Am 6. Oktober 1981 begrüßte Stasi-Chef Erich Mielke Christel und Günter Guillaume bei einem Festakt in der Ostberliner Geheimdienstzentrale. Günter Guillaume war erst wenige Tage vorher durch einen Agentenaustausch freigekommen und Mielke würdigte die beiden mit pathetischen Worten:
»Unser Kampfesgruß und unser herzliches Willkommen in der Heimat, im Kreise der Tschekisten gilt Christel und Günter Guillaume nach 25jährigem Einsatz im Operationsgebiet im Lager der Feinde des Friedens und des Sozialismus. […] Ihr habt unter komplizierten Bedingungen, im Herzen des Gegners, mit Eurer hingebungsvollen und erfolgreichen Tätigkeit einen äußerst wertvollen Beitrag zur Stärkung und Sicherung der DDR, für die sozialistische Staatengemeinschaft insgesamt geleistet. […] Euer Mut und Eure treue Ergebenheit, die hohen persönlichen Opfer, die ihr bringen mußtet, und Eure Standhaftigkeit während der schweren Haft sind Vorbild für alle Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit und die vielen Kundschafter an der unsichtbaren Front.«
Zahlreiche Auszeichnungen, ein Propagandafilm und eine Autobiografie folgten. Die Guillaumes wurden von der Staatssicherheit zu Helden der »Kundschafter des Friedens«, wie die Spione im Stasideutsch hießen, stilisiert. Was hier als Erfolgsgeschichte präsentiert wurde, hörte sich im Jahr 1974 als die Affäre um den Spion im Kanzleramt nicht unwesentlich zum Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt am 6. Mai des Jahres beitrug, ganz anders an. Die Festnahme Guillaumes am 24. April 1974 und sein Bekenntnis, dass er Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit sei, brachte das MfS gegenüber der SED-Führung und den Sowjets in arge Erklärungsnot.
Geheimdienstlicher Super-GAU
Die Aufdeckung des DDR-Spions Guillaume und der Rücktritt Willy Brandts vom Amt des Bundeskanzlers war für das MfS so etwas wie ein geheimdienstlicher Super-GAU. Der große Coup einen Agenten in relativer Nähe zum bundesdeutschen Kanzler installiert zu haben, wurde zum Eigentor. Besonders der Chef des Auslandsnachrichtendienstes HV A, Markus Wolf, geriet in Erklärungsnot. Die Enttarnung Guillaumes und der Rücktritt Willy Brandts kamen für die DDR zur Unzeit – Brandt war für die DDR der Garant für die neue Deutschlandpolitik. Ob ein Bundeskanzler Helmut Schmidt den eingeschlagenen Kurs gegenüber der DDR beibehalten würde, darüber bestanden zunächst Zweifel in der SED-Führung.
Am 7./8. Mai vermerkte Markus Wolf in seinem Tagebuch: »Brandt ist tatsächlich zurückgetreten. Ironie des Schicksals: Jahrelang schmiedeten wir Pläne und Maßnahmen gegen Brandt, jetzt wo wir das wirklich nicht wollten und sogar befürchteten, passiert dieser Unfall, betätigen wir den Abzug, liefern das Geschoß. Natürlich war [es] nur ein letzter Anstoß, aber kein geringer und im denkbar wirksamsten Augenblick. Brandt – der Kämpfer gegen uns im kalten Krieg, zeigt hier seine bekannten emotionalen Empfindlichkeiten und Schwächen.«
Aber bereits eine Woche später konnte man Entwarnung geben: Denn es zeigte sich schnell, dass die Befürchtungen unbegründet waren. Am 14. Mai 1974 ging ein 15-seitiger Bericht mit der Einstufung »Streng geheim« an die engere SED-Parteiführung, der Verteiler weist u. a. Erich Honecker, Willi Stoph und Hermann Axen sowie einige kommunistische »Bruderstaaten« und die Sowjets aus. Dieser Bericht diente offenbar einerseits der Entlastung des MfS, in dem andere Faktoren als Guillaume für den Rücktritt in den Vordergrund gestellt wurden, andererseits diente er der Beruhigung der SED-Führung, da er bestehende Ängste über eine Änderung der Deutschlandpolitik unter Helmut Schmidt zu zerstreuen suchte. Bemerkenswert ist an dem Bericht auch, dass die aufgeführten mannigfachen Gründe für den Rücktritt den wirklichen Ursachen sehr nahe kommen – sieht man von den kapitalismuskritischen und ideologisch überformten Passagen ab. Die Stasi analysierte den Rücktritt folgendermaßen:
»Brandt musste zu der Meinung kommen, dass nicht Guillaume, sondern der Kanzler selbst einschließlich seiner intimen Affären, Ziel der Bearbeitung war. […] Hinzu kommt zweifellos die Furcht davor, dass im Zusammenhang mit der Festnahme Guillaumes Informationen über sein Privatleben, insbesondere über sein ausschweifendes Sexualleben in der Öffentlichkeit bekannt werden. […] Der Fall Guillaume war nur der äußere Anlass zum Rücktritt Brandts von seiner Funktion als Bundeskanzler. Angesichts der inneren Situation der BRD, des Differenzierungsprozesses in der SPD sowie den persönlichen Eigenschaften Brandts ist anzunehmen, dass ein Rücktritt Brandts über kurz oder lang möglich war.«
Ob Brandt auch ohne die Aufdeckung Guillaumes zu einem späteren Zeitpunkt zurückgetreten wäre, darüber gibt es bis heute Spekulationen, dass aber der »Fall Guillaume« nur eine von mehreren Ursachen des Rücktritts war, ist heute unumstritten.
Angeschlagen trotz Wahlsieg
Dass Brandt aus dem erdrutschartigen Sieg bei den Wahlen im November 1972, die SPD erreichte 45,8 Prozent der Stimmen, persönlich nicht gestärkt, sondern angeschlagen hervorging – ist ein wichtiger Moment für die Entwicklungen der folgenden Monate. Körperlich angegriffen, konnte er nicht an den Koalitionsverhandlungen teilnehmen. Ein Zettel mit seiner Wunschliste für’s zukünftige Kabinett vergaß Herbert Wehner angeblich in seiner Aktentasche und wurde somit nicht berücksichtigt. Ohne Kanzleramtsminister Horst Ehmke, seiner rechten Hand, der auf Druck Helmut Schmidts nicht wieder berufen wurde, fühlte sich Brandt zusehends isoliert. Die großen Vertragswerke der Deutschland- und Ostpolitik waren abgeschlossen, die Preise und Ehrungen vergeben. Die innenpolitischen Reformen stockten aufgrund der aufziehenden Wirtschaftskrise. Hinzu kamen Streiks und völlig überzogene Lohnforderungen der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst. Innerparteilich sah es auch nicht günstiger aus: Helmut Schmidt u. a. kritisierten ständig Brandts Führungsstil und unterstellten ihm mangelnde Durchsetzungsfähigkeit.
Innerparteilich wird sein Führungsstil kritisiert.
Der Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner kritisierte Brandt öffentlich vor laufenden Kameras und dies nicht nur im Inland, sondern ausgerechnet in Moskau. Der hier getätigte Ausspruch: »Der Herr badet gerne lau …«, ist nur eine von vielen Attacken. Die ihn sonst so hofierenden Medien distanzierten sich: »Kanzler in der Krise« titelte der Spiegel am 10. Dezember 1973. Ein Teil der Intellektuellen, die die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler und seine Reformpolitik massiv unterstützt hatten, distanzierten sich nun von ihrem einstigen Idol. Günter Grass teilte via Bildschirm mit, dass sich die Koalition im »Schlafmützentrott« befände und der Kanzler »Lustlosigkeit« ausstrahle. Die Erfolge und zu viele Ehrungen hätten Brandt »einsam gemacht und in einen Bereich entrückt, den Karikaturisten gern über den Wolken ansiedeln« (zitiert nach: Peter Merseburger, Willy Brandt). Bereits zwei Monate vor der Guillaume-Affäre brachte der Spiegel einen Artikel, in dem von Rücktrittsgedanken des Kanzlers die Rede war:
»Willy Brandt fühlt sich am Ende. Im Kabinett fragte der Kanzler am Mittwoch letzter Woche seine Minister: ›Bin ich eigentlich der Chef einer untergegangenen Firma?‹ Und resigniert grübelte er: ›Ich muss mich fragen, ob ich das noch verantworten kann.‹ […] Verstört berichteten in der vergangenen Woche enge Brandt-Vertraute von seltsamen Begegnungen. Der Regierungschef habe sie gefragt, ob es nicht klüger sei, jetzt zurückzutreten«.
Willy Brandt war in den letzten Monaten seiner Kanzlerschaft nicht entschlossen genug. Er hätte Herbert Wehner nach dessen Indiskretionen und öffentlichen Angriffen als Fraktionschef absetzen müssen. Brandt schien demotiviert und niedergeschlagen. Gesundheitliche Probleme und der Versuch, sich das Rauchen abzugewöhnen, taten ein Übriges. In dieser insgesamt schwierigen Lage für den Bundeskanzler wurde der Referent im Kanzleramt, Günter Guillaume, als DDR-Spion enttarnt.
Hinweise auf eine Agententätigkeit Guillaumes werden nicht ernstgenommen.
Der eigentliche Skandal, das Verhalten von Verfassungsschutz, BND, Bundesinnenministerium und Bundeskriminalamt hatte aber bereits im Jahr 1970 begonnen: Bei der Einstellung Guillaumes im Kanzleramt wurden Hinweise des »Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen« (UfJ) aus den 50er Jahren auf eine mögliche Agententätigkeit Guillaumes weder vom Verfassungsschutz noch vom BND ernstgenommen und spielten bei der Sicherheitsüberprüfung keine Rolle.
Anstatt Guillaume aus dem Umfeld des Kanzlers zu entfernen, werden Abhörmaßnahmen eingeleitet.
Ebenso ignorierte man Ungereimtheiten im Lebenslauf zwischen den Angaben bei der Übersiedlung in die Bundesrepublik und der Einstellung im Kanzleramt. Beide Ämter gaben grünes Licht zur Einstellung Guillaumes. Einzig der Personalrat des Kanzleramtes erhob Einspruch, da aus seiner Sicht die formalen Voraussetzungen für eine Eingruppierung BAT IIa nicht vorlagen. Da Willy Brandt nicht besonders von Guillaume angetan war, sollte dieser 1973 in ein anderes Ministerium versetzt werden. Dazu kam es dann nicht mehr, weil der Verfassungsschutz durch einen Zufall nun endlich auf die Spur des Spions im Kanzleramt gekommen war.
Und nun passierte der nächste Skandal: Anstatt Guillaume aus dem Umfeld des Kanzlers zu entfernen, schlug man dem Bundeskanzler vor, Guillaume auf seinem Posten zu belassen und Abhörmaßnahmen einzuleiten. Warum Brandt sich darauf eingelassen hat, lässt sich heute nicht mehr klären – der Kanzler wurde jedenfalls zu einer Art Lockvogel. Aber nicht nur das, Guillaume und seine Familie begleiteten die Familie Brandt im Juli 1973 auch in ihren Sommerurlaub nach Norwegen. Hier hatte Guillaume – anders als im Kanzleramt – Zugang zu geheim klassifizierten Dokumenten. Völlig unverständlich bleibt, dass diese Reise – der Gefahr entsprechend – nicht ausreichend vom BND abgesichert wurde. Dass diese Dokumente dann nicht in die Hände der HV A gelangten, ist einzig dem Kurier zu verdanken, der die Filme, aus Angst vor Entdeckung, im Rhein versenkte.
Am Ende schien es, als wäre vor allem das Privatleben des Kanzlers das Problem.
In den Wochen nach der Verhaftung Guillaumes geriet Willy Brandt durch die Untersuchungen von Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz zunehmend in Bedrängnis – schien es doch am Ende so, als sei vor allem der Kanzler und sein Privatleben das Problem, und nicht so sehr Guillaume. Die aus Brandts Sicht fehlende Unterstützung Herbert Wehners als Fraktionsvorsitzender, die in einem Vieraugengespräch in Bad Münstereifel am 4. Mai 1974 offensichtlich wurde – verstärkte seinen Entschluss sein Amt aufzugeben.
Die Gründe für den Rücktritt liegen letztlich in einer Mischung aus unglücklichen Konstellationen, dem Versagen der zuständigen staatlichen Organe, den innerparteilichen Konstellationen und der Persönlichkeit Willy Brandts. Brandt selbst hat zeitlebens Herbert Wehner im Pakt mit der DDR verdächtigt, eine zentrale Rolle bei seinem Rücktritt gespielt zu haben. Posthum versuchten Brigitte Seebacher und Egon Bahr diese These zu untermauern. Einen Beweis dafür gibt es bis heute nicht und es erscheint nach heutigem Forschungsstand auch eher unwahrscheinlich.
Ob der Rücktritt notwendig oder angesichts der wirtschaftlichen Probleme des Landes früher oder später zwangsläufig gewesen wäre, darüber haben sich schon die Zeitgenossen gestritten und es wird bis heute darüber diskutiert. Die Mehrheit der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger hielt den Rücktritt Willy Brandts vom Amt des Bundeskanzlers im Mai 1974 jedenfalls für unnötig. So gab der Spiegel kurz nach dem Rücktritt eine Umfrage in Auftrag, bei der 45 Prozent der Befragten den Schritt des Bundeskanzlers »für falsch« hielten und nur 38 Prozent »für richtig«.
Befreit von der Last des Amtes
Und Willy Brandt? Wenige Wochen, nachdem der erste Schock verflogen war, präsentierte er sich gelöst, wie lange nicht und verfasste einen von vielen Erinnerungsbänden. Hermann Schreiber schrieb bereits eine Woche nach dem Rücktritt im Spiegel: »Es ist leicht reden dieser Tage mit Willy Brandt, so leicht wie lange nicht […] Der Schwung des Befreiungsschlags bewegt ihn noch.« Befreit von der Last des Amtes, begann Willy Brandt eine dritte Karriere: Er behielt bis 1987 das Amt des SPD-Parteivorsitzenden und übernahm 1978 den Vorsitz der »Sozialistischen Internationale«. Zudem mischte er sich bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1992 als elder statesman aktiv ins politische Geschehen ein.
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