Bis 2027 will die SPD ihr Grundsatzprogramm erneuern, die Debatte darüber beginnt in diesen Wochen. Die Vernachlässigung der zentralen Rolle der Arbeit ist nach Ansicht von Generalsekretär Tim Klüssendorf ein entscheidender Grund dafür, dass die Partei an Rückhalt eingebüßt hat. Ihn fragte NG/FH-Chefredakteur Richard Meng danach, was in der SPD jetzt dringend zu besprechen ist: das Ziel der Rückkehr zur solidarischen Gesellschaft, die gefährliche Macht der Tech-Konzerne und die Dringlichkeit von gerechter Umverteilung – auch zur Rettung der Sozialsysteme.
NG/FH:Herr Klüssendorf, für wen macht die SPD Politik?
Klüssendorf: Für alle Menschen, die einer Arbeit nachgehen. Für die Menschen, die einer Arbeit nachgegangen sind oder einer Arbeit nachgehen wollen. Und für deren Familien und Kinder, die in einer gerechten, solidarischen und freien Gesellschaft aufwachsen sollen.
Es gibt ja die Kritik, dass dies nicht mehr so ganz deutlich sei. Ist sie berechtigt?
Dieser Kritik müssen wir uns stellen, denn ich kann sie nachvollziehen. Wir haben diejenigen, die einer Arbeit nachgehen, ihre Interessen und ihre Perspektiven nicht immer in den Mittelpunkt unserer Debatte gerückt. Es sollte uns orientieren, deren Perspektive einzunehmen und daraus konkrete politische Schwerpunkte abzuleiten. Ein Beispiel: Wenn wir über Familienpolitik nachdenken, ist es ein zentrales Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass die Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur gut ist. Möglichst kostengünstig, barrierefrei und vor allem verlässlich.
Ist es letztlich nicht doch eine Selbstbeschränkung, alle Themen nur von der Arbeit her zu denken, deren Bedeutung bei den Einkommen – im Vergleich zu Kapital- und Immobilienbesitz – doch eher abnimmt und viele Arbeitende sich auch deshalb abgehängt fühlen?
Im Gegenteil. Da hilft der von der Arbeit ausgehende Gedanke vielmehr weiter. Denn in der Konsequenz fordern wir umso entschlossener, dass Arbeit stärker als zuletzt wieder Aufstieg und auch Wohlstand ermöglicht. Genau das wurde nun über Jahrzehnte schwieriger, weil Wohlstand mittlerweile vor allem über Vererbung weitergegeben wird. Wer sich politisch über Arbeit definiert, kann genau aus dieser Perspektive diesen Missstand ansprechen.
Da gibt es zwei mögliche Ansatzpunkte, zu steuern: der Lohn der Arbeit und das Vererben…
Es geht jetzt um eine ganz klare Haltung. Nicht nur in den steuerpolitischen Fragen, über die politisch konkret neu geredet werden muss – sondern auch zur Stärkung des Gerechtigkeitsgefühls in der Bevölkerung. Letztlich ist doch verloren gegangen, dass es unredlich ist, wenn jemand ohne eigene Arbeit große Vermögen erbt oder geschenkt bekommt und dadurch eine weitaus stärkere Position in der Gesellschaft hat als durch Arbeit und Leistung.
Zu viele glauben, sie haben etwas zu verlieren?
Zu viele glauben, dass die steuerbefreite Weitergabe von unermesslichem Wohlstand kein Problem für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellen würde.
Ist dies ein Kernpunkt in der Grundsatzdebatte, mit der die SPD gerade beginnt und die bis Ende 2027 in ein aktualisiertes Programm münden soll?
Die Konzentration von Wohlstand und Macht, die unserer Demokratie entgegensteht, wird auf jeden Fall ein zentraler Punkt der Debatte werden. Wir müssen im Programmprozess Antworten auf die Herausforderungen der heutigen Zeit entwickeln und diese klar und auf den Punkt formulieren. Vieles, was menschliche Arbeit bislang ausmacht, wird durch große Veränderungen infrage gestellt, etwa durch Künstliche Intelligenz. Auch die globale Vernetzung und der Einfluss sozialer Plattformen hat seit der Verabschiedung unseres letzten Grundsatzprogramms noch sehr viel stärker auf unser Leben Einfluss genommen.
Ist die KI nicht DAS Beispiel dafür, wie großes Tech-Kapital gleichzeitig ungeheure politische Kommunikationsmacht entwickelt, Riesenprofite sich vom Faktor Arbeit entfernen und die demokratische Politik ratlos wird?
Diese Entwicklung in Frage zu stellen, ist zentral für die Zukunft unserer Partei und für die Demokratie insgesamt. Sie unterstreicht ja, wie wichtig es ist, zurückzukommen auf das, was Menschen selbst mit ihren Aktivitäten beeinflussen und begreifen können – statt wachsender Fremdsteuerung. Das hat viel mit Freiheit zu tun. Ich kann nicht mehr selbst entscheiden, wie sich mein Leben entwickelt, wenn ich derart stark beeinflusst werde durch Algorithmen, die fernab jeder demokratischen Kontrolle vom Kapitalinteresse großer Konzerne gesteuert werden. Obwohl ich doch das tue, was uns nach wie vor so wichtig ist: Ich gehe einer Arbeit nach, um mich damit selbst zu ermächtigen und meine Freiheit in einer solidarischen Gesellschaft zu leben.
Oft schon konnte die SPD ihre Programmpunkte zu ökonomischen Machtfragen nicht durchsetzen. Ist ein Eingreifen gegen die großen Tech-Konzerne nicht besonders unrealistisch?
Die Größe der Herausforderung darf uns doch nicht zum Aufgeben führen – sondern muss uns antreiben, mit anderen zusammen etwas zu bewegen, zumal im gemeinsamen Europa und über dessen Ordnungspolitik. Begrenzung wirtschaftlicher Machtkonzentration ist ein Gedanke, den die sozialdemokratische Bewegung seit jeher hat.
Tut die deutsche Regierung genug, um auf europäischer Ebene da konsequent vorzugehen?
Aktuell noch nicht. Es ist auch an uns, das zu verändern.
Was werden über Arbeit hinaus die großen Themen der neuen Programmdiskussion sein?
Ganz zentral: die Sehnsucht der Menschen nach Orientierung und Zuversicht. Diese Suche nach Sicherheit und einer besseren Zukunft muss zur Weiterentwicklung unserer Demokratie führen und darf niemals in Autokratie und im schlimmsten Fall in Faschismus münden. Wir sehen weltweit die große Gefahr, wenn Menschen sich aus einer großen Orientierungslosigkeit heraus angesprochen fühlen von autoritären Denkschulen.
Was ist dazu der typisch sozialdemokratische Ansatzpunkt?
Dass man sich seiner eigenen Macht bewusst wird. Die leben wir im Moment nicht aus. Alle fühlen sich als einzelne Individuen einer auseinanderreißenden Gesellschaft machtlos, obwohl wir zusammen in unserer Demokratie den Souverän darstellen und Gestaltungsmacht haben…
…aber gegenüber der AfD eher einen Ohnmachtsdiskurs führen?
…unter anderem weil die verbindenden Elemente in der Gesellschaft nicht mehr so stark sind wie früher. Klare Milieus, in denen man Gemeinsamkeit fühlt, auf der Arbeit wie im privaten Umfeld. Da hat sich manches über die Jahre aufgelöst.
Ist nicht auch das ein Negativdiskurs?
In meiner Wahrnehmung ist es die Beschreibung der Wirklichkeit. Ich bin 34 Jahre alt und seit 18 Jahren in der SPD. Schon in dieser vermeintlich kurzen Zeitspanne habe ich erhebliche Veränderungen gespürt, starke Individualisierung zum Beispiel. Viele denken immer mehr für sich, projizieren Erfahrungen und Erwartungen stark auf sich selbst, weniger auf die Gemeinschaft. Das Kollektive ist geschwächt.
Die Sozialforschung sagt, Eingebundensein im Betrieb oder in Vereine verstärkt die Identifikation mit dem Ganzen. Wo ist da der Ansatzpunkt für Parteien, die ja selbst kleiner geworden sind?
»Der Staat kann in seinem Regelwerk viel beschließen – aber das hat keine Wirkung, wenn die Menschen es nicht leben.«
Ich habe im Sommer eine Tour durch Sportvereine gemacht, genau wegen dieser Erkenntnis. Gemeinsame Treffpunkte sind elementar. In welcher Organisation diese sind, ist erst einmal nachrangig. Gemeinsame Erlebnisse führen zusammen. Ganz sicher ist diese gesellschaftliche Dimension politisch vernachlässigt worden. Der Staat hat sich aus einem Missverständnis der gesellschaftlichen Entbehrlichkeit heraus zu stark aus der Unterstützung solcher Strukturen zurückgezogen und sich damit selbst geschwächt. Für mich ist gleichzeitig der Gedanke zentral: Der Staat kann in seinem Regelwerk viel beschließen – aber das hat keine Wirkung, wenn die Menschen es nicht leben. Dazu sind wir darauf angewiesen, dass wir zunächst einmal ein gemeinsames Verständnis davon haben, was der Staat ist: die demokratische Selbstorganisation unserer Gesellschaft. Und dass wir selbst ein Teil davon sind, ein hoffentlich aktiver Teil. Treffpunkte, gemeinsame Erlebnisse, Vereinsstrukturen stärken das Gefühl, ein gestaltender Teil dieser Gemeinschaft zu sein und nicht nur Empfänger von Dienstleistungen, die uns andere anbieten.
Das ist eine Sicht, die zwischendrin für ein paar Jahrzehnte als ziemlich altmodisch und altbacken galt…
…die aber absolut Zukunft hat, wenn wir in einer solidarischen Gemeinschaft leben wollen. Ich sehe die Sehnsucht vieler danach, irgendwo zugehörig zu sein. Das ist ja auch etwas, das die Neue Rechte sehr intensiv aufgreift - und wir ehrlich gesagt viel zu wenig.
Nun verkündet die Bundesregierung aber das Ziel eines Staatsrückbaus. Auf Gesetze verzichten, auf Verwaltungsstrukturen, auf Berichtspflichten sowieso: Ist da ein Staatsabbau in Planung, den eine Sozialdemokratie so nicht wollen kann?
Der Abbau von Bürokratie ist nicht das Gleiche wie der Abbau von Staat. Die staatliche Struktur definiert sich nicht über die Bürokratie, sondern über Sicherungssysteme und gemeinsame Fürsorgepflicht. Was wir in der Verwaltung an vielen Stellen erleben, geht inzwischen weit über das hinaus, was ein Staat tun muss.
Irritiert es Sie nicht, wenn da gefordert wird, dass Einzelfallgerechtigkeit in den Hintergrund treten sollte?
Da geht es immer um einen Abwägungsprozess. Ich sehe, dass wir vielleicht zu häufig die Gegeninteressen Einzelner höher bewerten als die Kollektivinteressen – wenn die Gemeinschaft ein Projekt verfolgt. Das Recht Einzelner hat gegenüber dem Recht der Gemeinschaft Grenzen – genauso wie andersherum. Für mich ist der Kern, dass in unserer Gesellschaft alle Mitglieder bewusst ein Teil des Gesamten und füreinander da sind. Davon sind wir zu weit abgekommen, in dem Irrglauben, dass die Gesellschaft auch dann funktionsfähig wäre, wenn zunächst jeder an sich und seine persönlichen Ziele denkt.
Das Gemeinsame wird abgesichert durch die Sozialsysteme. Sind die wie bisher nicht mehr finanzierbar, wie jetzt viele behaupten?
Sie sind deshalb leicht anzugreifen, weil eine Mehrheit, die all das möglicherweise für selbstverständlich hält, eine Art altruistischen Akt für andere darin sieht. Das ist der Grundfehler, den manche allerdings erst dann einsehen werden, wenn sie selbst mal auf die Sozialsysteme angewiesen sind. Unser ganzes Leben ist aber darauf aufgebaut, dass es diese Systeme gibt, sie sind die Grundlage für die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Ohne unsere Sicherungssysteme würden die Menschen andere, viel weniger freie Lebensentscheidungen treffen. Ohne unsere soziale Sicherung wäre die soziale Marktwirtschaft nicht denkbar, sie ist der Grundlage unseres Zusammenlebens. Und ich sage: In unserer Gesellschaft wird genug Wohlstand erarbeitet, um soziale Sicherung und gegenseitige Fürsorge zu garantieren.
Wo bleibt dann der abgerundete eigene Lösungsvorschlag der SPD?
Es gibt dazu bestehende Parteiprogrammatik, auf die wir zurückgreifen können, wenn ich zum Beispiel an das Konzept der Bürgerversicherung denke. Wir sind jetzt in einem ganz entscheidenden Zeitfenster, in dem diese Programmatik neu in konkrete Politik übersetzt werden muss, damit der Sozialstaat für die nächsten zwanzig Jahre hält. Eine solche Debatte haben wir vielleicht zuletzt vor 25 Jahren geführt. Da ist es der richtige Weg, dass die SPD jetzt aus ihrer Programmatik heraus konkrete Vorschläge in die Bundesregierung einbringt. Wir wollen echte Reformen aktiv vorantreiben und unser System besser machen. Und deshalb wehren wir uns auch gegen pauschale Leistungskürzungen, welche die Debatte verengen und die Menschen, die auf unseren Sozialstaat bauen und ihm vertrauen, stark verunsichern.
All das sind innenpolitische Fragen, keine ganz neuen meistens. Wie wirken sich die außenpolitischen Entwicklungen auf die SPD-Grundsätze aus?
Viele dachten, dass die Geschichte der außenpolitischen Konfrontation zu Ende erzählt ist und wir eine Zeit erleben, in der Marktwirtschaft und Demokratie sich dauerhaft durchgesetzt haben und in alle Ewigkeit Frieden ist. Vor diesem Hintergrund ist auch die Sozialdemokratie einen Weg mitgegangen, der von dem Glauben ausging, dass die allermeisten Menschen nun ihr eigenes Glück finden werden können – ohne einen starken Staat zu brauchen. Inzwischen erleben wir, dass unser Gesellschaftsmodell in Frage gestellt wird, dass Zusammenhalt und füreinander da sein nicht mehr selbstverständlich sind und dass Kräfte von außen unsere Demokratie immer stärker angreifen. Für mich ist das eine Kernerkenntnis, die erfordert, das Kollektive im Inneren wieder stark zu machen und Verteidigungsfähigkeit nach außen aufzubauen. Wenn wir das durchsetzen wollen, müssen wir darauf hinarbeiten, dass die Mehrheit der Menschen auf diesem Weg an unserer Seite ist.
Apropos kollektiv: Auch die Wehrpflichtdebatte ist wieder da. Gehen Sie mit, die Wehrpflicht wieder zu aktivieren, wenn der Appell an die Freiwilligkeit nicht ausreicht?
Mir greift die Debatte zu kurz. Die Relevanz einer schieren Masse kämpfender Soldatinnen und Soldaten hat abgenommen. Es braucht jetzt vor allem hochqualifizierte Leute, die wissen, wie beispielsweise elektronische Verteidigungssysteme zu steuern sind. Wir sind uns sicher, dass wir genug Menschen auf freiwilligem Wege überzeugen können, in der Bundeswehr zu dienen und unsere Verteidigungsfähigkeit so aufzubauen und sicherzustellen.
Wird es in dieser Legislaturperiode noch eine generelle Wehrpflicht geben?
Nein, wir gehen den eingeschlagenen Weg der Freiwilligkeit.
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