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Der tschechoslowakische Reformsozialismus und sein Ende

Vor 100 Jahren, am 27. November 1921, wurde Alexander Dubček, Leitfigur des Prager Frühlings von 1968 geboren. Dem von ihm propagierten »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« war allerdings nur eine kurze Lebensdauer vergönnt: Nachdem er auf dem Januartreffen des Zentralkomitees der KPČ 1968 Antonin Novotný als Ersten Sekretär der Partei abgelöst hatte (übrigens mit Billigung Moskaus), wurden in der Folgezeit in den unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen zahlreiche Reformen durchgeführt, in der Wirtschaftspolitik inspiriert durch Ota Šik, der das Modell einer »humanen Wirtschaftsdemokratie« entworfen hatte. Die sowjetische Führung wertete diese Hinwendung zu einem System, das in mancher Hinsicht dem jugoslawischen ähnelte, an manchen Stellen sogar dezidierter partizipatorisch angelegt war, schon bald als eine Art schleichende Konterrevolution. Ein gutes halbes Jahr nach Beginn war das Ende des Vorstoßes auch schon wieder besiegelt. Eine Rekonstruktion der letzten Phase.

In der Nacht zum 21. August 1968 begann die militärische Intervention der Sowjetarmee und der verbündeten Truppen Polens, Ungarns und Bulgariens in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR). Die grundsätzliche Entscheidung für den Einmarsch war dabei bereits am 17. Juli gefallen. Der Parteichef der KPdSU, Leonid Breschnew, hatte – im Unterschied zu den Hardlinern im Politbüro – jedoch lange gezögert, der Invasion zuzustimmen; er erwartete von der einheimischen KP-Führung vergebens die Wiederherstellung des Status quo ante.

Dass sich der Warschauer Pakt ungeachtet des vorhersehbaren Ansehensverlusts überhaupt veranlasst sah, seine Truppen einzusetzen, hatte mit einer behaupteten Verschwörung tschechoslowakischer »konterrevolutionärer Kräfte« mit »dem Sozialismus feindlichen äußeren Kräften« (so die sowjetische Nachrichtenagentur TASS am 21. August 1968) in Wahrheit nichts zu tun. Dennoch spielten Befürchtungen der Armeeführung der UdSSR und des sowjetischen Gemeindienstes KGB bezüglich einer sicherheitspolitischen Aufweichung der Westflanke sowie der KP-Führung der an die ČSSR grenzenden Sowjetrepublik Ukraine wegen möglicher Ansteckungsgefahr eine Rolle. Entscheidend waren vielmehr die Sorge, der Emanzipationsprozess in der ČSSR könnte völlig außer Kontrolle geraten, und die reale Gefahr seiner ausstrahlenden Wirkung auf die Nachbarländer.

Im Laufe der Monate seit Januar 1968 hatten mehrere Treffen zwischen den politischen Spitzen der KPdSU und der KPČ, in Dresden im März unter Einschluss der späteren Invasionspartner der UdSSR, stattgefunden, auf denen die tschechoslowakischen Vertreter ihre Bündnistreue bekräftigt hatten und bemüht gewesen waren, die Furcht der sowjetischen Seite vor der »Konterrevolution« (die in deren Verständnis die Demokratisierung als solche betraf) zu zerstreuen. In einem Brief an das Präsidium der KPČ vom 4. Juli fasste die sowjetische Parteiführung ihre Vorwürfe zusammen: Die Führungsrolle der KPČ sei gefährdet durch das Anwachsen »rechter Kräfte«; die Prager Politik begünstige den »westdeutschen Revanchismus und Militarismus« und verrate damit den opferreich errungenen Sieg der UdSSR im Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler-Deutschland. Sogar das Gespenst einer Verschwörung früherer tschechischer und slowakischer NS-Kollaborateure mit einheimischen rechten Sozialdemokraten wurde an die Wand gemalt.

Generalabrechnung mit der Parteidiktatur

Als »Plattform aller antisozialistischen Kräfte« kam schließlich das »Manifest der 2.000 Worte«, breit veröffentlicht Ende Juni 1968, in einem aufgebrachten Brief aus Moskau zur Sprache. Dieses, von einem Kreis von Naturwissenschaftlern ausgegangene, von dem Schriftsteller Ludvik Vaculík formulierte und von 67 namhaften Intellektuellen unterzeichnete Manifest stellte zwar nicht die Eigentumsordnung und andere Grundelemente der Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung infrage, wohl aber den Vorrang der Kommunistischen Partei, auch wenn deren Bedeutung für den Reformprozess durchaus eingeräumt wurde. Es war eine Generalabrechnung mit zwei Jahrzehnten Parteidiktatur.

Das Bekanntwerden des Manifests musste die Führung der KPČ, gerade die entschiedensten Reformer in ihr, beunruhigen, hauptsächlich wegen der Außenwirkung. Als sich die Partei- und Staatsführungen der ČSSR und der UdSSR letztmalig vor der Invasion Ende Juli 1968 im ostslowakischen Grenzort Čierná nad Tisou trafen, hatten sich die beteiligten Tschechoslowaken im Vorfeld darauf festgelegt, dem sowjetischen Druck nicht nachzugeben und die monatelang verfolgte Linie nicht aufzugeben. Eine Million Menschen unterzeichneten die von Pavel Kohout verfasste Petition an das ZK der KPČ mit den Schlagworten »Sozialismus! Bündnis! Souveränität! Freiheit!« und dem unmissverständlichen Appell »Wir denken an Euch! Denkt Ihr an uns!« Obwohl es nach außen zunächst so schien, konnte diese Festigkeit den Unmut der östlichen Vormacht und der Warschauer-Pakt-Staaten ebenso wenig besänftigen wie das verbale Entgegenkommen der tschechoslowakischen Seite bei früheren Gesprächen. Lediglich zweitrangige Zugeständnisse, vor allem in Personalfragen, vermochten die Sowjets aus Čierná mitzunehmen.

Traditionskommunistische, dem Politikstil und der Repression der 50er Jahre verhaftete Parteifunktionäre der KPČ bemühten sich unterdessen bereits ab Anfang des Jahres 1968 zunehmend um die Mobilisierung der Arbeiter gegen die Reformer – vergeblich, aber letztere fanden dennoch erst nach und nach eine sichere Unterstützung an der proletarischen Basis außerhalb wie innerhalb der Partei. Seit dem Frühjahr entstanden in wichtigen Betrieben Arbeiterkomitees zur Verteidigung und gesetzlichen Sicherung der Pressefreiheit. Im Verlauf der Reformphase erlangte die Selbstorganisation der Arbeiter eine größere Bedeutung, indem eine neue Gewerkschaftsführung eine eigenständige Rolle der Verbände als unabhängige Interessenvertretungen in Anspruch nahm. Noch einschneidender war die eingeleitete Veränderung der innerbetrieblichen Strukturen: Die Regierungspartei unter der Führung Dubčeks schuf neue Werktätigenräte, die nicht nur auf soziale, sondern auch auf personelle und wirtschaftliche Entscheidungen Einfluss erhielten.

Erneuerung des Sozialismus statt Rückkehr zum Kapitalismus

Die Herrschaft der KP genoss wie das Bündnis mit der Sowjetunion in der Tschechoslowakei ursprünglich ein relativ hohes Maß an Unterstützung, die 1968 von den Reformern noch erneuert wurde: Die KPČ war 1946 in freien Wahlen die mit Abstand stärkste Partei geworden; sie hatte fast zwei Fünftel der Stimmen errungen. Der Übergang zur Alleinherrschaft im Februar/März 1948 war zwar staatsstreichartig vonstattengegangen, aber nicht ohne die Unterstützung erheblicher Teile der Bevölkerung.

Dieser Ausgangspunkt hilft zu erklären, warum die Kommunistische Partei in der ČSR bzw. ČSSR – über die Zeit des stalinistischen Terrors um und nach 1950 hinaus – Trägerin sozialer Hoffnungen blieb und 1968 unangefochten als Führerin des Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesses agieren konnte. Im April 1968 waren laut einer der nun vielfach erhobenen demoskopischen Umfragen bereits 67 % der Tschechen und Slowaken der Meinung, der eingeleitete Wandel werde dauerhaft sein. Im Juli sprachen sich 86 % der Befragten für die demokratische Erneuerung des Sozialismus anstelle der Rückkehr zum Kapitalismus aus, den ganze 5 % befürworteten, und ein noch größerer Prozentsatz erklärte sich mit der derzeit betriebenen Politik einverstanden.

Fraglos wäre die Entwicklung in der Tschechoslowakei ohne die Invasion nicht einfach harmonisch verlaufen. Teile der (reformbereiten) Kommunisten versuchten immer wieder, die Dynamik der Bewegung zu bremsen. Unabhängige politische Vereinigungen, so die der nichtkommunistischen früheren Justizopfer, entstanden, und eine Wiedergründung der 1948 zwangsvereinigten Sozialdemokratischen Partei wurde diskutiert und vorbereitet. Bemerkenswert ist jedoch das Bemühen dieser Gruppierungen, den Reformprozess nicht durch lautstarkes oder überzogenes Agieren zu erschweren. Auch die Amtsträger der Kirche, die einen Aufschwung erlebte, boten Dialog und Kooperation an.

Es artikulierten sich unter den Bedingungen weitgehender Freiheit unterschiedliche Strömungen; Konflikte waren vorprogrammiert. Indessen war kaum jemals die Führung einer kommunistischen Partei so populär wie in der ČSSR seit der Ablösung Antonín Novotnýs durch Alexander Dubček auf dem Posten des Ersten Sekretärs des KPČ. Dubček hatte schon seit 1963 an der Spitze der slowakischen KP gestanden, wo er ein recht liberales Regiment führte, und das Bestreben der Slowaken nach größerer Eigenständigkeit bildete eine der Quellen des späteren Reformprozesses im Gesamtstaat.

Dass mit der Wahl Dubčeks eine neue Ära angebrochen war, wurde für die breiten Volksschichten letztendlich erst Anfang März erkennbar, als die Zensur aufgehoben wurde. Was allerdings sofort stattfand, war der Übergang zu einem freundlichen, den Menschen zugewandten, moderierenden Leitungsstil und einem dialogischen Umgang mit den anderen gesellschaftlichen Faktoren und mit den einzelnen Individuen des tschechoslowakischen Gemeinwesens. Die Reisemöglichkeiten wurden in beide Richtungen erweitert. Die freie Informationsvermittlung und freie Diskussion explodierten geradezu. Das neue Aktionsprogramm der KPČ vom 5. April 1968 skizzierte für die verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche die Pluralisierung des kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Lebens im Rahmen eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« und stellte unmissverständlich fest: »Sozialismus ohne Demokratie und ihre Entwicklung ist kein Sozialismus.« Eine Regierungserklärung bekräftigte und konkretisierte die neuen Leitlinien am 24. April.

Es fehlte die Zeit

Der Zeitraum der ungehinderten Entfaltung des Reformprozesses war rückblickend jedoch zu kurz, um zweifelsfrei überzeugende Resultate, etwa im ökonomischen Bereich, zu erzielen. Von einem Scheitern des »Prager Frühlings« kann aber keinesfalls die Rede sein; er wurde von außen gestoppt, bevor er seine volle Wirkmacht entfalten konnte. Von oben eingeleitet, fand der Prozess eine breite Resonanz in der Gesellschaft, zuerst in der Jugend und der Intelligenzija, dann auch in der Arbeiterschaft in den Betrieben, wo sich – verstärkt in Reaktion auf den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen – für einige Zeit Räte-Organe behaupteten.

Die Weltöffentlichkeit verurteilte ganz überwiegend den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei. Das galt neben den konservativen und liberalen Segmenten aus einer teilweise anderen Grundhaltung heraus auch für Sozialdemokraten und moskaukritische Linkssozialisten. Neu war – und das machte den Unterschied zum Ungarnaufstand zwölf Jahre zuvor aus – die kritische Reaktion etlicher kommunistischer Parteien, in erster Linie der italienischen und der französischen KP, Mehrheitsparteien der Arbeiterbewegung in ihren Ländern. Andere, meist kleinere Parteien, wie die sich neu gründende Deutsche Kommunistische Partei (DKP) in der Bundesrepublik, unterstützten die Moskauer Version von der Rettung vor der drohenden Konterrevolution. Von den regierenden kommunistischen Parteien hielten die jugoslawische und – trotz Zugehörigkeit zum Ostblock – die rumänische an ihrer ablehnenden Haltung fest. Der rumänische Partei- und Staatschef Ceaușescu verurteilte die ČSSR-Invasion sogar am 21. August in einer öffentlichen Massenversammlung. Das mit China liierte Albanien trat am 5. September 1968 aus dem Warschauer Pakt aus, dem es bis dahin pro forma noch angehört hatte.

China seinerseits verschärfte seine Polemik gegen die Sowjetunion, wo man inzwischen die Herrschaft einer »neuen Bourgeoisie«, imperialistische und sogar »faschistische« Methoden der Außenpolitik identifizierte. Der Grund dafür, dass die Sowjetunion nun erkennbar zum Hauptfeind avancierte, lag vor allem in der Furcht der Chinesen vor weiteren Militäraktionen Moskaus. Im Frühjahr und Sommer 1969 kam es sogar zu blutigen sowjetisch-chinesischen Grenzscharmützeln am Ussuri-Fluss. Eine gegenteilige Konsequenz zog allerdings die mit Willy Brandt unter sozialdemokratischer Leitung stehende westdeutsche Außenpolitik, indem sie darauf abhob, gerade angesichts der tschechoslowakischen Ereignisse den nach der Kuba-Krise vom Oktober 1962 langsam eingeleiteten Entspannungsprozess zwischen West und Ost zu intensivieren, ganz im Sinne einer schrittweisen Emanzipation Europas von den Führungsmächten.

Alexander Dubček wurde erst im Zuge des Reformprozesses 1989, also zwei Jahrzehnte nach seiner Absetzung, rehabilitiert und im Dezember desselben Jahres zum Präsidenten des tschechoslowakischen Parlaments gewählt. Späte Genugtuung für einen lange Geächteten.

Nachwirkungen

Der demokratisch-sozialistische Aufbruch der Tschechoslowakei vor über 50 Jahren gehört einer früheren Epoche an und leitet zugleich über in den Niedergang des Ostblock-Systems insgesamt: Wie die Aufstände in der DDR 1953, in Ungarn 1956 sowie die Massenstreiks in Polen 1956 und später war der Prager (und Bratislavaer) Frühling 1968 noch stark von den Triebkräften und den Traditionen der klassischen Arbeiterbewegung, auch der kommunistischen, geprägt. Dieser Strang brach nie ab – er spielte in den 80er Jahren in der polnischen Gewerkschaft Solidarność eine viel größere Rolle als deren spätere innenpolitische Rolle erkennen lässt –, aber mit der Schlussakte der Konferenz von Helsinki – Zwischenergebnis der Entspannungspolitik – trat seit Mitte der 70er Jahre die Berufung der »Dissidenten« auf – pro forma – europaweit akzeptierte elementare Bürgerrechte in den Vordergrund.

Neben dem 1976 gegründeten Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) in Polen trat besonders die Charta 77 hervor, in der etliche Protagonisten des tschechoslowakischen Reformprozesses von 1968 versammelt waren, darunter als erste Sprecher der Ex-Außenminister Jiří Hájek, der Philosoph Jan Patočka und der Schriftsteller Václav Havel, letzterer dann später Staatspräsident der Tschechischen Republik fast ununterbrochen von 1989 bis 2003. Diese drei Männer hatten die Charta verfasst, die am 1. Januar 1977 in der internationalen Presse veröffentlicht und in der ČSSR hauptsächlich durch die Gegenkampagne des Regimes bekannt wurde. Indem sich Reformkommunisten des Jahres 1968 mit linksliberalen Oppositionellen, Intellektuelle mit Angehörigen anderer Bevölkerungsschichten im Protest gegen die Verletzung der Menschenrechte zusammenschlossen, bereitete die Charta 77 die Konstellation von 1989/90 vor.

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