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Über die islamistische Radikalisierung Der sektiererische Weg

Was treibt junge, in Europa geborene Menschen an, zu radikalen Muslimen zu werden, sich Milizen wie dem »Islamischen Staat« (IS) anzuschließen und in den »Heiligen Krieg« zu ziehen? Diese Fragen bewegen derzeit viele Menschen im Westen, denn die Kriege in Syrien, im Irak und in Afghanistan haben zu einer großen Fluchtbewegung nach Europa geführt und unter den Geflüchteten waren und sind auch Sympathisanten und Kämpfer des IS. Radikaler Islamismus ist also inzwischen auch ein innenpolitisches Thema in West- und Mitteleuropa. So wurden die Anschläge am 13. November 2015 in Paris mit Beteiligung von Franzosen nordafrikanischer Herkunft verübt.

Die Ursachen der islamistischen Radikalisierung junger Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte herauszuarbeiten, steht seit Kurzem im Fokus deutscher Buchverlage. Eine Veröffentlichung, die aus der Fülle an Neuerscheinungen zum Thema herausragt, trägt den knappen Titel Radikalisierung. Die Monografie von Farhad Khosrokhavar erschien 2014 in französischer Sprache, 2016 lag die deutsche Übersetzung vor – ergänzt um die Einleitung »Wer radikalisiert sich?«, das Kapitel zu weiblichem Dschihadismus im heutigen Europa und das Vorwort des Politologen Claus Leggewie.

Der Soziologe Khosrokhavar, geboren 1948 im Iran und Studienleiter der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales, konzentriert sich darin auf Frankreich, doch lassen sich die Erkenntnisse auch auf Deutschland übertragen. Der Autor stellt klar, dass Radikalisierung und Terrorismus Phänomene sind, die nur einen Bruchteil von Muslimen betreffen. Und er macht zwei Gruppen aus, die unterschiedliche Motive für ihre Radikalisierung haben: Die erste, größere Gruppe, stamme aus den Vorstadtgettos, aus ärmlichen und auch familiär zerrütteten Verhältnissen, sei psychisch labil und habe oft schon eine kriminelle Vergangenheit. Die andere komme aus den Mittelschichten und weise oft Konvertiten auf. Auf der Suche nach sich selbst und einem Sinn für das eigene Leben, nach Gerechtigkeit, aber auch nach Abenteuern und zugleich enttäuscht vom prosaischen Leben und den Angeboten politischer Parteien, richte diese Gruppe ihren Blick nach Nahost – angeleitet von radikalen Islamisten, die ihr den Dschihadismus als neue kollektive und hoffnungsverheißende Vision propagierten.

Für die erste Gruppe arbeitet Khosrokhavar folgende Motivation heraus: Die jungen Menschen aus den Vorstädten, die sich dem radikalen Islam anschlössen, hätten eine Gemeinsamkeit: den Hass auf eine Gesellschaft, von der sie sich stigmatisiert und ausgeschlossen fühlten – und dies als eine unverrückbare Gegebenheit erlebten. Das Gefühl der eigenen Herabsetzung würde sich in einer Aggressivität ausdrücken, die beim geringsten Anlass gegen andere aufflammen könne. Einigen Jugendlichen gelinge der soziale Aufstieg durch harte Arbeit. Andere würden auf kriminelle Art zu Geld kommen und so eine Zeit lang den Hass und das Gefühl der Unterlegenheit kompensieren.

Einem sehr kleinen Teil dieser Gruppe reiche dies aber nicht aus: Er wolle Selbstbestätigung, um seine Würde wiederzuerlangen und seine Überlegenheit zu beweisen. Im Gefängnis würde sein Hass auf andere reifen – durch Reibereien mit Wachleuten und die Erfahrung, dass der Islam dort gering geachtet würde, etwa durch den Mangel an Imamen und das Verbot von Gebetsteppichen im Hof. Der radikale Islamismus helfe hier, die Wut derjenigen, die islamistische Neigungen hätten, in heiligen Zorn zu verwandeln, und bewirke eine Umkehrung: Das Ich würde rein, die anderen unrein und Selbstverachtung würde sich in Verachtung der anderen verwandeln.

Sollte sich der Jugendliche in Haft so radikalisieren, dass er am »Heiligen Krieg« teilnehmen will, kann laut Khosrokhavar eine Initiationsreise in ein Land des Nahen oder Mittleren Ostens folgen, die es jenem erlaube, mythische Bande zu den dortigen Gesellschaften zu knüpfen, sich im Umgang mit der Waffe zu schulen und gegenüber der eigenen Gesellschaft zum »Fremden« zu werden. Der Dschihadist lerne, so der Autor, mitleidlos zu werden, Geiseln oder Personengruppen wie Polizisten und Soldaten zu töten, aber auch Menschen jüdischen Glaubens oder »schlechte« Muslime, die es mit den religiösen Ge- und Verboten nicht ernst nähmen. Der Hass, der ihm so entgegenschlüge, würde ihm Größe verleihen und ihn mit Stolz erfüllen. Er würde für seinen Kampf auch versuchen, die Medien zu nutzen und »im besten Fall« als weltberühmter Märtyrer in die Geschichte eingehen.

Für beide Gruppen nennt Khosrokhavar Beispiele aus der jüngsten Geschichte, bleibt aber nicht bei der Ursachenforschung und ihren Folgen stehen. Er liefert auch eine Historie der Radikalisierung, referiert über Assassinen im Mittelalter, Anarchisten im 19. und 20. Jahrhundert, linksextreme Gewalt im Westeuropa der 70er und 80er Jahre, um dann zum islamistischen Terror zu kommen. Hier untersucht er die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von schiitischer und sunnitischer Radikalisierung und streift auch das Phänomen der radikalisierten Frauen.

Der Autor stellt die These auf, dass der moderne Islamismus heute die Funktion übernehme, die einst Utopien kollektiven Heils hatten, sei es in ihrer marxistischen, sei es in ihrer neoliberalen Version. Die Islamische Revolution 1979 im Iran und die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA hätten zudem diejenigen in ihrer Überzeugung noch gestärkt, mit Gottes Beistand wäre die Überwindung des »Kreuzfahrerfeindes« möglich. Dafür sei der Kampf gegen westlichen Imperialismus, gegen das laizistische System und für ein Neopatriarchat, das etwa Feminismus und Homosexualität ablehne und den Mann über die Frau stellen wolle, von zentraler Bedeutung. »Jedes politische Denken, das vom Volk als Souverän ausgeht, ist Idolatrie. Die treibende Kraft jeder legitimen Politik kann allein die Souveränität Gottes sein«, so die Grundüberzeugung radikaler Muslime nach Khosrokhavar.

Der Autor geht im Weiteren auf die (transnationalen) Netzwerke islamistischer Prediger im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in den USA und Europa ein, behandelt das Internet als einen Ort der (Selbst-)Radikalisierung neben Moscheen, Privatwohnungen und Gefängnissen und streift auch die Frage der Finanzierung dschihadistischer Kampfgruppen: So würden die sunnitischen Milizen neben eigenen Aktivitäten wie Drogenhandel, Geiselnahme und Piraterie auch Geld von Spendern aus Saudi-Arabien und Katar erhalten – unter dem Deckmantel etwa von Wohlfahrteinrichtungen.

Farhad Khosrokhavars Analyse der Ursachen und Entwicklung der islamistischen Radikalisierung junger Menschen primär seit den 90er Jahren in Frankreich ist fundiert und reich an Erkenntnissen, die hier nur knapp vorgestellt werden konnten. Das Buch ist sprachlich und stilistisch nüchtern gehalten und auch durch die übersichtliche Aufteilung gut les- und nachvollziehbar. Als Leser hätte man gern noch mehr profitiert und sich gewünscht, dass er Phänomene wie den »Pop-Islam« einbezieht und eine Einschätzung gibt, welche Rolle der westliche Einfluss auf die islamistische Radikalisierung im 20. Jahrhunderts gespielt hat, etwa die »Dschihad-Strategie« Max von Oppenheims von 1914.

Das Mädchen und der Gotteskrieger

Den Prozess der Radikalisierung zeichnet auch die 1975 geborene deutsch-türkische Autorin Güner Yasemin Balci in ihrem Roman Das Mädchen und der Gotteskrieger von 2016 nach. Hauptfigur ist die 15-jährige Deutsch-Türkin Nimet aus einer kemalistisch geprägten Familie. Nimet lebt mit ihrer geschiedenen, depressiven Mutter Sibel und der älteren Schwester Dilara in Neukölln. Ali, ihren Vater, der neu geheiratet und einen Sohn bekommen hat, sieht sie gern, aber nur selten. Darum und auch um den Streitereien daheim zu entrinnen, verbringt Nimet viel Zeit mit der Freundin Cayenne.

Eines Tages lernt Nimet deren Cousine Nour kennen, die früher Jacqueline hieß und ebenfalls aus zerrütteten Verhältnissen stammt. Seit ihrer Konversion ist Nour eine eifrige Muslima, trägt Kopftuch, wirkt auf Nimet aber rechthaberisch. Sie ist aber auch fürsorglich und gewinnt Nimet dadurch – trotz innerer Widerstände und Warnungen der Mutter – für sich. Auch gelingt es Nour, Nimet an sich zu binden, etwa indem sie Nimet mit zur Unterkunft der Geflüchteten im Berliner LAGeSo mitnimmt und anhält, an jene Essen zu verteilen, später auch mitzukochen und an den Diskussionen in Nours radikaler Gemeinde teilzunehmen. Nimets Widerstand bricht allmählich.

Scheinbar zufällig meldet sich bald auch ein gewisser Saed per WhatsApp bei Nimet. Er gibt vor, 22 Jahre alt zu sein und seit zwei Jahren in der Türkei zu leben, erzählt von seiner Sorge und seinem Einsatz für die Opfer im Syrienkrieg. Zugleich führt er Nimet ins Beten ein und empfiehlt ihr auf alles Westliche zu verzichten. Nimet wird süchtig nach dem Austausch mit dem höflichen Saed, verliebt sich in ihn und entscheidet, ihm zu folgen, als sie erfährt, dass er schwer verwundet sei.

Güner Yasemin Balci macht in ihrem Roman anschaulich, wie ein Mädchen den Versprechungen einer Anwerberin des IS und denen eines Dschihadisten erliegt und nach der Ankunft in Syrien wie aus einem Traum erwacht. Die Autorin schildert zugleich die Situation junger Frauen mit Migrationsgeschichte, die zwischen der deutschen Kultur und der ihrer Familien balancieren müssen, erzählt von dem Machoverhalten junger Migranten und den Erwartungen an eine künftige Braut.

Balci reißt noch weitere Themen an. Aussagen über Cayennes Familiengeschichte – Sinti-Angehörige als NS-Opfer und zugleich eine »unrühmliche Nazivergangenheit« – werden zwar gemacht, aber nicht mehr aufgegriffen. Nimets Verwandlung weist zudem Leerstellen auf. So spricht und handelt sie mehrfach, ohne dass der vorher stattgefundene Veränderungsprozess dargestellt wurde. Auch liegt der Schwerpunkt des Romans auf der Anwerbung durch Nour und auf ihrer Person denn als auf Saed, der schemenhaft bleibt. Insofern stimmt der Romantitel nicht ganz mit der Gewichtung im Buch überein. Dennoch empfiehlt sich der Roman, der sich gekonnt der Jugendsprache bedient – und zwar weil er über die fiktionale Form nachvollziehen lässt, wie es dazu kommen kann, dass junge Frauen, mit und ohne Migrationsgeschichte, auf einen sektiererischen Weg gelenkt werden und ein freiheitliches, selbstbestimmtes Leben verachten lernen, um ihr Glück im Dienst für den »idealen« Gatten, den Glaubenskrieger, zu finden, der seinerseits angeblich alles für sie tun würde.

Farhad Khosrokhavar: Radikalisierung (Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer). CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2016, 223 S., 22 €. – Güner Yasemin Balci: Das Mädchen und der Gotteskrieger. S. Fischer, Frankfurt/M. 2016, 320 S., 19,99 €.

 

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