Meinem Vater eröffnete ich es als erstes. Am Telefon, vor mehr als sechs Jahren. Da sagte ich ihm, dass ich mich ostdeutsch fühle und gern mit ihm darüber reden würde, woher das kommt. Irgendwie hatte ich erwartet, dass ihn das freuen wird – die fortgegangene Tochter entdeckt ihre Heimat wieder. Doch mein Vater fragte nur: Was hast du denn mit dem Osten zu tun?
»Viele von uns entdecken seit einigen Jahren ihre ostdeutsche Identität, entwickeln ein Ostbewusstsein.«
Ich bin in Magdeburg aufgewachsen. Geboren bin ich im Herbst 1990 in Gardelegen in Sachsen-Anhalt, wenige Tage vor der Wiedervereinigung. Damit gehöre ich zur Generation der ostdeutschen Nachwendekinder. Wir haben an die DDR keine oder kaum Erinnerungen. Als erste Ost-Kinder haben wir Pampers getragen statt Windeln aus Baumwolle. Nutella stand für uns immer selbstverständlich neben dem Nudossi. Reisebeschränkungen kennen wir nur aus dem Fernsehen. Und trotzdem entdecken viele von uns seit einigen Jahren ihre ostdeutsche Identität, entwickeln ein Ostbewusstsein – so habe ich dieses junge, aufkeimende Gefühl in meinem gleichnamigen Buch genannt. Aber woher kommt das, so lange nach der Wiedervereinigung?
Bei mir entstand es, als ich für einige Zeit in München lebte. Das war im Jahr 2014, als Pegida anfing in Dresden zu marschieren. Ich besuchte in München die Gegendemo, doch etwas unterschied mich von den Leuten um mich herum. Die holten Klischees aus der Schublade, von denen ich nicht dachte, dass es die noch geben würde – das sei auch ein Klischee. Eine bayerische Freundin gestand mir, dass sie wegen Pegida in ganz finstere Gedankenmuster zurückfalle, sodass sie denke: »Scheiß Ossis! Ihr Jammerlappen, dass ihr euch immer noch benachteiligt fühlt!«
Obwohl ich mit Pegida nichts zu tun hatte, fühlte ich mich auf einmal angesprochen. Ich begann zu verstehen, dass im deutsch-deutschen Verhältnis etwas nicht so in Ordnung ist, wie ich dachte. In den nächsten Jahren hat sich daraus eine Art Trotz entwickelt: Ich kaufte nur noch Rotkäppchen-Sekt, Riesaer Nudeln, und begann Kling Klang von Keimzeit auf die Playlists westdeutscher Betriebsfeiern und WG-Partys zu schmuggeln. Sobald jemand über Ostdeutschland sprach, stand ich innerlich bereit etwas richtig stellen zu wollen. Und begann mich immer mehr mit meiner ostdeutschen Herkunft zu identifizieren.
Da bin ich nicht die Einzige. Identität entsteht oft durch das sogenannte Othering: Man wird im Vergleich zu einer vermeintlichen Normalität zu dem Anderen gemacht. So wird auch das ostdeutsche Gefühl oft an uns Nachwendekinder herangetragen – dadurch, dass man immer wieder bemerkt, wie tief manch pauschales, abwertendes Denken noch sitzt. Zuletzt konnte das einem eindrücklich klar werden im vergangenen Jahr, als die privaten SMS von Mathias Döpfner bekannt wurden, dem Axel-Springer-Chef. In denen schrieb er: »Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.«
Aber das Ossi-Gefühl entsteht nicht nur als Reaktion auf Vorurteile. Es rührt auch daher, dass ostdeutsch ein feststehender Begriff in der Gesellschaft ist, westdeutsch hingegen nicht. Helmut Schmidt? Deutsche Geschichte. Egon Krenz? Ostdeutsche.
Bewusste Aneignung
Doch all das sind nur Zuschreibungen. Zuschreibungen, mit denen ältere Ostdeutsche schon lange leben müssen. Ich glaube, das junge Ostgefühl geht aber darüber hinaus. Es ist nicht nur eine Zuschreibung, es ist auch mehr als Trotz, es ist eine bewusste Aneignung. Nachwendekinder reden selbstbewusst und von sich aus über ihre ostdeutsche Herkunft. Weil sie etwas sichtbar machen wollen: eine Geschichte, eine Erfahrung, eine Perspektive.
Warum ist das wichtig? Weil sich diese eben noch immer von der westdeutschen unterscheidet, auch bei Menschen in meinem Alter.
»Auch heute kann man bei fast allen sozioökonomischen Erhebungen die innerdeutsche Grenze nachziehen.«
Wir sind aufgewachsen in anderen Strukturen (mehr Wegzug, höhere Arbeitslosigkeit), mit anderen Selbstverständlichkeiten (arbeitende Mütter, Kita), mit einer anderen Geschichte (unsere Eltern haben in zwei Systemen gelebt, unsere Großeltern in drei). Auch heute kann man bei fast allen sozioökonomischen Erhebungen die innerdeutsche Grenze nachziehen – ob bei Einkommen, Arbeitsstunden, Bevölkerungswachstum. Beispiel Erbe: Das beträgt einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge im Osten durchschnittlich rund 52.000 Euro, im Westen 92.000 Euro. Beinahe das Doppelte also (wobei die Studie zu dem Schluss kommt, dass Erbschaften ohnehin vor allem Vermögende reicher machen).
Das alles wirkt sich natürlich auf die Nachwendekinder aus. Westdeutsche Freunde von mir wohnen in Eigentumswohnungen – in Berlin –, die ihnen ihre Eltern bezahlt haben. Ich saß mit 24 Jahren das erste Mal bei der Bank, um mich nach einer privaten Altersvorsorge zu erkundigen.
Bei der Forderung nach Sichtbarkeit geht es also nicht nur um Gefühle, nicht um Kling Klang und nicht einmal um Rotkäppchen-Sekt. Es geht um Macht. Um die Frage: Wer bekommt wie viel vom Kuchen in diesem Land? Und wie schafft man es, dass dieser gerechter verteilt wird? Im ersten Schritt, glaube ich, geschieht das durch mehr Repräsentanz. Noch immer sind Ostdeutsche in Führungspositionen in allen Bereichen (ob Wirtschaft, Politik, Medien) unterrepräsentiert. Ich frage mich immer, wie die Debatten um die Erbschaftssteuer aussähen, wenn noch mehr Ostdeutsche mitreden würden.
Aber es geht da nicht nur um Gerechtigkeit für die Ostdeutschen. Ostdeutsche Stimmen zu hören, ist auch eine gesellschaftliche Notwendigkeit – um zu verstehen, wie es sein kann, dass eine Partei, die in Teilen rechtsextrem, also verfassungsfeindlich ist, so große Erfolge verbucht.
Die AfD bekommt ihre Stimmen auch von vielen Nachwendekindern. Bei der letzten Bundestagswahl wurde die Partei bei den Menschen, die zwischen 1987 und 1996 geboren sind, stärkste Kraft. Sie erhielt 20,1 Prozent der Zweitstimmen. Die Grünen lagen mit einem Prozentpunkt weniger auf dem zweiten Platz – was auch zeigt, wie die ostdeutsche Nachwendegeneration in sich gespalten ist. Viele wollen, dass sich etwas ändert. Nur in welche Richtung, darüber ist man sich völlig uneins. Zum Vergleich: In Westdeutschland kam die AfD in dieser Altersgruppe auf 8,3 Prozent.
Die AfD war nie ein rein ostdeutsches Phänomen.
Die AfD ist, wie aktuelle Umfragen zeigen, längst kein ostdeutsches Phänomen mehr. War es eigentlich nie, denn vieles, was im Osten zu ihren Erfolgen führt, gibt es auch im Westen: Überalterung, Stadtflucht, Krisenangst, große Umwälzungen, die steigende Bereitschaft eine rassistische Partei zu wählen. Aber im Osten haben all diese Entwicklungen ein bisschen früher begonnen und sie gehen schneller. Deswegen kann man auch, oder muss man, hier die Antworten darauf finden.
Das wird auch schon versucht. In Sachsen zum Beispiel erforscht das Else-Frenkel-Brunswik-Institut demokratiefeindliche Einstellungen und Strukturen, gefördert vom sächsischen Justizministerium. Das Institut kam in einer Studie zu dem Schluss, dass Gemeinden mit einem gut funktionierenden öffentlichen Dienst und mit ausreichend Personal niedrigere AfD-Wahlergebnisse haben. So etwas müssen wir wissen als Gesellschaft, um es dann angehen zu können.
Probleme ja, Problemregion nein
Doch wie in eigentlich den meisten Debatten müssen mehrere Dinge auf einmal passieren. Ja, es gibt diese – sehr drängenden – Probleme. Und trotzdem ist der Osten mehr als das. Gerade für viele Nachwendekinder, die dort aufgewachsen sind. Und auch das muss gesehen werden.
Neulich kam ich in einer kleinen Stadt in Sachsen mit einigen Rückkehrern ins Gespräch. Sie haben in Leipzig studiert, in Westdeutschland, im Ausland. Dann sind sie wieder zurück in ihre Heimat gezogen – und machen da jetzt den Unterschied. Sie organisieren Leseabende, Kinovorführungen, haben eine Demonstration gegen Rechtsextremismus angemeldet. Die Gründe, für ihre Rückkehr: die Familie, die günstigen Wohnpreise, der Gestaltungsspielraum. Einer sagte, er habe schon immer selbst ein Kino betreiben wollen.
»Wo noch nicht alles fertig ist, ist noch vieles denkbar.«
Der Osten ist eine Region, die noch unfertig ist. Meistens wird das als Nachteil ausgelegt. Doch für viele, gerade junge Menschen ist es das nicht, zumindest nicht nur. Damit geht auch viel Freiraum einher, viele Möglichkeiten. Und darin steckt, wenn man so will, ein bisschen utopisches Potenzial. Denn wo noch nicht alles fertig ist, da ist noch vieles denkbar. In diesem Möglichkeitsraum wird jeden Tag um die Zukunft gestritten – auch, weil es nicht anders geht. Wir Nachwendekinder streiten mit. Und die meisten tun das für einen demokratischen, friedlichen Osten.
Ich werde immer mal wieder gefragt, wann es denn mal gut ist, mit diesem Gerede über Ost und West. Ob wir nicht schon mal weiter waren im innerdeutschen Verhältnis. Dabei zeigt sich gerade daran, dass wir mittlerweile so viel darüber reden, dass wir weiter sind. Es gibt die These des sogenannten Integrationsparadoxes vom Soziologen Aladin El-Mafaalani. Demnach bedeuten Konflikte in der Gesellschaft nicht, dass Integration scheitert, sondern im Gegenteil – dass sie gelingt. Denn je gleichberechtigter eine Gruppe ist, desto lauter kritisiert sie das eine Stück, was ihr zur Augenhöhe fehlt. Und desto eher ist sie in der Position, dass diese Kritik auch gehört wird.
Die fehlende Augenhöhe zwischen Ost und West gab es immer. Die politische, wirtschaftliche, die Diskursmacht, die historische Haupterzählung – all das war immer westdeutsch geprägt. Nur bekommen das nun immer mehr Menschen mit, weil es mehr zum Thema gemacht wird, auch von uns Nachwendekindern. Und das tun wir auch in der eigenen Familie. Ich habe irgendwann verstanden, wieso mein Vater damals so abweisend reagierte auf meine neue Ossi-Identität. Bis dahin bedeutete vom Osten zu reden meist über einen Unterschied zum Normalen zu sprechen; einem Unterschied, der verschwinden sollte. Deswegen war das Ostdeutsch-Sein für meinen Vater etwas, das er ablegen wollte. Für mich hingegen war es etwas, das ich mir gerade erst zu erobern begann.
Eine Weile dachte ich, ich will ganz viel über mein Ostdeutschsein reden – damit wir irgendwann nicht mehr darüber reden müssen. Mittlerweile sehe ich das anders. Ich glaube, wir brauchen ein Verständnis dafür, dass Unterschiede nichts Trennendes sein müssen. Dann können wir auch weiter über den Osten sprechen, wir Nachwendekinder haben schließlich gerade erst angefangen. Und ich kann einfach Ossi sein, in einem perfekt wiedervereinigten Land.

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