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Digitale Abschottung als Teil des »russischen Wegs« Der Schalter ist noch nicht umgelegt

Russland geht einen eigenen Weg. Diese ideologische Maxime hat gerade wieder Konjunktur in der politischen Klasse des Landes. Die Idee eines russischen Exzeptionalismus ist allerdings nicht neu und hat historische Wurzeln im Zarenreich des 19. Jahrhunderts, als sich die Intellektuellen auf die Suche nach einer eigenen Identität begaben. Der Überfall auf die Ukraine ist nun sowohl Produkt als auch Katalysator der in den zwei Jahrzehnten von Putins Herrschaft reifenden Neuauflage der »zivilisatorischen russischen Eigenheit«.

Die Orthodoxie, ein militanter Großmachtpatriotismus, eine Verklärung traditioneller Werte und der Kampf gegen den »westlichen Moralverfall« – diese Bausteine der offiziellen Weltanschauung Moskaus werden als »spirituelle Klammern« bezeichnet und sie umreißen ein globalisierungsfeindliches Gegenkonzept zum individualistischen, kosmopolitischen, freien Gesellschaftsentwurf der russischen Wende in den 90er Jahren.

Vor diesem Hintergrund hat der Kreml das offene Internet schon länger als eine Bedrohung identifiziert. Spätestens nach den großen Straßenprotesten in Nordafrika infolge der manipulierten Parlamentswahlen 2011 sowie unter dem Eindruck der im Netz organisierten Umwälzungen des Arabischen Frühlings hat die russische Regierung entschieden: Ein freies Internet steht im Konflikt mit den nationalen Interessen des Landes.

An sich ist das Runet – also der Teil des Internets, der vor allem russischsprachige Inhalte umfasst – eine große Erfolgsgeschichte. Es ist in Russland flächendeckend verfügbar. Mit über 97 Millionen Nutzer:innen sind rund 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung online, davon mehr als 90 Prozent über Mobilfunk, also auch in sonst infrastrukturell schwach angebundenen Gebieten. Der Alltag der Russinnen und Russen ist ohne Internet nicht mehr vorstellbar. Durchschnittlich ist man über sieben Stunden am Tag online, davon mehr als die Hälfte der Zeit mit sozialen Netzwerken, Videokonsum und Messenger-Diensten beschäftigt. 55 Millionen Menschen zwischen zwölf und 64 Jahren sind zudem Gewohnheitsgamer. Die Digitalisierung des privaten Konsums und des Finanzwesens sowie der staatlichen und öffentlichen Dienstleistungen ist in vielen Bereichen deutlich weiter als im europäischen Durchschnitt.

In autoritären Systemen ist der Umgang mit der Digitalisierung ein pragmatischer. Man will einerseits die wirtschaftlichen und technologischen Vorteile nutzen und zugleich die sozialen Effekte der freien Netzwerk- und Gemeinschaftsbildung vermeiden. Machen die Menschen mit einem durchdigitalisierten öffentlichen Gemeinwesen positive Erfahrungen, so stärkt das die Legitimität der Führung. Werden neue Technologien, die den Alltag erleichtern und gleichsam das Gefühl der Fortschrittlichkeit vermitteln, klug eingesetzt, lassen sich die städtischen Mittelschichten schlechter mobilisieren und politisieren. Was die Regierung auf jeden Fall vermeiden will, sind Räume alternativer Öffentlichkeit und zensurfreier Kommunikation oder gar oppositionelle Organisationsplattformen.

Der Kreml würde sehr gerne eine »große digitale russische Mauer« nach chinesischem Vorbild errichten. Die Gesetzesentwürfe dafür liegen in den Schubladen. Die Errichtung eines »souveränen Internets« zählt zu den erklärten Prioritäten der russischen Regierung. Allerdings ist Russland meilenweit davon entfernt, eine ähnlich effektive Kontrolle über das Internet auszuüben wie die Volksrepublik. Die Gründe dafür sind sowohl historisch als auch technologisch. Die Vernetzung Russlands mit der übrigen Welt war bis weit in die Nullerjahre eine logische Fortsetzung der Öffnung des Landes nach dem Kollaps der Sowjetunion und daher durchaus im Sinne des Kremls.

Peking hat demgegenüber von Anfang an das freie Netz skeptisch betrachtet. China etablierte bereits in einer sehr frühen Phase, als das chinesische Netz nur rund 100.000 Nutzer:innen umfasste, eine effektive staatliche Kontrolle seines Teils des globalen Internets. Das russische Internet ist dagegen dezentral und offen gewachsen, hat sich tief mit der Wirtschaft und Gesellschaft verwoben und ist auch – im Gegensatz zum chinesischen Netz – nicht autonom in seinem Adressraum, sondern teilt sich diesen mit Europa im Rahmen des Réseaux IP Européens Network Coordination Centre (RIPE NCC).

Komplexe Strategie

Ein radikaler Wechsel der Internetpolitik Russlands lässt sich also nicht ohne Weiteres umsetzen. Daher verfolgt der Kreml eine komplexe Strategie zur Überwachung, Kontrolle, Unterdrückung und schlussendlich schrittweisen Vorbereitung für eine hypothetische Abkopplung. Zunächst geht es dabei um direkte technische Kontrolle. Seit 2019 verpflichtete die Duma russische Internetprovider sogenannte Deep-Packet-Inspection-Technik anzuschaffen, um den Datenverkehr effektiv durchleuchten zu können. Die Umsetzung verlief zunächst schleppend, bis der Staat die Anschaffungskosten übernahm und den Internetanbietern dadurch die Argumentationsgrundlage entzog.

Zudem forderte die Überwachungsbehörde Roskomnadsor systematisch die Eigentümer der Kabelverbindungen, die das russische Hoheitsgebiet verlassen, auf, ihre unternehmerischen Besitzstrukturen offenzulegen, um ausländische Beteiligungen an diesen Firmen zu beseitigen.

Zusammen mit dem Geheimdienst FSB kann Roskomnadsor nun nicht nur live den Datenfluss durchleuchten, technisch hat Russland innerhalb weniger Jahre alle Möglichkeiten für eine umfassende Vorratsdatenspeicherung geschaffen. Theoretisch besteht jetzt schon die Möglichkeit eines Übergangs zu einem eigenständigen Adressen- und Domänenraum. Damit hätte Russland eine kleinere Kopie des globalen Internets mit maximaler Abschottung nach außen. Das ist nicht ohne Risiko, denn weite Teile der russischen Wirtschaft und öffentlichen Verwaltung bedürfen einer ununterbrochenen und vollumfänglichen Netzanbindung. Die Kosten eines Fehlversuchs bei der technischen Abkopplung wären also immens.

Des Weiteren geht es um die Vervollkommnung einer systematischen Zensur- und Informationspolitik gegenüber ausländischen Digitalkonzernen und kritischen Informationsanbietern – also Online-Zeitschriften, Nachrichtenportalen und so weiter. Hier geht der Repressionsapparat einerseits rechtlich vor, indem einzelne Webseiten (etwa kriegskritische oder Alexey Nawalny betreffende) oder gar ganze Plattformen verboten werden (zum Beipsiel einige Dienste des Meta-Konzerns wie Facebook und Instagram). Gegenwärtig sind etwa eine halbe Million Webseiten gesperrt. Da sich diese Sperrungen aber leicht umgehen lassen, werden auch manchmal die Abrufgeschwindigkeiten verbotener Webseiten gedrosselt. Sie sind dann zwar erreichbar, aber extrem langsam.

Die wesentlich sichtbarere und gewaltsame dritte Komponente ist die der demonstrativen Repression und Einschüchterung einzelner Personen. Bereits unliebsame Facebook-Kommentare, Retweets oder Zitate aus ukrainischen Informationsquellen können gegen einzelne Strafrechtsparagrafen verstoßen und Verfahren auslösen. Da geht es dann um die »Verleumdung der russischen Streitkräfte«, den »Abruf und die Verbreitung von verbotenen Inhalten« oder um »Staatsgefährdung«. Es handelt sich dabei nicht um Massenrepression, sondern dezidiert um Schauprozesse. Durch die beliebige Interpretation der Tatbestände in Verbindung mit der Vorratsdatenspeicherung macht sich de facto fast jede und jeder, die oder der alternative Medien im Netz nutzt, strafbar.

Die Repression der freien Rede im Netz erfolgt zudem unter dem Vorwand der Extremismusbekämpfung, des Kinderschutzes, des Kampfes gegen Drogenkonsum oder gegen Urheberrechtsverletzungen. Alles häufig genutzte Vorwände, um dissidentische Stimmen zum Verstummen zu bringen. Neben der Vielzahl an »analogen« Strafrechtsinstrumenten, die bereits jeden sichtbaren Protest auf der Straße unmöglich machen, stehen somit auch Bewegungen im digitalen Raum unter ständiger Strafverfolgungsdrohung durch die Obrigkeit.

Diese Form der Rechtsanwendung hat zum Ziel, eine grundsätzliche Atmosphäre der Angst und Apathie zu erzeugen, da es jeden und jede treffen kann. Dadurch ist sie durchaus effektiv.

Und viertens verfolgt der russische Staat das Ziel einer langsamen, aber nachhaltigen Verdrängung von ausländischen Digitalkonzernen aus dem Alltag. Auflagen wie die der ausschließlichen Datenverarbeitung in Russland hat etwa im Fall von LinkedIn bereits 2016 zu dessen Rückzug aus Russland geführt. Das Karriere-Netzwerk weigerte sich, Nutzer:innendaten auf russischen Servern zu speichern.

Technisch nicht ausgereift

Meta, Google und Twitter bekommen immer höhere Bußgelder auferlegt, haben sich allerdings auch zunehmend selbst, spätestens nach dem Überfall auf die Ukraine aus dem Werbegeschäft in Russland zurückgezogen und ignorieren die staatlichen Forderungen, auch angesichts des im globalen Vergleich relativ unbedeutenden russischen Marktes. Parallel zum formellen Verbot von Instagram und Facebook orchestrierte der Kreml auch eine Werbekampagne für einheimische Alternativen. Man will damit den Umzug von Anbietern und Nutzer:innen auf russische Plattformen befördern.

Während mit VK tatsächlich eine veritable und populäre Alternative zu Facebook schon lange existiert, stellt sich die Lage mit Rosgram und RuTube – den Alternativen zu Instagram und YouTube anders dar. Beide Möchtegern-Konkurrenten sind technisch nicht ausgereift, haben schwächere Algorithmen und können dadurch nur schwer sogenannte Content Communities anlocken, die ähnlich populär wären. Die russische Netzgemeinde reagiert bisweilen entweder mit verstärkter Nutzung von VPN-Diensten, die eine Verbindung ermöglichen, die von außen nicht einsehbar ist – oder einem Umzug auf den Messenger-Dienst Telegram, der in beiden Welten – in- und außerhalb Russlands – ähnlich populär bleibt.

Wie es weitergehen könnte

Für die Zukunft lassen sich drei manifeste Trends ausmachen: Trotz der Vielzahl an Kontrollinstrumenten scheut der Kreml erstens bisher vor einer tatsächlichen Abschottung des Internets zurück und konzentriert sich auf die Beruhigung der Lage in Russland selbst. Die Sanktionen haben noch keine durchschlagende Wirkung auf die Verbraucher:innen entfaltet, die Staatspropaganda verbreitet trotz allem Siegesgewissheit. Ein wie auch immer gearteter systemischer Versuch, das russische Netz grundlegend abzukoppeln, wäre gefährlich. Sollte er fehlschlagen, würde er die Grenzen der Handlungsfähigkeit offenbaren.

Beispiel YouTube: Die Videoplattform ist im Gegensatz zu anderen Diensten weder verboten, noch gesperrt – sie ist einfach zu wichtig. Viele Menschen konsumieren hier Videos, neben Kindern und Jugendlichen etwa auch Hobbyangler, Amateursportler:innen oder Privatgärtner:innen. Eine Abschaltung ohne adäquaten Ersatz – und dieser ist nicht in Sicht – würde elementare Gewohnheiten der Bevölkerung treffen und stünde daher im krassen Gegensatz zum bisherigen Kurs des Kremls, mit allen Mitteln den russischen Alltag aufrechtzuerhalten. Fraglich ist zudem, ob die für eine weitergehende Kontrolle des Netzes notwendigen Fachkräfte überhaupt vorhanden wären. In China beschäftigen sich damit Zehntausende von Spezialist:innen, während immer mehr russische IT-Fachleute wegen des Krieges das Land verlassen.

Zweitens vertiefen die eigenständigen unternehmerischen Entscheidungen der großen IT-Firmen wie Amazon Web Services, Cisco oder Microsoft, ihren Vertrieb einzustellen und keine neuen Kunden mehr aufzunehmen oder der Werbeabteilungen von Google und Twitter, kein Geld mehr an ihre Werbekunden in Russland auszuschütten, den Graben zwischen dem russischen Netz und der restlichen Welt. Oftmals setzen diese Entscheidungen aber auch den dissidentischen Teilen der russischen Gesellschaft zu, da Oppositionelle zum Beispiel kein Geld mehr über YouTube verdienen können.

Und drittens wird das Internet trotz aller Restriktionen immer mehr zum Ort der Organisation und Netzwerkbildung der russischen Gesellschaft – vorrangig außerhalb des Landes. Über eine halbe Million Russ:innen hat ihr Land seit dem Kriegsbeginn verlassen, es entstanden neue Zentren des gesellschaftlichen und politischen russischsprachigen Lebens in Israel, der Türkei, im Baltikum, in Polen und Tschechien, in Zentralasien, im Kaukasus und auch in Deutschland.

Die Vernetzung und Organisation der daraus hervorgegangenen Antikriegsbewegung ist nur möglich, weil sich die politisierte jüngere Schicht der Exilierten im Netz frei bewegt und ihren Wissenstransfer, ihre horizontale Mobilisierung und Koordination mit digitalen Werkzeugen bestreiten kann. Rund 300 Initiativen und Gruppen sind bekannt, die sich der Kreml-Propaganda in den Weg stellen, Solidarität mit der Ukraine organisieren sowie Kontakte nach Russland unterhalten.

Das Runet ist ein Netz der Unfreiheit geworden. Es ist ein Raum, in dem politischer Dissens und soziale Mobilisierung gefährlich geworden sind. Trotzdem ist der Kreml derzeit nicht imstande, ohne seinen Anstrich von Modernität und Normalität zu verlieren, eine vollständige Kontrolle über das digitale Russland zu erlangen. Ohne eine grundsätzliche Abschottung aber ist das Tauziehen zwischen Dissident:innen und der Regierung ein Katz-und-Maus-Spiel. Medien greifen immer häufiger auf jene technischen Lösungen zurück, für die es noch keine einfachen Repressionsmechanismen gibt: Domain-Fronting, native Apps mit vorintegrierten VPN-Verbindungen, Nachrichtenversand über E-Mail-Newsletter, die nicht pauschal geblockt werden können, ohne das E-Mail-System an sich zu gefährden.

Es gibt eben nicht den einen Schalter, den eine Autokratie umlegen kann, wenn sie sich der Netzfreiheiten entledigen will. Der Kampf ist daher in vollem Gange.

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