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Zwischen Gerechtigkeit und Menschenliebe/Philanthropie Der Sinn von Solidarität

Zwei von drei Leitideen der Sozialmoral sind einfacher zu bestimmen, die Gerechtigkeit und die Menschenliebe bzw. Philanthropie. Die Gerechtigkeit hat als Inbegriff dessen, was die Menschen einander schulden, den Rang der moralischen Leitidee einer zwangsbefugten Rechtsordnung, eines staatlichen Gemeinwesens. Dazu gehören beispielsweise die Gleichheit vor dem Gesetz, die Grund- und Menschenrechte, einschließlich der demokratischen Mitwirkungsrechte, ferner das Prinzip des Strafrechts »in dubio pro reo« und weitere Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit.

Im Gegensatz dazu definiert sich die Menschenliebe durch freiwillig und großzügig erbrachte Mehrleistungen. Deren normativen Hintergrund bildet zwar das christliche Gebot der Nächstenliebe mit dem barmherzigen Samariter als Vorbild. Da aber verwandte Grundhaltungen wie die Freigebigkeit und ihre Steigerung zur Großherzigkeit auch im »heidnischen« Athen und Rom hochgeschätzt wurden, hat die Epoche der Aufklärung mit einem Lob auf die Philanthropie keine Schwierigkeiten. In diesem Sinn spielt Friedrich Schillers von Ludwig van Beethoven vertonte Ode »An die Freude« mit den berühmten Zeilen »Alle Menschen werden Brüder« und »unserm Todfeind sei verziehn« deutlich auf das Prinzip der Nächstenliebe an.

Die Solidarität nimmt nun ihrer Verbindlichkeit nach den Platz zwischen der Gerechtigkeit und der Menschenliebe ein. Sie verlangt mehr als das bloße Minimum, das Geschuldete, aber weniger als das Optimum, die freie Großzügigkeit und alles verzeihende Menschenliebe. Solange man bei dieser ersten Bestimmung stehenbleibt, droht allerdings die Gefahr einer inflationären Berufung auf Solidarität. Deshalb empfiehlt es sich, einen prägnanten Begriff zu bilden, der durch einen Blick in die Begriffsgeschichte erleichtert wird: Ursprünglich, in Rom, ist die Solidarität ein juristischer Fachbegriff für eine spezielle Form der Haftung. Nach der obligatio in solidum (von solidus: ganz, vollständig) muss in einer Gemeinschaft, meist einer Familie, jedes Mitglied für die Gesamtheit der bestehenden Schulden aufkommen, so wie umgekehrt die Gemeinschaft für die gesamten Schulden jedes Einzelnen haftet. Die Solidarität wirkt hier in beide Richtungen. Gemäß der später beliebten Formel »Einer für alle und alle für einen« hilft sie dem Einzelnen vonseiten der Gemeinschaft und der Gemeinschaft vonseiten der Einzelnen. Noch heute bezeichnet die »Solidarobligation« die unbegrenzte Haftung jedes Schuldners für eine Gesamtschuld.

Erst spät, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, wird der strenge Rechtsbegriff auf nichtrechtliche Verhältnisse erweitert. Dies geschieht allerdings für lange Zeit nur in der französischen Debatte, die auf diese Weise das dritte Prinzip der Französischen Revolution, die Brüderlichkeit, geschlechtsneutral bezeichnet. Den großen deutschen Philosophen wie Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, aber auch dem englischen Sozialreformer John Stuart Mill bleibt der Ausdruck der Solidarität unbekannt. Selbst bei Karl Marx und Friedrich Engels spielt der Begriff erst während der Pariser Kommune (1871) eine Rolle.

Gegen die Gefahr, die Solidarität in Richtung auf Philanthropie zu überdehnen, um dann ausufernde Forderungen zu stellen, lässt man besser den Kern unangetastet. Die Solidarität, eine Art von Loyalität zur eigenen Gemeinschaft, bedeutet dann (1) eine Haftung, jene wechselseitige Verpflichtung, füreinander einzustehen, die (2) in Not- und Gefahrenlagen (3) innerhalb von Gruppen aktuell wird, die bald unfreiwillig wie Geschwister, bald durch freie Wahl wie die Mitglieder einer Expedition, bald durch ein zufälliges Schicksal, etwa ein Zugunglück oder eine Naturkatastrophe, miteinander verbunden sind. Gemäß dem Bild »man sitzt im selben Boot« sind Solidargemeinschaften Not- und Gefahrengemeinschaften. (4) Deren Mitglieder erleichtern sich die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe, wenn sie emotionale Bindungen zueinander entwickeln. Diese pflegen sich umso leichter und stärker auszubilden, je offensichtlicher man das gemeinsame Schicksal teilt, was in bloßen Interessengemeinschaften wie Berufsverbänden und Versicherungsgemeinschaften »naturgemäß« kaum möglich ist.

Selbst mit den genannten vier Elementen ist die Solidarität noch unterbestimmt. Ist nämlich die eigene Notlage von anderen verschuldet, so haben diese aus Gerechtigkeitsgründen zu helfen. Während dagegen eine ausschließlich selbstverschuldete Not die Menschenliebe herausfordert, ist die Solidarität lediglich dort gefordert, wo die Alternative Selbst- oder Fremdverschulden versagt und ein gemeinsames Schicksal vorliegt. Verändern sich beispielsweise die Rahmenbedingungen einer Gruppe so stark, dass die übliche Vorsorgeverantwortung der Einzelnen überfordert wird, dann sitzt man »im selben Boot«, was die Hilfe für schicksalshaft gemeinsame Notlagen, eben die Solidarität, auf den Plan ruft.

Gestalten der Solidarität

Je nach Art des einschlägigen Schicksals tritt die Solidarität in anderer Gestalt auf: Eine erste, kooperative Solidarität hat jene persönlichen Risiken gemeinsam zu bewältigen, bei denen zwar die Art des Risikos vorhersehbar ist: Jeder Mensch kann einem Unfall zum Opfer fallen, krank oder arbeitslos, überdies alt oder pflegebedürftig werden. Niemand weiß jedoch, wen es tatsächlich und wie stark trifft.

Eine zweite, antagonistische Solidarität verfolgt kollektiv gemeinsame Interessen gegen konkurrierende Kollektiva. Dabei geht es beispielsweise um die Abwehr von tatsächlichen Feinden oder die Selbstbehauptung gegen Konkurrenten. Hier haben Fragen militärischer, gegebenenfalls auch ökonomischer Verteidigung, ebenso politischer, vielleicht auch kultureller Selbstbehauptung, ebenso das Thema »Klassenkampf«, wenn es dieses Phänomen denn noch gibt, ihren systematischen Ort.

In der dritten, kontingenten Solidarität sucht man unvorhergesehene, aber kollektive Schicksalsschläge wie Naturkatastrophen gemeinsam zu bewältigen.

Dort, wo die gesamte Menschheit in einem Boot sitzt, offensichtlich beim Klimaschutz, auch beim Phänomen der Bevölkerungsexplosion, bei wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen, vor allem bei menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Errungenschaften, die die heutige Menschheit früheren Generationen verdankt und, durch neue Leistungen bereichert, den künftigen Generationen zu vererben sind, also weder generell noch pauschal, aber in Bezug auf wohlbegründete Aufgaben ist als vierte Art eine globale, weit in die Zukunft schauende Solidarität gefordert.

Das Muster der ersten Art von Solidarität bildet die Sozialversicherung, das der zweiten Art der Kampfverband gegen eine feindliche Gruppe, wobei man das Etikett des Feindlichen mit großer Vor- und Umsicht zu verwenden hat. Das Vorbild der dritten Art bildet eine ad hoc entstehende und nach dem Unglück sich wieder auflösende Schicksalsgemeinschaft.

Als Hilfe auf Gegenseitigkeit besteht die Solidarität in einer Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit, die allerdings nicht dem asymmetrischen Muster folgt, dass die größeren Brüder und Schwestern stets die kleineren zu unterstützen haben. Außerdem muss die Hilfe nicht zur selben Zeit fällig werden. Im Gegenteil pflegen die Solidaraufgaben von Eltern und Kindern, später Großeltern und Enkeln, lebensphasenverschoben aufzutreten. Trotz inhaltlicher Unterschiede, mancher Zeitverschiebung und zufälliger Umstände kommt es aber im Grundsatz auf Symmetrie an, auf Wechselseitigkeit unter Gleichen.

Hierzu ein sozialpolitischer Vorschlag in Klammern: Da die Solidarität auf Gegenleistung baut, muss es bei der Sozialhilfe nicht als unangemessen gelten, wenn man sie an kommunale Arbeit bindet. Diese hat zudem den Vorteil eines Zusatzwertes, nämlich einer Steigerung der Selbstachtung, denn die Hilfe lässt man sich nicht schenken, sondern knüpft sie an eine eigene Leistung.

Der Kerngedanke gegenseitiger Hilfe weckt gegen die Praxis Bedenken, selbst dort noch von Solidarität zu sprechen, wo gewisse Hilfsbedürftige deutlich und auf Dauer Hilfe brauchen, ohne dass je mit deren Gegenhilfe zu rechnen ist. Auch in derartigen Fällen bleibt Hilfe wünschenswert, sie ist dann aber aus Menschenliebe, nicht aus Solidarität zu erbringen.

Nur wenn man den begrifflichen Kern bewahrt, die Hilfe auf Gegenseitigkeit, ist die Solidarität kein in der politischen Rhetorik zwar beliebtes, aber argumentativ nicht berechtigtes Prinzip. Im Rahmen der Sozialmoral bleibt die Solidarität die zwischen streng geschuldeter Gerechtigkeit und freiwillig zu erbringender Menschenliebe platzierte Verbindlichkeit. Wie bei der Gerechtigkeit kommt es auf Gegenseitigkeit an, im Unterschied zu ihr jedoch nicht auf einen rundum geschuldeten Anspruch. Während die Hilfe aus Menschenliebe keinerlei Gegenhilfe erwartet, rechnet die Solidarität mit einer möglichen Gegenleistung, auch wenn man nicht weiß, ob sie je tatsächlich fällig sein wird.

Ob schuldrechtlicher oder erweiterter Begriff – der Gedanke der Solidarität birgt offensichtlich sowohl einen Vorteil als auch einen Nachteil. Vorteilhaft ist, dass sich eine Aufgabe auf mehrere Schultern verteilt, was Gefahren zu bewältigen erlaubt, vor denen Einzelne schier verzweifeln müssten. Dort aber, so der Nachteil, wo immer dieselben Mitglieder sich in Gefahren begeben, aus denen stets die anderen ihnen heraushelfen müssen, handelt es sich bestenfalls um eine »Pro-forma«-Wechselseitigkeit.

Schließlich besteht die Gefahr des Trittbrett- bzw. Schwarzfahrens. Sie droht vor allem dort, wo die denkbaren Gegenmittel, informelle Sanktionen wie eine bis zur sozialen Ächtung reichende Kritik nicht greift. Infolgedessen darf man in einer Familie oder einem kleinen Betrieb eher auf Solidarität zählen als in einem Staat und im eigenen Staat eher als in der Europäischen Union oder gar bei der gesamten Menschheit. Generell kann man mit der Solidarität in persönlichen eher als in anonymen Beziehungen rechnen und in traditionellen, statischen Gesellschaften eher als in den modernen, dynamischen Gesellschaften.

Probleme anonymer Solidarität

Frühere Solidargemeinschaften wie etwa Zünfte wirkten der Gefahr des Trittbrettfahrens durch klare Regeln für Rechte und Pflichten und durch Sanktionen für Solidarverstöße entgegen. Will nun die moderne, sowohl weit größere als auch komplexe und anonyme Gesellschaft sich immer noch als eine Solidargemeinschaft gestalten, so muss sie Regeln und Sanktionen ausbilden, die der grundlegend neuen Art, nicht mehr einer »Solidarität unter Bekannten«, sondern einer »anonymen Solidarität«, einer »Solidarität unter Fremden«, gerecht werden. Dass diese schwierige Aufgabe noch lange nicht gelöst ist, liegt auf der Hand.

Bei der neuen Solidarität kommt ein strukturelles Problem, ein »Webfehler«, hinzu: Obwohl alles Menschliche von ausufernden Begehrlichkeiten bedroht ist – die Griechen sprachen von Pleonexia, einem Mehr-und-mehr-Wollen, kommen die traditionellen, sowohl konkreten als auch persönlich überschaubaren Solidargemeinschaften damit gut zurecht. Der »objektiven« Sorge für die Bedürftigen und Schwachen entspricht nämlich eine »subjektive« Haltung, ein Ethos (Charakter) wechselseitiger Rücksichtnahme und Kontrolle, die beiden Gefahren, der Verweigerung der Solidarität und deren übermäßiger, sogar missbräuchlichen Inanspruchnahme, entgegenwirkt. Auf diese Weise leistet das Ethos eine Bestandsgarantie.

In der modernen, jetzt abstrakten und unpersönlichen Solidargemeinschaft sind diese Gegenkräfte jedoch so gut wie notwendig verloren gegangen. Folgerichtig breitet sich nicht etwa aus individueller Bosheit, weil die Menschen schlechter geworden seien, sondern »systembedingt« bei allen Beteiligten die Maximierungsstrategie aus. Sie ist vom Markt für private Güter bekannt und wird voreilig dem Kapitalismus angelastet. Das Ergebnis kann nicht überraschen: Wo das allgemeinmenschliche, nicht erst vom Kapitalismus erfundende Immer-mehr-Wollen freie Bahn erhält, dort treten, in ökonomischer Sprache, Rationalitätsfallen und Anreize zur Nicht-Kooperation auf, die jeden finanziellen Rahmen sprengen. Nur wenig dramatisiert gesagt plündern alle Seiten – ohne eine konzertierte Aktion angeleitet und doch gemeinsam – die öffentlichen Kassen aus.

Darf es, so eine letzte Frage, soll es sogar Solidargemeinschaften mit einer Zwangsmitgliedschaft geben? Berechtigt ist sie nur, wo der Beitritt gerechtigkeitsgeboten ist. Bei der ersten, kooperativen Solidarität lässt sich die Zwangsmitgliedschaft mit dem Argument rechtfertigen, dass man im Ernstfall, beispielsweise in Fällen von Krankheiten, wofür man keine Versicherung abgeschlossen hat, also als Nichtmitglied der Krankenversicherungen, der Mitgliedergruppe zur Last fällt. Gegen die entsprechende Gefahr darf sich die Gruppe prospektiv schützen, was auf eine zwangsbefugte Verantwortung für Sozialversicherungen, etwa hinsichtlich Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit, auch für die Altersvorsorge, die Renten, hinausläuft. Dieses Argument rechtfertigt allerdings nur eine gesetzliche Versicherungspflicht, keine gesetzliche Pflichtversicherung. Anders verhält es sich bei Fragen der öffentlichen Gesundheit. Bei Infektionskrankheiten, die epidemisch werden können: Für Seuchenprävention und -bekämpfung sind verbindliche Schutzimpfungen legitim. Eine öffentliche Verantwortung lässt sich auch für Schulgesundheitspflege und Mütterberatung vertreten, sodass auch hier über die Versicherungspflicht hinaus eine Pflichtversicherung sinnvoll ist.

Bei der widerstreitenden Solidarität sieht es ähnlich aus: Solange jemand dem betreffenden Kollektiv angehört, kommt ihm automatisch der kollektive Selbstschutz zugute. Da Trittbrettfahren der Gerechtigkeit zuwiderläuft, ist hier eine Pflichtbeteiligung an den zum kollektiven Selbstschutz erforderlichen Leistungen gerechtigkeitsgeboten. Ein analoges Argument spricht für die zwangsbefugte Beteiligung bei kontingenter Solidarität.

In all diesen Fällen bleibt aber das Recht auf Zwangsmitgliedschaft eine Ausnahme, die stets einer der jeweiligen Sache spezifischen Legitimation bedarf und dafür die Beweislast trägt. Die angedeuteten Pauschalargumente sind erst notwendige, noch keine zureichenden Erfordernisse. In jedem einzelnen Falltyp ist beides auszuweisen: das Recht auf Zwangsmitgliedschaft und die Reichweite dieses Rechtes. Nur dann wird man dem begrifflichen Kern der Solidarität gerecht, einem der Verbindlichkeit nach zwischen geschuldeter Gerechtigkeit und freiwilliger Menschenliebe bzw. Philanthropie systematisch plazierten Begriff.

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