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Hertha Gordon-Walcher und die Tradition des »Linkssozialismus« Der Traum von der Revolution

Dies war gewiss eine faustdicke Überraschung: Auf der Leipziger Buchmesse 2023 wurde eine politische Biografie über eine weitgehend unbekannte Person, die ihr Leben ganz dem Wirken in der sozialistischen Arbeiterbewegung gewidmet hatte, mit dem diesjährigen Sachbuchpreis ausgezeichnet. Sicherlich ist dies vor allem der Tatsache geschuldet, dass es der Autorin gelungen war, das Leben ihrer Protagonistin, mit der sie bekannt und befreundet war und deren Lebensschilderungen sie aufgrund zahlloser Gespräche akribisch aufgezeichnet hatte, auf lebendige und spannend geschriebene Weise zu präsentieren. Man könnte auch von einer gelungenen Symbiose von solider wissenschaftlicher Recherche und einer an die Romanform angelehnten Darstellungsweise sprechen.

Für den politisch interessierten Betrachter liefert diese Arbeit gleich mehrere interessante Perspektiven der Beobachtung. Wir können miterleben, wie das Leben und Wirken einer hochpolitischen Frau aus dem Schatten ihres bekannteren Lebensgefährten und späteren Ehemannes treten. Und wir können anhand dieses an Wendungen und Brüchen reichen Lebensweges die Herausforderungen studieren, denen sich diejenigen im 20. Jahrhundert gegenübersahen, die sich – geprägt vor allem durch das Wirken ihrer wichtigsten Vordenkerin Rosa Luxemburg – als dezidiert linkssozialistische Akteurinnen und Akteure in der organisierten Arbeiterbewegung verstanden.

Der Lebensweg, um den es hier geht, ist der der Hertha Gordon-Walcher, die ihren langjährigen Partner und politischen Weggefährten Jacob Walcher erst Anfang der vierziger Jahre im New Yorker Exil heiratete. Wie für Paare dieser Generation typisch war er derjenige, der im Vordergrund stand, der in wichtige politische Ämter gewählt wurde, dessen Lebensweg längst mit einer Biographie seine Würdigung erfahren hatte. In der DDR war er lange eine Unperson (ich komme darauf zurück), in der Bundesrepublik ist er Experten vor allem als langjähriger Mentor des jugendlichen und heranwachsenden Willy Brandt in den Jahren des Exils bekannt.

Hertha Gordon wurde 1894 in Königsberg in einem jüdischen Elternhaus geboren. Schon mit 18 Jahren – für eine junge Frau in den damaligen Verhältnissen ausgesprochen früh – zog sie nach London, lebte dort in einer Wohngemeinschaft und machte erste Begegnungen mit Sozialistinnen wie Bertha Braunthal und entdeckte dabei für sich die von Clara Zetkin herausgegebene proletarische Frauenzeitschrift Gleichheit. Anfang 1915 siedelte sie nach Stuttgart über, arbeitete in einer Gurt- und Bandweberei und nebenbei für die sich um Zetkin bildende Spartakusgruppe. Aus der Begegnung mit Clara Zetkin erwuchs eine bis 1925 andauernde enge Zusammenarbeit. Sie erledigte nahezu alles für die bekannte ältere Genossin.

Mit einem Brief Zetkins im Gepäck reiste sie 1918 nach Moskau, wird dort u. a. von Lenin empfangen, der schließlich dafür sorgt, dass sie bei dem KP-Funktionär Karl Radek und später dem Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale, Grigorij Sinowjew, zur unterstützenden Arbeit angestellt wird. 1919 kehrte sie nach Stuttgart zurück, wo sie ihre »Lebensliebe« Jacob Walcher kennenlernt, der in wichtige Positionen der gerade gegründeten KPD aufgerückt war. Die für beide zur Normalität gehörende halbillegale Arbeit für ihre und in ihrer Partei sollte aber bereits 1925 einen ersten heftigen Bruch erfahren.

Sie stellte sich in die Tradition von Rosa Luxemburg.

Aufgrund von Denunziationen und Beschuldigungen im Gefolge des Öffnens und Unterschlagens von Briefen erlebten die beiden ihr erstes Parteiverfahren. Die »Bolschewisierung« der KPD nahm Fahrt auf. Der Vorwurf lautete: trotzkistische Fraktionstätigkeit, was Hertha Gordon auch im Rückblick scharf von sich wies: »Jacob war nie Trotzkist. Ich auch nicht, obwohl sie es mir unterstellt haben. Aber wir waren auch keine Stalinisten und keine Thälmann-Anhänger, wir waren Internationalisten.« Dies ging für sie einher mit einem Bekenntnis zur Tradition Rosa Luxemburgs.

Mit der Phase ab Ende der zwanziger Jahre endete die Wirkungsmöglichkeit von Gordon und Walcher im Rahmen der KPD. Sie werden nun als »Rechte« ausgeschlossen, weil sie sich der verhängnisvollen Politik, die die Sozialdemokraten als »Sozialfaschisten« schmähte und die Gewerkschaften mit der RGO spaltete, widersetzten. Notgedrungen gründeten sie mit anderen wie Heinrich Brandler, August Thalheimer und Paul Frölich die »rechtskommunistische« KPDO. Doch auch diese Gruppe sollte nur für wenige Jahre ihre politische Heimat bleiben. Differenzen über das Verhältnis zur Sowjetunion und Fragen der innerparteilichen Demokratie mündeten für die beiden – zusammen mit einer größeren Gruppe aus der Führung der KPDO – in einem erneuten Parteiausschluss und zum Übertritt zu der inzwischen gegründeten linkssozialistischen SAPD, einer SPD-Abspaltung, der auch der junge Willy Brandt angehörte. Es sind diese jungen linkssozialistischen Kräfte wie Brandt, Fritz Lamm oder Walter Fabian, auf die Gordon und Walcher nun ihre Hoffnungen setzten. Das Verhältnis von Walcher und Brandt wird als zeitweise wie eines zwischen Vater und Sohn beschrieben.

Vom Exil in den USA nach Ostberlin

Während der verschiedenen Stationen ihres jeweiligen Exils (das Brandts in Skandinavien, das der Walchers in Paris und später New York) hält die Verbundenheit und Freundschaft zwischen ihnen. Während für Brandt aufgrund des neostalinistischen Neubeginns in der SBZ/DDR (wie gleich ihm wohl für die Mehrheit der vormaligen SAPD-Führungspersönlichkeiten) nach 1945 die Fortsetzung der politischen Arbeit nur in den Westzonen und dann der Bundesrepublik in Frage kam, verließen die Walchers 1947 ihr USA-Exil in Richtung Ostberlin.

Bereits Ende 1950 begann das SED-Parteiverfahren gegen Jacob Walcher mit dem Parteiausschluss als zynischem »Geburtstagsgeschenk« zu seinem 65. Geburtstag. Die Begründung: »Die Überprüfung hat ergeben, daß W. seit Jahrzehnten zu den ärgsten Feinden der revolutionären Arbeiterklasse und ihrer Partei gehörte.« Zumindest Haft oder sibirische Verbannung – die Strafen bei anderen früheren Weggefährten – blieben den beiden aber erspart. Hertha und Jacob Walcher wurden erst 1962 im Rahmen der langsamen Entstalinisierung – stillschweigend – rehabilitiert. In politisch bedeutende Funktionen gelangten beide nicht mehr. Er verstarb schließlich bereits 1970, sie 1990.

Wäre es ihnen in der Bundesrepublik besser ergangen als in der DDR? Die Antwort fällt nicht leicht. Einerseits lässt sich feststellen, dass es ehemaligen Linkssozialisten der 20er und 30er Jahre in der Bundesrepublik gelang, bis in hohe politische und gewerkschaftliche Ämter aufzusteigen. Bei manchem ging dies allerdings auch mit einer schrittweisen »Entradikalisierung« einher. Zu diesem Befund gehört es umgekehrt aber auch, dass sich die Führung der SPD, in der die meisten von ihnen ihre politische Heimat fanden, schon bald ausgesprochen schwer mit den zunehmenden linkssozialistischen (bzw. als linksradikal empfundenen) Neigungen vor allem in der jungen Generation abzufinden bereit war.

Scharfe Abgrenzung nach links

Eine erste Zäsur markierte hier der Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem Studentenverband SDS und seinem Fördererkreis 1961, dem auch prominente ältere Linkssozialisten wie Wolfgang Abendroth, Ossip K. Flechtheim oder Fritz Lamm ausgesetzt waren. Es folgten periodisch immer wieder administrative Maßregelungen gegenüber Teilen der Falken, der Jungsozialisten oder dem auf den SDS folgenden Studentenverband SHB.

»Die ›alte Linke‹ hat in vielem, wenn auch nicht in allem, Recht gehabt.« (Willy Brandt)

Dieses widersprüchliche Bild wird dadurch komplettiert, dass sich gleichwohl spätestens seit den 80er Jahren dezidiert linkssozialistisch argumentierende Persönlichkeiten – beispielhaft sei nur Peter von Oertzen genannt – in den Parteivorstand und bis ins Präsidium aufstiegen. Zu dieser neuen Offenheit hatte sicher vor allem auch ein Umdenken des »späten« Willy Brandt in seiner Rolle als Parteivorsitzender geführt. Die sich u. a. auch in den »Berufsverboten« der 70er Jahre ausdrückende scharfe Abgrenzung nach links räumte er nun als gravierenden Fehler ein. Mehr noch: In der 1988 gehaltenen Trauerrede für die verstorbene Weggefährtin Hertha Gordon Walchers, Rosi Wolfstein-Frölich, bekräftigte er einen Blick auf die historischen Traditionslinien der SPD, der schon sein jugendpolitisches Engagement geprägt hatte: Die »alte Linke« vor und nach 1914 – so hielt er fest – habe in vielem, wenn auch nicht in allem, Recht gehabt. Die SPD würde sich deshalb ärmer machen, wenn sie ihre historischen Bezüge ohne Not einengen oder verkürzen würde.

Wie intensiv und ernsthaft sich Willy Brandt auch im Rückblick der späten Jahre mit seinen jugendpolitisch-linkssozialistischen Wurzeln (und damit auch dem Werdegang seiner Gefährten Hertha und Jacob Walcher) auseinandersetzte, davon kann man sich in seinen erst kürzlich wieder aufgelegten Erinnerungen (mit dem Titel Links und frei) ein Bild machen.

Nun mag man sich fragen, ob dies nicht im Jahr 2023 der sprichwörtliche »Schnee von gestern« ist, ob die Sozialdemokratie nicht andere und dringlichere Sorgen hat, als sich mit der Frage zu beschäftigen, ob durch das Denken Rosa Luxemburgs geprägte Linkssozialisten in ihren Reihen noch eine politische Heimstatt haben sollten oder könnten. Der Aspekt der dringlicheren Sorgen mag wohl zutreffen. Dennoch sei daran erinnert, dass sich nun schon seit vielen Jahren eine Partei links von der Sozialdemokratie etabliert hat, die den Namen »Die Linke« trägt, die ihr nahestehende Stiftung nach Rosa Luxemburg benannt hat und sich gleichermaßen u. a. auf jene Tradition des Linkssozialismus beruft.

Verschiebungen in der Parteienlandschaft

Die Linke wird nun gerade in diesen Monaten durch ein angekündigtes neues Parteiprojekt herausgefordert, das – wenn es tatsächlich realisiert werden sollte – die Tektonik des deutschen Parteiensystems nicht unwesentlich erschüttern und die Existenz der Partei Die Linke (zumindest ihre parlamentarische) in Frage stellen dürfte.

Die SPD wird dann vor der Frage stehen, ob sie mit Blick auf die dadurch unzweifelhaft entstehenden Verwerfungen mehr als Häme zu bieten hat, ob sie stattdessen in der Lage ist, möglicherweise heimatlos werdenden Linkssozialistinnen und Linkssozialisten eine attraktive politische Alternative und Handlungsmöglichkeiten anzubieten.

Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution, Penguin-Verlag, München 2023, 698 S., 30 €.

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