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© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Nicolas Landemard

Europas Demokratiemodell ist einzigartig – und ausbaufähig Der schmale Grat

Die Demokratie wurde dem vereinigten Europa nicht in die Wiege gelegt. Sie wurde nicht erfunden, sie fand sich eher zusammen – nicht einem Masterplan folgend, sondern Widerständen ausweichend und Gelegenheiten ergreifend. Die beispiellose Union übernahm nicht etwa eine der nationalstaatlichen Demokratien, sondern sie setzte sie eher erahnend als vorausschauend aus vorhandenen Elementen pragmatisch, nicht einer in sich geschlossenen Theorie folgend zusammen. In ihrem Werden vielfach als defizitär, untauglich und fragil belächelt, wurde sie bewundernswert stabil.

Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1951 sowie der Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 waren eine Art »Ermächtigungsgesetze« europäischer Rechtsetzung durch die nationalen Exekutiven. Solange es um eher technokratische Entscheidungen im Bereich von Kohle und Stahl sowie im Aufbau der Zollunion ging, mochte das demokratisch gerade noch angehen. Die Regierungen im Rat hatten nicht nur allesamt ein nationalstaatlich demokratisches Mandat, sie konnten auch, zumindest theoretisch, von ihren jeweiligen Parlamenten kontrolliert werden.

Als die Union durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von 1987 zur Vollendung des Binnenmarktes und den Maastricht-Vertrag von 1992 Kompetenzen erhielt, die breiter und tiefer als zuvor in die Gestaltungsmacht der Mitgliedstaaten hinein reichten und der Rat zunehmend mit Mehrheit Recht setzen konnte, entstand tatsächlich eine erhebliche demokratische Kontroll- und Legitimationslücke. Das ab 1979 direkt gewählte Europäische Parlament hätte sie füllen sollen, war dazu aber nicht im Stande, da es weiterhin nur über beratende Kompetenzen verfügte. Seine Stärkung wurde von einem parlamentarischen Anliegen zum Gebot der Demokratie.

Eine Demokratie eigener Art

Nach mehreren unzureichenden Reformansätzen wurde es erst 2009 durch den Vertrag von Lissabon auf der Grundlage des vom »Konvent zur Zukunft Europas« entworfenen Verfassungsvertrags mit demokratieadäquaten Entscheidungsrechten ausgestattet. Vor allem im Bereich der Gesetzgebung, der Einsetzung der Kommission und der Verwendung von Haushaltsmitteln. Eine Demokratie eigener Art für eine Organisation eigener Art namens Europäische Union.

Das Europäische Parlament wurde vom Beratungsorgan zum Legislativorgan, wenngleich kein allein und alles entscheidendes. Das war nicht etwa ein demokratischer Webfehler, sondern ein Gebot der Demokratie: »Wir sind das Volk« mag auch in der Union gelten, »Wir sind ein Volk« sicher nicht. Es gibt eben 27. Um jedem eine politisch plurale Vertretung im Parlament zu sichern, sind die Mandate zugunsten der kleineren Mitgliedsländer verteilt, man spricht von degressiver Proportionalität. Die Wahl des Parlaments ist zwar frei, geheim und unmittelbar, aber eben nicht gleich. Folglich muss das politische Gewicht des Parlaments gerade aus Gründen der Demokratie zwar ein reales, aber auch ein begrenztes sein.

Der Rat, das andere Legislativorgan der Union, ist kein Senat, auch kein nach bürgerferneren Kriterien zusammengesetztes Oberhaus und erst recht keine »Kammer« des Parlaments. Er ist das für den Entscheidungsprozess der Union unersetzbare transnationale Demokratieelement. Dass es sich aus Vertretern der mitgliedstaatlichen Exekutiven zusammensetzt, ist keineswegs ein demokratisches Manko. Beim Deutschen Bundesrat ist es ja ebenso.

Die Kommission ist nicht die Regierung der Union, aber rechtlich und politisch deutlich mehr als nur deren Sekretariat. Sie verfügt allein über das Initiativrecht für Gesetzentwürfe. Sie wird mit einem Vertrauensvotum des Parlaments eingesetzt, es kann sie mit einem Misstrauensvotum auch wieder entlassen. Ihr(e) Präsident(in) wird vom Parlament gewählt. Aus all dem erwächst fast von selbst eine politische Führungsrolle.

Ob sie mit weniger Kommissaren, indem nicht mehr jeder Mitgliedstaat eine(n) Vertreter(in) entsenden könnte, wirklich stärker wäre, ist durchaus fraglich. Zudem fehlen ihr weitgehend wirklich durchgreifende Exekutivbefugnisse. Eine institutionelle Verkleinerung der Kommission und deren Ausstattung mit deutlich mehr und stärkeren Führungs-, Entscheidungs- und Exekutivkompetenzen wurde zwar mehrfach angedacht, aber eben auch immer wieder verworfen. Sie könnte sich als Ergebnis des Beitritts weiterer Staaten aus dem Südosten Europas aber als notwendig erweisen.

Der Europäische Rat agiert im vergemeinschafteten (supranationalen) Bereich der Unionspolitik wie ein kollektives Staatsoberhaupt, im intergouvernementalen (mitgliedstaatlichen) Bereich wie ein kollektiver Regierungschef. Er entscheidet in der Regel im Konsens, in besonderen Fällen zunehmend auch mit Mehrheit, etwa bei der Nominierung des Kandidaten für die Präsidentschaft der Kommission oder bei der Einsetzung eines Verfassungskonvents.

Gestützt und beglaubigt durch nationalstaatliche teils parlamentarische teils plebiszitäre Beschlüsse, hat sie sich zu einem eigentümlichen, funktionstüchtigen System der Legitimierung und Limitierung politscher Macht entwickelt. In der ersten Phase durch parlamentarische Voten mit überzeugenden Mehrheiten.

Nach 1972 auch durch insgesamt 58 nationale Volksabstimmungen. Die Zugehörigkeit zur Union stand 25 Mal zur plebiszitären Entscheidung (19 Zustimmungen mit jeweils deutlich über 60 Prozent), vier Ablehnungen, zwei Austritten (Grönland und Großbritannien). Über Vertragsänderungen wurde 21 Mal abgestimmt (16 Zustimmungen, fünf Ablehnungen). Positionen innerhalb der Union waren zwölfmal Gegenstand eines Referendums. Die Union wurde so, wie es ihre demokratischen Mitgliedstaaten gewollt und zugelassen haben. Das heißt nicht, dass alles so bleiben kann oder muss wie es geworden ist.

Die Union ist kein Staat

Die Besonderheiten in Legitimation, Verfahren und Kompetenzen sind offensichtlich. Sie beweisen nicht, dass die Union ein Defizit an Demokratie hat, sondern dass sie kein Staat ist. Sie verfügt über ein eigentümliches, demokratieanaloges System von Legitimationssträngen, Institutionen und Verfahren, in dem sich nicht nur »Europäisches«, sondern auch »Nationales« abbilden muss. Es tritt nicht an die Stelle der nationalen Demokratien und diese stehen nicht neben oder gegen die Union. Sie sind vielmehr deren konstitutives demokratisches Strukturelement.

Unter Beteiligung einer Reihe von Bürgerforen hat die Konferenz zur Zukunft Europas rund 50 Vorschläge und über 200 Maßnahmen für Reformen gesammelt. Ein großer Teil zielt auf Stärkung oder Abrundung von Kompetenzen und bräuchte zu ihrer Realisierung »nur« den politischen Willen und die entsprechenden Mehrheiten in den Institutionen und Mitgliedstaaten. Die Möglichkeiten des geltenden Vertrages sind noch längst nicht ausgeschöpft. Möglich und erforderlich sind auch Verschiebungen, Justierungen und Korrekturen an Institutionen und Verfahren.

Diese erfordern allerdings zumindest zum Teil Vertragsänderungen,die von den Mitgliedstaaten einstimmig beschlossen werden müssen. Zum Beispiel beim Verhältnis zwischen vergemeinschafteten und intergouvernementalen Elementen der Union, bei der Reduzierung der Einstimmigkeitserfordernis, beim Wahlverfahren wie auch bei der Zahl der Mandate pro Staat, oder die neue demografische Gewichtung beziehungsweise Definitionen von Mehrheiten.

Die für einstimmige Vertragsänderungen notwendigen parlamentarischen und/oder plebiszitären Mehrheiten sind alles andere als sicher. Angesichts wirklich existenzieller außen- und sicherheitspolitischer, ökologischer und ökonomischer Herausforderungen werden die Europäer kaum Debatten über die Reform von Institutionen und Entscheidungsverfahren führen wollen. Dabei ist der Grat zwischen Ambition und Ablehnung gefährlich schmal. Eine Reform der bestehenden Unionsdemokratie mit dem Auseinanderfallen der Union zu bezahlen, wäre ein zu hoher Preis – nicht nur in der gegenwärtigen Krisen- und Kriegslage.

An einigen Grundpfeilern der europäischen Sui-generis-Demokratie sind Reformen nicht erforderlich, sogar eher gefährlich. Würde etwa der nationalstaatliche Legitimationsstrang europäischer Entscheidungen verdünnt oder gar gekappt, geriete die Unionsdemokratie tatsächlich unerträglich ins Defizit. Für die Einführung substanzieller Elemente der direkten Demokratie ist die Union der Bürger und Staaten strukturell nicht geeignet. Sie muss existenziell auf Vielfalt, Ausgleich, Kompromiss und Kontrolle setzen und bleibt dafür auf die Form der repräsentativen Demokratie angewiesen. Die Vision, durch eine Volksabstimmung aus der Union den europäischen Bundesstaat zu schaffen, ist eine realpolitisch demokratiegefährdende Illusion.

Die Aushöhlung nationaler Demokratie hat begonnen

Während der in Teilen von Wissenschaft, Medien und Politik fortdauernd gehegte Verdacht sich nicht bestätigt, »Brüssel« sei nolens volens dabei, die nationale Demokratie auszuhöhlen, haben tatsächlich demokratisch gewählte Regierungen begonnen, dies auf Unionsebene zu bewerkstelligen, etwa durch Einschränkungen der Unabhängigkeit der Justiz.

Die Union kann sie zwingen, sich der Kritik und den Entscheidungen der europäischen Institutionen zu stellen. Sie kann versuchen, sie mit Sanktionen zur Korrektur ihrer Vorhaben zu bewegen. Aber dem demokratiegefährdenden Treiben einer demokratisch gewählten nationalen Regierung ein Ende setzen kann sie nicht. Das kann nur das jeweilige Volk selbst. Ist es dazu dauerhaft nicht bereit oder in der Lage, muss die Union seinen Austritt betreiben. Der Nationalstaat mag auch ohne Demokratie existieren, für die Union dagegen ist sie existenziell.

Die Union sollte aufhören, die Unionsdemokratie demokratisieren zu wollen und sich dabei an nationalstaatlichen Demokratiemodellen auszurichten oder messen zu lassen. Sie entspricht gewiss nicht konturscharf allen staatsdemokratischen Anforderungen, aber sie ist die beispiellose erste und einzige transnationale Demokratie der Welt: mit demokratieadäquaten Grundrechten wie Gleichheit, Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz, Nichtdiskriminierung und Toleranz; sowie mit demokratieaffinen Institutionen, Prinzipien und Verfahren wie Gewaltenteilung, Mehrheitsentscheidung und der Periodizität von Wahlen. Zudem transferiert sie Machtfragen zu Rechtsfragen. Und sie erweist sich mit ihren Mängeln, Fehlern und Unzulänglichkeiten nun schon in ihrer über 70 Jahre langen Geschichte in Krisen und durch Krisen als entwicklungsfähig, leistungsstark, attraktiv und verteidigenswert.

Am 9. Mai 2022 schloss die Konferenz ihre Arbeit ab und legte einen Bericht über das endgültige Ergebnis vor. Diese Vorschläge spiegeln die Erwartungen der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu verschiedenen Themenbereichen wider: Eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung; Bildung, Kultur, Jugend und Sport; Digitaler Wandel; Demokratie in Europa; Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit; Klimawandel und Umwelt; Gesundheit. Die Konferenz zur Zukunft Europas beinhaltete zudem den Aufbau einer mehrsprachigen digitalen Plattform, die es den Unionsbürgerinnen und -bürgern erlaubt, in den 24 EU-Sprachen zu kommunizieren, die Organisation von vier europäischen Bürgerforen, sechs nationalen Bürgerforen, tausenden nationalen und lokalen Veranstaltungen sowie sieben Plenarversammlungen.

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