Liebevoll wurde das neoklassizistische Casino restauriert mit seinen hohen Hallen und goldglänzenden Deckenornamenten. Zwischen den Festivalausgaben ist es eine beliebte Filmkulisse.

Wenig Einfluss haben dagegen die populistischen Politiker von heute. Auch Kulturminister Gennaro Sangiuliano, der den staatlichen Fernsehsender RAI für eine »Diktatur des politisch Korrekten« hält, wäre schlecht beraten, sich nicht im Glanz des Festivals zu sonnen.

Es ist leicht, über die Krisen der politischen Vernunft die Krise des Kinos zu vergessen, und darauf hat es Barberas Programm natürlich abgesehen. Als Hauptschuldige an der Misere hat die Branche Streaming-Portale wie Netflix ausgemacht, auch wenn deren eigentliche Spezialität, die innovativen Serienformate, nicht wirklich vergleichbar sind mit dem klassischen Filmangebot.

Schwerste Krise des Kinos seit den frühen 60er Jahren.

Cannes verweigert sich deshalb den Spielfilm-Angeboten von Netflix, Alberto Barbera heißt sie herzlich willkommen. Doch man kann nicht darüber hinwegsehen: Das Kino erlebt seine schwerste Krise seit dem Triumphzug des Fernsehens in den frühen 60er Jahren. Und die vielen Hundert Filmfestivals, diese Kinder und Kindeskinder von Venedig, sehen sich vor neue Aufgaben gestellt.  

Kuratorisches Vakuum digitaler Medien

Wir befinden uns in einer Zeit des Medienwandels. Früher gehörten Film und Kino schon technisch zusammen. Wer einen Film in idealer Qualität sehen wollte, musste dafür ein Kino besuchen. Da aber der reguläre, überwiegend kommerziell ausgerichtete Kinobetrieb kaum die Vielfalt der internationalen Produktion abdecken konnte, etablierten sich überall auf der Welt Festivals. Der erste Grund spielt heute keine Rolle mehr, das Heimkino liefert inzwischen exzellente Bilder. Der zweite Punkt gilt jedoch noch immer: Wer die ganze Vielfalt der Filmkultur erleben will, findet auch in den Streaming-Portalen nur einen kleinen Ausschnitt.

Und, wichtiger noch: Es gibt keinen Ersatz für die Vermittlungsinstanz, die ein Filmfestival darstellt. Erst die Auswahl aus einem stetig wachsenden Angebot lässt uns die Perlen überhaupt entdecken. Früher verstanden sich die Filmredaktionen der Fernsehsender als Vermittler internationaler Filmkultur. Heute bemühen sich die Algorithmen der Mediatheken um das Gegenteil: Sie versuchen uns mehr von dem zu zeigen, was wir bereits kennen.

Filmfestivals wissen um dieses kuratorische Vakuum der digitalen Medien und machen Entdeckungsreisen mehr denn je zu einem kollektiven Erlebnis. Gerade junge Zuschauer, die dem regulären Kino derzeit in dramatischer Weise abhanden kommen, schätzen den Eventcharakter und teilen die Entdeckerfreude. Filmfestivalbesucher bringen einen Vorschuss aus Neugier mit und eine höhere Überraschungsbereitschaft.

Der Medienwandel hat auch dazu geführt, dass sich das filmische Gedächtnis verkürzt. Filmklassiker sind im Fernsehprogramm kaum noch zu finden, einstmals weltbekannte Regisseure nur noch den älteren Zuschauerschichten bekannt. Repertoirekinos wie das weltbekannte Kino im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main existieren nur noch in wenigen Städten. Ihre schwinden­de Popularität hat viele Gründe. Zum einen hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass Filmkunst im allgemeinen Bildungskanon gleichrangig mit Literatur oder bildender Kunst rangiere. An den deutschen Universitäten fristet Filmgeschichte ein Nischendasein. Für sein Filmwissen kann man sich heute nichts mehr kaufen, es wird als das gesehen, was es einmal war: Liebhaberei.

Filmkultur lebendig halten

Aber sind die ersten Filmfestivals nicht aus genau dieser Liebhaberei gegründet worden? Man muss sich immer wieder daran erinnern: Als Graf Volpi 1932 das erste Filmfestival in Venedig gründete, stand die künstlerische Anerkennung des Mediums noch aus. Tatsächlich sind es die Liebhaberinnen und -liebhaber des Kinos, die heute gerade mit den kleinen lokalen und regionalen Festivals Filmkultur lebendig halten. Ganzen Filmformen, die aus dem Kino verschwunden sind, wie der Stummfilm oder der Kurzfilm, bescheren sie volle Häuser.

Allein in Frankfurt/M., das durch sein Filmmuseum ohnehin eine seltene cineastische Grundversorgung genießt, gibt es gleich mehrere spezialisierte Festivals von internationalem Rang. »Nippon Connection« im Juni gilt als weltweit wichtigste Präsentationsform des japanischen Films außerhalb Japans. Die von den Filmwissenschaftlerinnen Heide Schlüpmann und Karola Gramann begründete Kinothek Asta Nielsen betreibt feministische Filmgeschichtsschreibung in wechselnden Festivalformaten. Und das »Lichter Filmfest« im April hat sich neben seinem internationalen Programm zu einem wichtigen Debattenforum der deutschen Filmkunstszene entwickelt.

»In der Provinz haben sich Oasen der Cinephilie entwickelt.«

Im Schatten der internationalen Festivals haben sich gerade in der Provinz Oasen der Cinephilie entwickelt. Glücklich, wer in Bielefeld wohnt. In der Geburtsstadt Friedrich Wilhelm Mur­naus, des wohl bedeutendsten deutschen Stummfilmregisseurs, ist Filmgeschichte ganz besonders lebendig. Seit 33 Jahren veranstaltet ein Verein von Ehrenamtlern dort das »Film- und Musikfest«, ein Festival, das sich ausschließlich dem Stummfilm widmet.

Thematische Schwerpunkte betonen den kuratierten Charakter der Filmreihen, bei denen Klassiker auf Entdeckungen treffen. Alle Filme werden musikalisch live begleitet, doch die Musik drängt sich nicht in den Vordergrund. Und erfährt gerade deshalb eine besondere Wertschätzung: Wer als Stummfilmpianist nach Bielefeld kommt, fühlt sich wirklich in die 1920er Jahre versetzt: Man betritt kein Museum sondern ein normales Kino, prallvoll mit Menschen, die sich einfach an einem Film erfreuen wollen. Dass dieser stumm ist und möglicherweise seit 100 Jahren kaum gesehen, ist kaum ein Thema. Eine ganze Generation von Stummfilmfreundinnen und -freunden ist hier herangewachsen.

Eine andere Filmform, die ohne Filmfestivals vermutlich ausgestorben wäre, ist der Kurzfilm. In seiner goldenen Zeit reichte man im Kino das Dessert vor dem Hauptgang: Nicht wenige Zuschauer kauften ihre Karte für 20 Minuten Chaplin oder sieben Minuten Micky Maus und kümmerten sich erst in zweiter Linie um den Hauptfilm danach. Kurzfilme brachten Zeitstimmungen auf den Punkt, bedienten populäre Dramaturgien noch effektvoller als die Langfilme und standen für den Reiz des Neuen.

Etwa 80 Filmfeste gibt es in Deutschland, die auch Kurzfilme auf dem Programm haben; zahlreiche angesehene Festivals, die wichtigsten in Oberhausen, Hamburg, Regensburg, Dresden und Köln, widmen sich sogar ausschließlich dem Kurzfilm. In der Regel brauchen sie sich über einen mangelnden Zuspruch des überwiegend jugendlichen Publikums nicht zu beklagen. Mit unerschütterlicher Neugier empfängt man die Sammelprogramme, die umso besser ankommen, je bunter ihre Mischung zwischen Spielfilm und Doku, Farbe und Schwarzweiß, Realfilm und Animation ausgefallen ist.

Vor allem die deutschen Filmhochschulen in München, Berlin, Potsdam-Babelsberg, Ludwigsburg und die Lehrinstitute in Hamburg, Offenbach und Köln sind für den Boom verantwortlich.

»Die Toleranzschwelle des neugierigen Publikums könnte nicht höher sein.«

Diese kleineren Festivals unterscheiden sich deutlich vom weltberühmten, sogenannten »A-Festival« in Oberhausen, auf dem internationale Fachbesucher die Crème des künstlerischen Kurzfilms suchen, oft an der Schnittstelle zur musealen Film- und Videokunst. Die Toleranzschwelle des neugierigen Publikums könnte nicht höher sein. Im Gegenzug bekommt es Programme buntester Mischung: No-Budget neben teurem Kurzspielfilm, ernsthafte Kunst neben dem gespielten Witz, Dokumentarisches folgt auf Animiertes. Die Veranstalter der ambitionierten Festivals nutzen die Neugier, um schwierigeren, experimentelleren Filmen aus aller Welt ein Forum in den Wettbewerben zu geben.

Wer Jahr für Jahr seine liebsten Festivals besucht, kann sich fühlen, als hätte er dem Lauf der Zeit ein Schnippchen geschlagen. Alles ist augenblicklich wieder da: Mit der Lokalität auch eine bestimmte filmische Mentalität, ein Blick auf das Kino. Trifft man dann noch auf weitere Gäste vom letzten Jahr, kann es passieren, dass man in längst vergessene Diskussionen einsteigt, als sei es gestern gewesen. Und dann scheint es, als würden nur die Festivals älter, die mit immer höheren Zahlen auf den Plakaten werben, das 76. Cannes, das 80. Venedig – aber nicht wir. So halten die Festivals nicht nur das Kino jung, sondern auch uns, die Festivalnomaden.

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